“Die Bibel hat 70 Gesichter …”

Suchen und fragen ...

Predigttext: Johannes 5,39-47
Kirche / Ort: Johannes-Kirche / Heidelberg
Datum: 23.06.2019
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Dr. theol. Heinz Janssen

Predigttext: Johannes 5,39-47 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

39 Jesus sprach zu den Juden: Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind's, die von mir zeugen;
40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.
41 Ich nehme nicht Ehre von Menschen an;
42 aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.
43 Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.
44 Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?
45 Meint nicht, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; der euch verklagt, ist Mose, auf den ihr hofft.
46 Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.
47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?

 

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Vorbemerkung: Johannes 5,39-47 gehört zu den Perikopen im vierten Evangelium, die in der kirchlichen Auslegung oft für antijudaistische Polemik missbraucht wurden. Der Predigttext spiegelt aber historisch die Auseinandersetzungen zwischen judenchristlichen Mitgliedern der jungen johanneischen Gemeinde(n) im 1. Jh. n. Chr. mit Angehörigen der jüdischen Gemeinde(n) um das Verständnis der Bibel Israels, hier besonders der Thora Moses, als (messianisches) Zeugnis von Jesus. Vor einem Missbrauch der johanneischen kritischen Äußerungen gegenüber jüdischen Gemeindegliedern können die Worte Jesu in Joh 4,22b bewahren: „Das Heil kommt von den Juden“.

(Predigt)

Wonach hast Du vor kurzem oder schon lange gesucht? Was suchst Du heute morgen hier in der Johanneskirche, im Gottesdienst? Vielleicht die Gemeinschaft mit vertrauten Menschen, auch die Begegnung mit noch unbekannten? Bist Du auf der Suche nach Zugängen zur Welt der Bibel und suchst Du darin Impulse für das Leben, Antworten für drängende Fragen? Suchst Du das Heilige in der Feier der Liturgie, im Singen und Beten, in der Musik, um Deine Beziehung zu Gott, zu Jesus, zum Heiligen Geist, zu stärken? Was suchst Du? Unsere Antworten werden wahrscheinlich verschieden ausfallen.

I.

Jesus begegnet Menschen, die auf der Suche sind, und sucht mit ihnen das Gespräch. Es sind Menschen unterschiedlicher “konfessioneller” Prägung.

„Ihr sucht in der Schrift…“, Jesus spricht sie auf ihr Schriftverständnis andiese Worte Jesu an Angehörige der jüdischen Gemeinde treffen heute auch auf unsere christliche Kirche und . Mit den “Schriften” waren damals besonders die fünf Bücher Moses gemeint, die Tora. Auch wir suchen in der “Schrift” und hoffen, darin zu finden, was uns im Glauben stärkt und im Leben weiterhilft. Die Suchenden damals waren überzeugt, in ihrer Bibel alles Lebensnotwendige und nicht weniger als das ewige Leben zu finden. Leben, das mehr war als  das, was sie vor Augen ist. Dennoch sah sie Jesus in der Gefahr, das eigentliche Leben zu verfehlen. Denn was sie in den “Heiligen Schriften” entdeckten, sollte sie zu ihm führen, “denn”, so Jesus, “sie sinds, die von mir zeugen”.  Jesus schaut hinter das Suchen und den Eifer, sieht ins Herz, sieht Schwächen und Stärken.

II.

„Aber ihr wollt nicht zu mir kommen…“, klingen in diesen Worten Jesu Enttäuschung und Traurigkeit an, vielleicht auch Ungeduld und etwas Kämpferisches? Jesus lebt, spricht und handelt ganz mit und aus der Liebe Gottes. Erfüllt von Gottes Liebe bleibt er dem Leben zugewandt und ist für die Menschen da. Und er hofft, dass wir uns seiner Botschaft von der Liebe Gottes ganz öffnen und “Gottes Liebe in uns haben”. Jesus stellt sie uns in seiner Person vor Augen.

„Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin“. Ich höre in den Worten Jesu z. B. die Fragen: Wie ermutigt und stärkt ihr eure Kinder in ihren persönlichen Lebensfragen, Sorgen und Lebensängsten? Seid ihr anderen mit eurem Suchen eine Hilfe, eine Lebenshilfe. Und was ist das, “ewiges Leben”, was wissen wir davon? J. S. Bach singt in seiner Kantate zum heutigen Sonntag von der Ewigkeit als Donnerwort: “O Ewigkeit, du Donnerwort”. Im christlichen Glaubensbekenntnis bekennen wir uns zum Glauben an „das ewige Leben”. Es ist die Hoffnung auf etwas Kommendes, noch Ausstehendes, eine Sehnsucht nach etwas, das bleibt und beständig ist in diesem Leben und über dieses Leben hinaus. Suchen wir danach in der Bibel, so fällt auf, wie zurückhaltend sie mit Beschreibungen über das „ewige Leben“ ist. Und doch betont sie, dass es schon hier und jetzt aufleuchtet und nicht von diesem Leben zu trennen ist.

III.

„Ihr sucht in den Schriften …“ – Jesus sprach zu Menschen, die darin etwas erwarteten. Sie suchten, studierten und forschten mit einem bewundernswerten Eifer, und sie waren überzeugt, dass sie nicht vergeblich suchten. Die Schriften Moses waren ihnen heilig, „Quelle des Lebens“. Darin sich zu vertiefen, hieß für sie: aus dieser Lebensquelle schöpfen. „Dein Wort ist meines Fußes Leucht und ein Licht auf meinem Wege“, so fasst es ein Mensch in einem Gebet (Psalm 119) zusammen. Ein Licht auf unserem Weg ist vielleicht eine biblische Geschichte, die Jahreslosung, der Tauf-, Konfirmations- oder Trauspruch. Mein Konfirmationsspruch, der mich bis heute in Atem hält, ein Wort Jesu, heißt: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“.

„Ihr sucht in den Schriften …“ Sich in den Schriften der Bibel auskennen, mit ihnen vertraut sein – bedeutet dies, das Wesentliche im Leben zu haben? Jene, die damals in der Bibel nach etwas Verbindlichem suchten, kommen hier überraschend schlecht weg. Hart klingen die Worte, mit denen Jesus ihnen abspricht, trotz eifrigen Bibellesens auf dem richtigen Weg zu sein. Jesus muss ihnen erklären, dass es eben diese (Heiligen) Schriften Moses sind, die auf ihn hinweisen. Das Leben, wonach sie suchen, hat etwas mit Ihm, Jesus, zu tun.
Es ging Johannes um diese Erkenntnis. Jesus steht zu den biblischen Verheißungen nicht im Widerspruch, sondern entspricht ihnen zutiefst. „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen“, sagt Jesus. Welch unerhörter Anspruch. Stein des Anstoßes für die einen, Stärkung des Glaubens für die anderen, Zeichen, dass Gott seine Zusagen erfüllt.

IV.

„Ihr sucht in den Schriften…“ Hier im Johannesevangelium bekommen wir Einblick in das Ringen um das Verständnis der jüdischen Heiligen Schriften, des ersten großen Teils der späteren christlichen Bibel, den wir Altes oder Erstes Testament nennen. Juden und Christen lesen bis heute in denselben Schriften, aber beide verstehen sie oft anders. Kennen wir so etwas nicht auch in unseren eigenen Reihen – Streit um die Bedeutung und um das richtige Verständnis der Bibel? Bis heute ringen wir darum in den Religionen, ob auf Kirchentagen, hier im Gottesdienst oder in der Bibelgesprächsgruppe. Auch Jesus stellt sich der Auseinandersetzung, steht Rede und Antwort. Jesus verweist auf seine Beziehung zu Gott. Allein Gott legitimiert ihn, und Mose hat von ihm geschrieben.

