Wen trägt der Hirte auf den Schultern?
esus tritt als Hirte für die Menschen ein
Predigttext: Johannes 10,1-16 (Übersetzung nach Martin Luther)
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber. Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte.Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht. Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden. Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und volle Genüge.
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.
Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
Exegetisch-homiletische Überlegungen
Die Bildwelt in Joh. 10 ist einem Adlerblick geschuldet, vielfältig variiert und doch überraschend einfach. In dem ersten Ich-bin-Wort Jesu, das in Joh. 10 überliefert wird, geht es um die Tür, in dem zweiten um den Hirten: Jesus stellt sich als Tür vor und als Hirten. In beiden Fällen werden Diebe, Räuber und Mietlinge (modern: angestellte Hirten, 1 € Kräfte) als Sicherheitsrisiken kenntlich gemacht. Das Risiko ist, nicht nur überfallen zu werden, sondern sein Leben zu verlieren. Eine Steigerung ist in den Ich-bin-Worten unverkennbar. Dem Verlust an Leben wird die Fülle des Lebens gegenübergestellt. Jesus ist die „Tür zu den Schafen“ und der „gute Hirte“ in einem. Er lässt – sogar – sein Leben für die Schafe und nimmt es mit dem Wolf auf, koste es, was es wolle. Am Schluss wird in einem eschatologischen Ausblick versichert, dass es eine Herde und einen Hirten gibt.
Die Predigt wird die Intention von Joh. 10 positiv aufgreifen und Jesus als den verkündigen, der Menschen nicht nur in die Fülle des Lebens führt, sondern für sie kämpft und eintritt. Um den Preis des eigenen Lebens. In der altorientalischen und alttestamentlichen Bildwelt ist auch der König „nur“ ein Hirte, der für sein Volk Verantwortung übernimmt und den Schafen, bildlich gesprochen, nicht das Fell über die Ohren zieht. Im Bild des Hirten sind Leitung und Führung dargestellt, so archaisch das Verhältnis von Hirten und ihren Herden auch sein mag. Es geht um Gerechtigkeit, Schutz und Hilfe.
In Katakomben wird Christus als der dargestellt, der ein Lamm trägt, oft noch umgeben von anderen Lämmern und Schafen. Nach dem Hebräerbrief ist er der Anführer und Vollender des Glaubens. In der französischen Kathedralkunst ist Christus zu bewundern, der Judas, seinen aufgehängten Verräter, auf den Schultern trägt – siehe Säulenkapitell in der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine, Vézelay (https://www.pius-kirchgessner.de/07_Bildmeditationen/4_Christus/Judas.htmy)
Im Wort „Pastor“ hat sich das Hirtenbild kirchlich eingebürgert. Der Pastor ist Hirte der ihm anvertrauten Gemeinde. Im Missbrauchsskandal wird sichtbar, wie auch die Öffentlichkeit unter der traumatischen Erfahrung, dass Menschen zu Opfern gemacht wurden, nicht nur schockiert ist, sondern unter der Unglaubwürdigkeit der Kirche wütend leidet. Ist der Pastor ein Kleriker? Der Klerikalismus eine Hirteneigenschaft? Joh. 10 stellt diese aktuellen Fragen durchaus schon ins Zentrum. Wie sieht ein guter Hirte aus? Was macht er? Was macht er nicht?
In Joh. 10 haben die Ich-bin-Worte Jesu einen ausgesprochen soteriologischen Charakter und gehen über die vertrauten Konnotationen hinaus. Die Ich-bin-Worte Jesu sind exklusiv zu verstehen. Nur er ist die Tür zu den Schafen – und nur er ist der gute Hirte. Als solcher ist er bekannt und vertraut. Seine Stimme ist vertrauenerweckend und hörbar. In Joh. 10 treffen wir auf ein christologisches Kapitel. Aber auch auf eine Bekenntnissituation.
