Nehmet einander an
Über Streiten und Konflikte in der Gemeinde
Predigttext: Römer 15,4-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
4 Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.
5 Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht,
6 damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus.
7 Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre.
8 Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind;
9 die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht (Psalm 18,50): »Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.«
10 Und wiederum heißt es (5.Mose 32,43): »Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!«
11 Und wiederum (Psalm 117,1): »Lobet den Herrn, alle Heiden, und preisen sollen ihn alle Völker!«
12 Und wiederum spricht Jesaja (Jesaja 11,10): »Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen.«
13 Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Miteinander streiten
Es wird wieder gestritten: Die CDU streitet um ihren künftigen politischen Kurs. – Großbritannien und Europa streiten um den Brexit – vielfach wird über den Migrationspakt gestritten – Frankreich streitet über Reformen – die Ukraine und Russland streiten sich über Seewege und mehr … Streiten tut Not: denn die Menschen sind verschieden. Uns ist Unterschiedliches wichtig. Wir haben unterschiedliche Ängste. Es ist besser, diese werden ausgesprochen als unter den Teppich gekehrt. Familien, in denen nicht gestritten wird, brechen auseinander, weil sich Ehepartner still voneinander entfremden. Gesellschaften, die eine Scheinharmonie vorgaukeln, sind auf Dauer nicht attraktiv. Das haben die kommunistisch geprägten Länder nach dem 2. Weltkrieg deutlich gezeigt. Christen haben es dort auch immer schwer, ihren Platz zu behaupten. Denn Christen sind keine Duckmäuser. Christen bringen sich ein.
Aber auch innerhalb von Gemeinden wird gestritten. Das war schon im alten Rom so. Paulus geht darauf in seinen Briefen sehr genau ein. Und das keineswegs immer in der Sprache beschwichtigender Diplomatie, sondern mit Entschlossenheit und aus Überzeugung. Aber auch wenn Paulus sich in einen Streit einmischt, geht es ihm darum, die Einheit der Gemeinde zu wahren. Paulus streitet nicht, damit alle das gleiche denken, sondern er streitet, damit die Gemeinde offen bleibt für die Verschiedenheit der Gläubigen. Er streitet für Vielfalt. Und er streitet für Einheit. Beides zusammenzubringen, das braucht echtes Ringen um die richtigen Worte. Es kann wichtig sein, miteinander zu streiten, damit man nicht gegeneinander streitet. Paulus mutet der Gemeinde in der Hauptstadt und heute auch uns in der badischen Provinz, gegen Ende des Römerbriefs noch einmal eine Menge zu, wenn er die Streitenden zu einem Weg des Miteinander aufruft:
(Lesung des Predigttextes)
Der Streit in Rom
Konkret ging es damals darum, dass Menschen aus völlig verschiedenen religiösen und kulturellen Prägungen in der Gemeinde zusammenfinden. Die einen sind als Juden aufgewachsen. Für sie ist Christus die Erfüllung der altvertrauten Verheißungen. Die Regeln und Riten der jüdischen Gemeinde sind ihnen wertvoll und wichtig. Die anderen sind als Heiden aufgewachsen. Sie haben von Kindesbeinen an erlebt, wie Feste zu Ehren der verschiedenen Gottheiten gefeiert wurden. Vielleicht hatten sie Gelegenheit, sich einmal beim Mithraskult umzusehen. Aber letztlich hat die Botschaft von Jesus Christus sie erreicht und überzeugt. Sie haben Brücken zu ihrer religiösen Vergangenheit abgebrochen und brachten die Gemeinden nach vorne.
Allerdings: Viel Ahnung von den Regeln und Riten des Judentums hatten sie nicht. Und Einsicht darin, sich das alles zu merken und einzuhalten, wohl auch nicht. Dass es da zu Streit kommt, kann man sich vorstellen. Denken wir nur einmal daran, wie sehr in Deutschland darum gestritten wird, wieviel Veränderung unsere Gesellschaft verträgt, wer sich an wen oder was anpassen soll, wie religiöse Gesetzgebung und die allgemein geltenden Regeln des Miteinanders sich zueinander verhalten. Und so etwas dann im Raum einer Gemeinde zu diskutieren, wo man sich auch mindestens Woche für Woche, wenn nicht Tag für Tag von Angesicht zu Angesicht begegnet – da ist Streit vorprogrammiert.