„Ich bin (zu euch) gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an“, sagt Jesus. Der Streit um die Auslegung der Bibel wird damit zugleich ein Streit um Jesus. Steht in seiner Person der lang ersehnte Messias vor uns? Diese Frage bewegte die Gemüter damals nicht weniger als sie uns heute umtreibt, wenn wir besorgt nach der Zukunft fragen und nach „Hoffnungsträgern“ Ausschau halten. Anstößig für viele war die menschlich vertraute Art, in der Jesus von Gott und seiner Beziehung zu ihm redete, weil sie den weiten Abstand zwischen Mensch und Gott lehrten. Unverständlich war für andere, dass gerade Er, der im Namen Gottes kommt, und voller Demut allein Gottes Ehre sucht, und es so schwer hat, angenommen zu werden. „Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen“, diese Worte Jesu können wir heute gut verstehen. Wir kennen den fragwürdigen Personen- oder Starkult. Jesus ist aber nicht auf äußeres Ansehen bedacht. Er ringt darum, dass wir seine Lehre und sein Wirken im Namen Gottes anerkennen, ihm vertrauen, seinen Worten glauben.

V.

Gibt es einen Grund, uns über die damaligen Angehörigen jüdischen Glaubens zu erheben, sie sind „unsere älteren Schwestern und Brüder“. Vor einem antijudaistischen Missbrauch der johanneischen kritischen Äußerungen gegenüber der Judenheit können die Worte Jesu bewahren: “Das Heil kommt von den Juden” (Johannes 4,22). Ob Juden oder Christen oder Angehörige anderer Religionen – jeder Mensch steht täglich in der Gefahr, das Leben zu verfehlen, und sei er in seinen (Heiligen) Schriften noch so bewandert. Ausdrücklich hören wir: Jesus will jene, die es durch ihre Bibelkenntnis eigentlich wissen müssten, vor Gott nicht “verklagen”. Er weist jene, die ihm kritisch gegenübertreten, auf die Schriften Moses, die ihn ankündigen.

„Ihr sucht in den Schriften …“ Jesu entschiedener Hinweis auf die Bibel ermutigt uns zum Lesen und Hineinhören und darüber miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch wer meint, fest im Glauben zu stehen, sehe zu, dass er nicht am Leben vorbeigehe. Denn die biblische Botschaft drängt nach Leben, nach gemeinsamem Hören, nach lebenspraktischer Anwendung und Umsetzung bis hin zu unserer Seele Seligkeit. Nach einem Ausspruch im Talmud hat die Bibel siebzig Gesichter! Diese Einsicht ermöglicht es, die verschiedenen Meinungen über die Bibel ohne Polemik zu hören und das Gespräch darüber miteinander zu suchen.

Blättern wir ein paar Seiten vor unseren Predigttext. Dort wird vom Jesusjünger Andreas erzählt, der seinen Bruder Simon (später Petrus) mit der Entdeckung gewinnt: „Wir haben den Messias gefunden“. Und ein anderer Jünger, Philippus, kann Nathanael entdeckerfreudig mitteilen: „Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josephs Sohn aus Nazareth“. Möchten wir zu denen gehören, die ihn suchen und finden – heute und jeden Tag neu. In ihm lässt Gott sein Angesicht leuchten über uns und seine geliebte Welt.

 

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Ein Kommentar zu ““Die Bibel hat 70 Gesichter …”

  1. Chr. Kühne

    Die ersten Impulse machen neugierig: die Frage „… denn wer hat Gottes Sinn erkannt?“ Dann die Ikone, die auch an den Besuch der beiden Engel bei Abraham erinnert. Und dann schließlich die Überschrift „Die Bibel hat 70 Gesichter …“ Der Prediger spricht uns als Menschen an, die auf der Suche sind, die das Gespräch suchen und um Antworten ringen. Diese Antworten sollen „ins praktische Leben“ führen! Sonst sind sie nichts wert. Ein wichtiger Gedanke der Predigt ist, dass die Suche in den Heiligen Schriften immer zu Jesus führen sollte. Und Jesus hat darum gerungen, „dass wir seine Lehre und sein Wirken im Namen Gottes anerkennen, ihm vertrauen, seinen Worten glauben“. Diese Ehre des Namens Gottes ist auch ein essential des jüdischen Glaubens, weshalb wir uns nicht über „unsere älteren Schwestern und Brüder“ erheben können und dürfen. Jesus war es wichtig, mit den Menschen „im Namen Gottes“ zu sprechen, mit ihnen die siebzig Gesichter der Bibel zu entdecken und sich an ihnen zu freuen. Daraus entstanden für die Menschen Leben, Sinn und praktische Handlungen. Danke für diese Predigt!

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