Die Predigt wird die „Negationen“ allerdings auch konkretisieren müssen, ohne sich in den „Negationen“ verlieren zu dürfen. Das Evangelium ist zwar auch ein „Gegen-Evangelium“, aber als Pro-vokation ein Schlüssel, Lebenserfahrungen coram Deo aufzuschließen. Gefährdungen sind zu benennen, um sich ihnen nicht ergeben zu müssen.
Im Gottesdienst hat der 23. Psalm einen besonderen Platz. Im EG gibt es auch mehrere Lieder und Vertonungen zu ihm. In den Worten von Jürgen Henkys: "Der mir vorangeht, seines Namens wegen, führt mich auf rechtem Steg dem Ziel entgegen. Ob ich auch wandre, wo die Schatten kauern, durchs finstre Tal und zwischen starren Mauern: Du bist bei mir! Dein Stab lässt sicher gehen. Kein Unglück muss ich mehr allein bestehen. Du deckst den Tisch, den Feinde mir missgönnen. Du salbst mein Haupt, dass sie es sehen können. Du schenkst mir ein, dass ich mich vor dir freue und deinen Bund im Dank an dich erneue. Die Güte wird, die Liebe um mich bleiben. Aus deinem Haus darf niemand mich vertreiben."
Der gute Hirte und der böse Wolf
Heute darf ich eine Predigt über den guten Hirten halten. Das Evangelium ist doch einfach schön. Vertraute Bilder kommen mir in den Sinn. Eine Idylle. Oder soll ich über den bösen Wolf predigen? Ob er böse ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht, nur, dass er zurückgekehrt ist. Das ist aufregend genug. Wenn der Wolf nicht heult, tut‘s der Mensch. Manches Schaf wurde schon gerissen. Manche Fährte entdeckt. Manche Angst schon geäußert. Muss Rotkäppchen sich fürchten?
Im Evangelium jedenfalls wird ein Kampf ausgefochten. Nicht nur mit Wölfen. Aber dieser Kampf wird eigens erwähnt. Und alle wissen, woran sie sind. Eine Herde wird umzingelt, auseinandergetrieben, in Panik versetzt – und dann wird totgebissen, gefressen. Nicht alles. Nur das Beste. So klar die Vorstellung, aber von welchen Wölfen redet Jesus eigentlich? Schon hier muss ich einhalten!
Im Deich und auf der Heide
Mein Onkel war Schäfer. Auf Nordstrand. Tag für Tag, bei jedem Wetter. Er war immer draußen. Mit Schafen, die ihm nicht gehörten. Sie sorgten dafür, dass das Gras auf den Deichen fest blieb. Natürlicher Landschaftsschutz – und Deichschutz in einem. Über die Jahre hatte mein Onkel die Schweigsamkeit der Schafe übernommen. Aber lebensgefährlich war sein Job nicht. Eher gleichmütig. Oder soll ich sagen: langweilig? Die Jahre sind über ihn und die Schafe hinweggegangen. Er brauchte nicht einmal einen Hund. Wenn ich dann im Internet recherchiere, ist der Wolf eigentlich noch kein Thema. Die Bundesagentur für Arbeit hat für „Tierwirte und Tierwirtinnen der Fachrichtung Schäferei“ – so heißt das heute – eine Jobbeschreibung:
Sie „züchten Qualitätstiere für die Vermehrung oder halten Schafe für die Gewinnung von Fleisch, Milch und Wolle. Sie versorgen und füttern Schafe, ziehen Jungtiere auf und pflegen kranke Tiere. Für die Zucht suchen sie geeignete Böcke aus, leisten Geburtshilfe und kümmern sich um Lämmer und Muttertiere. Sie scheren, melken und schlachten die Schafe. Außerdem beobachten und dokumentieren sie genau, wie sich der Tierbestand entwickelt. Wenn sie Schafe hüten, setzen sie speziell ausgebildete Hütehunde ein, die sie führen und versorgen. Für Schafe in Koppelhaltung richten sie Koppeln ein und erstellen Weidepläne. Durch die Beweidung von Brachflächen, Heiden, Deichen und Grünflächen in der Wanderschäferei leisten Tierwirte und Tierwirtinnen der Fachrichtung Schäferei außerdem einen wertvollen Dienst in der Landschaftspflege.“
Wollen Sie sich vielleicht bewerben? Dass der Beruf lebensgefährlich sein könnte, kann ich mir nicht denken. Wir denken eher an eine Idylle. Mit unseren Kindern bleiben wir stehen, wenn wir eine Herde sehen. Es ist ein Bild des Friedens. Und sollte tatsächlich einmal ein Wolf oder gar ein ganzes Rudel kommen – nach den Vorschriften hätte der „Tierwirt“ oder die „Tierwirtin“ der Fachrichtung Schäferei sich in Sicherheit zu bringen. War Jesus bei der Berufsgenossenschaft gemeldet?