Paulus hat dabei eine wichtige Aufgabe: Einerseits gehört er selbst zu den Juden, und zwar zu denen, die sich richtig gut auskennen. Ihm sind die Tora, Gottes Weisung in den fünf Büchern Mose und die Propheten mit ihren Verheißungen vertraut und wertvoll. Er weiß deshalb, was seine Schwestern und Brüder bewegt. Aber andererseits ist ihm die weltweite Bedeutung Jesu Christi glasklar aufgegangen. Und er setzt sich wie kaum ein zweiter dafür ein, dass der Zugang zu Jesus Christus wirklich aller Welt eröffnet wird. Und es ist keineswegs nur Strategie, dass er dafür eintritt, die zu Christus bekehrten Heiden gar nicht erst zu frommen Juden umzuerziehen. Es ist seine Glaubensüberzeugung, dass Jesus Christus das Gesetz Gottes mit Israel erfüllt hat und darum über ihn ein unmittelbarer Zugang zu Gott geschaffen ist.
Streit bei uns
In diesen Konflikt greift Paulus also ein. Und wie er das macht, kann uns wichtig werden. Hören wir es auf dem Hintergrund dessen, worüber heute gestritten wird. Etwa: Wie modern müssen Gottesdienste heute sein, um jungen Menschen anzusprechen; wie „traditionell“ dürfen sie sein, damit man sich in ihnen auch „zu Hause“ fühlen kann. Wollen wir beim nächsten Gemeindefest bewusst auf Schweinefleisch verzichten und gezielt muslimische Mitmenschen einladen? Oder sollte „wenigstens das Feschtle“ so bleiben, wie es immer war? Sollte es auch einen muslimischen Feiertag in Deutschland geben? Wie viele Rüstungsexporte verträgt der Frieden? Welche Erwartungen stellen wir an Geflüchtete in unserem Land? Wieviel Anpassung wollen wir ihnen abverlangen? Wie stark sind wir bereit, etwas von ihnen zu lernen oder gar zu übernehmen? Sollen die Engländer nun aus der EU heraus oder doch besser dabeibleiben, womöglich mit ein paar Sonderregeln? Sollte sich eine Partei wie die CDU nun so konservativ wie möglich positionieren, damit sie Wähler von der AfD zurückgewinnt? Oder ist es für sie wichtiger, sich als eine moderne Partei zu zeigen, die sich von den Entwicklungen der Zeit nicht abkoppelt? Vergleichbares ließe sich auch für die SPD fragen. … Auch an Streitfragen innerhalb der Familie können wir denken, wenn wir uns von Paulus ansprechen lassen als Christen, die nun einmal verschieden sind, denken und fühlen, aber trotzdem zusammengehören.
Nehmt einander an
Paulus bewegt nicht eine Seite dazu, einzulenken und sich der anderen unterzuordnen. Er schlägt sich nicht auf diese oder jene Seite. Sondern er fordert beide Seiten auf: „Nehmt einander an!“ Damit benennt er die Grundlage konstruktiven Streitens. Keiner unterstellt dem anderen böse Absichten. Beide Seiten versuchen, den Standpunkt des anderen zu verstehen, die Argumente, die Gefühle, die Folgen aus der Sicht des Gegenüber zu bedenken. Auch wenn ich nach meinem Standpunkt Recht habe, mich so zu verhalten – muss ich diese Freiheit bis zum Äußersten auskosten, wenn ich weiß, dass ich andere damit verletze oder störe? Und umgekehrt: Wenn ich etwas nach eigener Überzeugung nicht mittragen kann, muss ich darauf bestehen, dass meine Sicht auch für alle anderen Geltung hat? Wenn Streit uns dabei hilft, einander wahrzunehmen mit dem, was dem anderen wichtig ist, hilft er dazu, dass wir einander nicht mehr zumuten, als unsere Gemeinschaft tragen kann.
Christus hat euch angenommen
„Nehmt einander an“ könnte als eine altväterliche Forderung verstanden werden. So wie ein genervter Vater seine Kids auffordert: „Vertragt euch!“ – im Sinne von: Seid endlich ruhig! Aber Paulus greift tiefer aus. Es geht um die Begründung des gegenseitigen Annehmens. Als Christen dürfen wir davon leben, dass wir angenommen sind. „Christus hat euch angenommen!“ Das ruft Paulus den Streitenden in Erinnerung. Christus hat nicht etwa die einen angenommen und die anderen nicht. Es ist ein neuer Blick auf uns selbst und ein neuer Blick aufeinander. Wir sind nicht vorrangig Streitende. Wir sind zunächst einmal die von Gott Geliebten, die von Christus Angenommenen. Da kann der Gegenstand des Streites noch so schwer sein. Von Christus her sitzen wir in einem Boot. Wir müssen nicht in jeder Frage einig sein, um zusammen zu finden. Die Einheit in Christus steht zuerst. Die Vielfalt in der Art und Weise, wie wir unseren christlichen Glauben leben, findet in dieser Einheit Raum.