Lebenseinsatz
Im Evangelium sehen wir eine bedrohte, heimgesuchte, gefährdete Welt – und wir müssen diesen Blick aushalten! Wir sehen Wölfe, die Herden zersprengen, Schafe reißen, Hirten verjagen. Für die Herde ist ein solcher Einfall – oder Überfall – traumatisch. Eine Todeserfahrung mehr. Es gibt so viele Todeserfahrungen. Was in diesem Bild verdichtet ist, geistert durch Zeitungen, Nachrichtensendungen und Büchern: Wir sehen Menschen, die über andere herfallen, sie über Meere treiben, ihren Hass an ihnen ausleben. Dass der Mensch des Menschen Wolf ist, weht aus der Antike zu uns. Ein bisschen Latein am Sonntagmorgen schadet nicht: „Homo homini lupus“. Oder ursprünglicher, beim römischen Komödiendichter Plautus (um 200 vor Christus) : „lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“ Auf gut Deutsch: „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.“ Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen.
Jesus sagt von sich, dass er der gute Hirte ist, der sein Leben hingibt für die Schafe. Tatsächlich – im Evangelium wird das immer wieder erzählt – nimmt er es mit dem Bösen auf. Bildlich gesprochen: Jesus flieht nicht. Er stellt sich dem Wolf. Er nimmt es mit den Wölfen auf. Er heult nicht mit ihnen! Er macht mit ihnen keine gemeinsame Sache. Jesus ist der Hirte, der mit seiner Herde geht, Dornen hin, Abgründe her. Seine Herde folgt ihm. Seine Stimme ist vertraut. Das ist Verbundenheit, Nähe und Liebe, Hingabe und Treue. „Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“ Wenn dann sogar davon die Rede ist, dass Schafe, die nicht aus diesem Stall sind, seine Stimme hören werden, wird eine große Gemeinschaft sichtbar, die sich auf Jesu Wort einlässt und ihm vertraut. Wir können jetzt auch an die Kirche denken, die Jesus folgt, die mutig aus dem Bann böser Gedanken und Mächte heraustritt – und sich an Jesu Wort misst – und messen lässt.
Zu den bittersten Erfahrungen heute gehört, dass aus Untiefen und einem großen Verschweigen ans Licht kommt, wie Menschen missbraucht und zu Opfern gemacht wurden. Aus dem Bann böser Gedanken und Mächte herauszutreten, sich an Jesu Wort messen: Dazu gehört, die Wahrheit zu sagen, sich ihr zu stellen und für die einzutreten, die schweigen lernen müssen. Der Kreis wird dann immer größer. Viele Menschen werden missbraucht, zur Ware gemacht, ihrer Würde beraubt. Viele Menschen werden ausgebeutet, wie Tiere gehalten, zum Schweigen verdammt. Ein Teil unseres Wohlstandes beruht darauf. Doch die im Dunkel sieht man nicht.
Jesus stirbt am Kreuz. Er gibt sein Leben. Für uns Menschen. Im Evangelium hören wir seine Stimme: „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“ Wer meint, das höre sich sehr fromm und erbaulich an, wird in eine Auseinandersetzung hineingezogen, die jede falsche Sicherheit entlarvt. Und unsere Bilder von der Welt umstürzt. Jesus führt ins Leben. Nicht ohne Kampf und Streit. Aber bei ihm findet die Liebe das letzte Wort. Liebe kann sehr, sehr teuer erkämpft sein.
Freiheit
Wie abenteuerlich – und geheimnisvoll – es ist, von einem Hirten und seiner Herde zu reden, erzählt der französische Schriftsteller Alphonse Daudet in der Geschichte „Die Ziege des Herrn Seguin“. Sechs Ziegen hat ihm der Wolf schon gerissen, die siebente – an sie hat er sein Herz verloren – will er um jeden Preis bewahren. Aber die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung. Der Ziege schmeckt das Gras nicht mehr im Pferch, sie träumt von fetten Weiden, von den Bergen – dahinten. Sie wird krank, krank vor Sehnsucht nach Freiheit.
Was jetzt passiert? “Herr Seguin führte die Ziege in einen dunklen Stall und verschloss die Tür zweifach. Doch hatte er vergessen, das Fenster zu schließen, und kaum hatte er dem Stall den Rücken gekehrt, da war die kleine Ziege auf und davon. Als die weiße Ziege in den Bergen anlangte, war sie von Entzücken ganz überwältigt. Sie wurde wie eine kleine Königin empfangen. Der ganze Berg feierte ihr Kommen. Wie war unsere Ziege hier glücklich! Hier gab es kein Seil, keinen Pfahl, nichts hinderte sie, Luftsprünge zu machen! Sie sprang und rannte überallhin. Denn sie fürchtete sich vor nichts. Einmal sah sie weit unter sich den Hof von Herrn Seguin. “Wie das alles klein ist”, sagte sie, “wie hab’ ich es dort nur aushalten können!” – Du Arme! Weil sie so hoch oben war, kam sie sich so groß wie die ganze Welt vor! Auf einmal wehte ein kühler Wind. Es war Abend geworden. “Schön”, sagte die kleine Ziege und stand erstaunt still. Eine große Traurigkeit legte sich auf ihre Seele. Sie dachte an den Wolf. Im Tal unten ertönte ein Jagdhorn, sicherlich der gute Herr Seguin, der noch einen letzten Versuch machte. Die Schneeweiße hatte Lust heimzukehren. Aber sie wusste, dass sie dieses Leben nicht mehr ertragen könnte. Die Ziege vernahm hinter sich im Laub ein Rascheln. Es war der Wolf.”
Viele Menschen haben den Traum, ihren Stricken und Fesseln zu entkommen, mit dem Leben bezahlt. Einst standen Sklaven auf, heute fordern Landlose in Lateinamerika ihr Recht, Arme wollen in Nussschalen Meere und Grenzen bezwingen. Andererseits haben viele Menschen im Kampf um Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit auf eine sichere Karriere verzichtet, wurden im Namen des Volkes zum Tode verurteilt, als Nestbeschmutzer diffamiert. Einige wurden heiliggesprochen, die meisten blieben namenlos. Einige bekamen ein Denkmal, die meisten sind spurlos verschwunden. Von ihrem Mut aber zehren Menschen, wenn sie den Aufbruch wagen. Die kleine Ziege von Monsieur Seguin – sie nahm es mit dem Wolf auf! Mit dem Wolf!
Guter Hirte
Passen Herde und Freiheit zusammen? Was kann der gute Hirte tun, gewähren? Wird er sich dem Wolf opfern, um der kleinen Ziege die Freiheit zu schenken? Die Schönheit einer Weite, die jede Abhängigkeit vergessen lässt? Das Wort Jesu von der Tür und von dem guten Hirten gehört zu den sogenannten „Ich-bin-Worten“ Jesu. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben – ich bin das Brot des Lebens – ich bin der Weinstock – ich bin die Tür… Ich bin der Anfang und das Ende, A und O, Erster und Letzter. Ich bin – das für dich. Für Euch. Ich bin – nicht ohne Euch. In besonders anschaulicher und bildreicher Sprache stellt sich Jesus vor. Heute: Ich bin der gute Hirte.