Paulus hebt also etwas ganz Wesentliches hervor: In der christlichen Gemeinde ist unser Miteinander vor allen Streit gesetzt. Dieses Miteinander muss sich also nicht dadurch begründen, dass wir uns in jeder Streitfrage auf eine gemeinsame Position einigen. Das Miteinander als Christen hält eben aus, dass wir verschieden sind und verschieden bleiben. Das Miteinander hält aus, dass Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt, in verschiedenen Sprachen, mit verschiedenen Riten, mit verschiedenen Vorstellungen von Geselligkeit und Gemeindeleben, sind. Hier in der Luthergemeinde sind viele aus unterschiedlichen Regionen zugezogen. Jeder hat sein Bild im Kopf, wie Gottesdienst gefeiert wird, wer wie oft und von wem besucht wird, welche Möglichkeiten es gibt, zwischen den Gottesdiensten zusammenzukommen, zum Bibellesen, zum Diskutieren, zum Meditieren, zum Tanzen, zum Singen, zum Vierteleschlotzen. Jeder wird sein Bild von Gemeinde immer wieder neu überprüfen müssen. Denn die Gemeinde lebt immer aus den Menschen, die in ihr zusammenkommen. Und die sind eben ganz verschieden.
Paulus lässt die streitende Gemeinde aber keineswegs allein mit ihrem Problem. Er zitiert ausführlich die hebräische Bibel. Damit zeigt er, wie wichtig ihm die Wurzel ist, aus der gerade der jüdische Teil der Gemeinde schöpft. Er zeigt aber gerade darin auf, mit welcher Freude und Begeisterung hier die Völker der heidnischen Welt angesprochen sind. „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk.“ Oder: „Lobet den Herrn, alle Heiden.“ Und schließlich die Verheißung, die deutlich macht: die Christen aus dem erwählten Volk und die Christen aus den Völkern der Welt können sich gar nicht voneinander lösen. In Christus sind doch beide miteinander aufs Engste verknüpft: „Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen.“
Hoffnung für alle Welt
Wir sind in der Adventszeit. Das ist eine Zeit, in der unsere Hoffnung nach ihrem Grund sucht. Hoffnung auf eine Zukunft, in der der Streit überwunden ist, Hoffnung auf Frieden. Paulus ruft den Grund der Hoffnung in Erinnerung: Die Verheißung, die er auf Christus bezieht. Die Hoffnung wurzelt in der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Aber Paulus kommt gar nicht umhin, diese Hoffnung universal zu denken. Es ist eine Hoffnung für alle Welt, für alle Völker, eine Hoffnung, die nicht mehr durch Grenzen gefesselt werden kann. So wird nun nicht mehr der Streit als solcher erörtert. Sondern Paulus zeigt beiden Seiten eine Perspektive auf – sie sollen ja nicht nur miteinander streiten. Als Christen muss es möglich sein, sich gemeinsam auf etwas auszurichten. Die Hoffnung hat in Christus ihren Grund und ihr Ziel. Deshalb lebt auch das Miteinander der verschiedenen Christen auf Christus hin. Er, der uns angenommen hat, ist es auch, der uns hoffen lässt.
Miteinander loben
Es wird wieder gestritten. Gut so, wenn wir miteinander streiten und nicht gegeneinander. Denn nur wenn wir wissen um das, was den anderen bewegt, können wir wirklich aufeinander eingehen, einander annehmen, wenn wir dabei erkennen, dass nicht alles, was unseren eigenen Weg ausmacht, auch für den anderen richtig sein muss. Entscheidend aber ist, dass alledem voransteht: Christus hat euch angenommen. Das Wissen darum geht allem Streit voran und sollte der Schlüssel sein, die Gemeinschaft zu bewahren.
Schließlich aber mündet der Apostel in einem langen Abschnitt über das Loben Gottes, die Freude und die Hoffnung. Damals in der streitenden Gemeinde setzt er damit einen neuen Akzent. Sie sollten sich nicht ihre unterschiedliche Vergangenheit vorhalten. Vielmehr ist es schon in der Heiligen Schrift vorgezeichnet, dass die Wege aus beiderlei Vergangenheit darin einmünden werden, Gott zu loben. Stimmen also auch wir als Adventsgemeinde kräftig ein in das Loben Gottes. Kommen wir vom Streiten zum Loben. Die alten und neuen Lieder für diese Zeit sind Ausdruck der großen Hoffnung. Darin können wir wachsen, wenn wir uns Gott öffnen. Denn: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes“.
Eine sehr gründliche und tiefsinnige Predigt besonders über das Streiten miteinnder, statt gegeneinander. Man kann noch Neues dazulernen.
Die Klarheit in Sprache und Gedankenführung, die den Text für unsere Gegenwart entschlüsselt, hat mich bei dieser Predigt sehr angesprochen. Ich habe gerade Römer 1,1-7 für den 2. Weihnachtsfeiertag vorbereitet und die Predigt hat mir geholfen, auch das Präskript des Römerbriefs, in das bereits eingepackt ist, was Paulus später entfaltet, profilierter wahrzunehmen. Vielen Dank dafür.