Viele Menschen sind auf der Flucht. Die ganze Welt ist in Bewegung. Familien, Stämme, Völker werden auseinandergetrieben. Wir nennen das Migration – und wissen doch nicht, was das heißt. Migration ist nicht Freiheit, Migration ist ein Verhängnis, Migration ist Zwang. Gelegentlich sprechen wir dann verschämt von Migrationshintergrund, wenn wir eine Klassifizierung brauchen. Was wir mitbekommen, ist nur ein Bruchteil von dem, was Menschen weltweit erleiden und auf sich nehmen. Brutalität und Gewalt sind übergroß. Unsere Worte können nicht sagen, was geschieht. So viele Wölfe – und oft in Nadelstreifen, gehüllt in edles Tuch. Verschwiegen ohnehin.
Ich möchte das Evangelium noch einmal langsam lesen: „Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich.“ Sagt Jesus. Meint er gar, der bezahlte Knecht werde selbst – zum Wolf? Wenn er mit ihnen gemeinsame Sache macht, wenn er nur wegschaut und alles so laufen lässt, wird er – zum Wolf! Der bezahlte Knecht, der „Mietling“, verteilt dann die Schuld nach Belieben, er findet auch seine „Schuldigen“ ganz leicht. Vielleicht ist es das, was ihn zum Wolf macht?
Hirten sind unterwegs. Herden sind unterwegs. Ursprünglich: Nomaden. Oft genug gab es Konflikte, wenn sie in Kulturland vorstießen – also auf Menschen trafen, die schon sesshaft geworden waren und ihre Felder und Weiden bestellen. Jesu Wort beschreibt keine Idylle. Wir sehen eine bedrohte, heimgesuchte, gefährdete Welt – wir sehen Wölfe, die Herden zersprengen, Schafe reißen, Hirten verjagen. Aber das Evangelium öffnet uns die Augen dafür, die Wölfe zu sehen, die gut gekleidet, gut gebildet, gut genährt – ganz viele dumme Schafe brauchen und um sich scharen. Wenn das dumme Schaf frei wird, ist es um den Wolf geschehen.
Eine offene Tür
Es ist gar nicht so einfach, in eigenen Worten zu sagen, was Leben in Fülle ist. Die klassischen Träume huschen durch die Seele: Geld, Ansehen, Erfolg. Aber sie werden Albträume: Ich muss immer mehr von ihnen haben, mich ihnen ausliefern, ihnen hinterherlaufen – und werde doch nicht satt. Jesus sagt: “Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.”
In der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine, Vézelay, Frankreich, gibt es ein beeindruckendes Säulenkapitell: Jesus trägt als guter Hirt den Verräter Judas auf seiner Schulter. Tot. Er hat sich aufgehängt. Nachdem er Jesus verraten hat. Für dreißig Silberlinge. Wie klein sich das anhört: Silber-linge. Aber Judas wird von Jesus getragen. Wie ein verlorenes Schaf. Auf dieser Barmherzigkeit und Weite ruht die ganze Kirche. In Stein gesetzt, hochgezogen – und als Gemeinschaft von Menschen, die schuldig werden und sich schuldig sprechen. Der gute Hirt trägt Judas auf seiner Schulter – die Säule in der Kirche – und das ganze Gewölbe. Hier darf Judas zu Hause sein und seine Geschichte erzählen. Hat er das Leben gefunden?
Wenn wir zusammen Gottesdienst feiern, bringen wir nicht nur unterschiedliche Erfahrungen und Sehnsüchte mit – wir geben sie in Gottes Hand. Die Grenzen, die wir ziehen, auch manchmal ziehen müssen – stecken die Weide nicht ab, die ER in großer Weite und Liebe geöffnet hat. Wir sollten sie auch nicht durch Kleinglauben, Rechthaberei und Angst in Parzellen verwandeln und mit unseren Zäunen einfrieden. Einfrieden … Was das für ein Wort ist! Einen Frieden bewahren wir so nicht.
Kritiker bemängeln, dem modernen Menschen sei das Bild von Hirten und Herden nicht mehr verständlich – und auch nicht mehr zumutbar. Aber der moderne Mensch, Entschuldigung, wer immer das jetzt auch ist, braucht immer noch einen Raum zum Leben, eine freie Fläche vor sich und um sich und ganz viel Grün, viel Sonne und Licht. Gibt es ein schöneres, treffenderes Bild als – eine Weide? Eine Weide im Frühling? Wer mit Kindern unterwegs ist, entdeckt auch die Schafe neu! Dumm waren sie noch nie! Nicht so dumm wie Menschen, die sich doch tatsächlich mit Herdentrieb entschuldigen und freisprechen – oder belasten und verstricken.
Die vielleicht schönste Seite unseres Evangeliums klingt da an, wo Jesus uns das Vertrauen ausspricht: “Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie, und sie folgen mir.” Wer auf Jesus hört, ist kein dummes Schaf! Ihm geht die Welt neu auf! Menschen in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit werden von ihm angenommen – und geliebt. Wenn wir ihm folgen, entdecken wir einen Lebensraum, in dem wir mit anderen Menschen Glauben und Vertrauen teilen. Im Evangelium wird nicht erzählt, dass dieser Lebensraum durch hohe Mauern und dicht gezogenen Stacheldraht abgeschottet wäre … der gute Hirte führt nicht an die Grenzen, er führt ins Weite.
Der Sonntag vom guten Hirten ist eine einzigartige Einladung, Jesus auf seinem Weg zu folgen. Er räumt uns so viel Platz ein, dass uns um unsere Freiheit nicht bange sein muss. Wir können sie mit dem größten Geschenk füllen, das er uns gemacht hat: mit Liebe. Plötzlich sind die fremden Stimmen verstummt. Plötzlich ist alles anders. Ich sehe die offene Tür. Ich sehe Christus. Jetzt geht mir das Leben auf.
Eine Predigt mit vielen Bildern, Denkanstößen und Themenfeldern.
Den Wolf „in Nadelstreifen, gehüllt in edles Tuch“ habe ich sofort identifiziert und entsprechend eingeordnet. Von da aus lässt sich gut eine gesellschaftspolitische Diskussion eröffnen, geeignet für den Einstieg in ein Predigtnachgespräch.
Die Geschichte vom Onkel des Verfassers, der als Schäfer arbeitete, ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich. Interessant ist auch die Parabel von der „Ziege des Herrn Seguin“, die lebhaft und liebevoll wiedergegeben wird. Die Ziege konnte durch ein nicht verschlossenes Fenster ausbüxen und ihre Freiheit genießen. Das wird treffend in Worte gefasst: „Wie war unsere Ziege hier glücklich! Hier gab es kein Seil, keinen Pfahl, nichts hinderte sie, Luftsprünge zu machen! Sie sprang und rannte überallhin.“ Aber dann die Gefahr: „Die Ziege vernahm hinter sich im Laub ein Rascheln. Es war der Wolf.“ Hier wird das große Thema „Risiko der Freiheit“ angeschnitten. Der Verfasser bietet auch hier eine existentielle und politische Vergegenwärtigung und spricht von „Menschen“, die „den Traum haben, ihren Stricken und Fesseln zu entkommen“, Sklaven, Landlose in Lateinamerika, Arme, die „in Nussschalen Meere und Grenzen bezwingen“ wollen. Eine zeitnahe Interpretation dieser Parabel.
Am besten an dieser Predigt gefällt mir der Teil, in dem das Säulenkapitell in der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine, Vezelay in Frankreich, beschrieben wird: Dort gibt es eine Darstellung, wie Jesus als der gute Hirten „den Verräter Judas auf seiner Schulter trägt. Tot. Er hat sich aufgehängt. Nachdem er Jesus verraten hat. … Aber Judas wird von Jesus getragen. Wie ein verlorenes Schaf.“ Und dann kommt der wichtigste Satz: „Auf dieser Barmherzigkeit und Weite ruht die ganze Kirche.“
Wer diese Predigt liest oder hört, bekommt eine Fülle von Denkanstößen und geistlichen Einsichten, die ihn noch lange beschäftigen werden.