Milch und Licht

Wachstum im Glauben braucht Zuwendung und Empathie

Predigttext: 1. Petrus 2,1-10
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 28.07.2019
Kirchenjahr: 6. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer PD Dr. Wolfgang Vögele

Predigttext: 1.Petrusbrief 2,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther)

„So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede und seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil, da ihr ja geschmeckt habt, daß der Herr freundlich ist. Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus. Darum steht in der Schrift: »Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.« Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist »der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses«; sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, daß ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht; die ihr einst »nicht ein Volk« wart, nun aber »Gottes Volk« seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.“

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Leichte bis mittelgroße Verwirrung macht sich breit auf dem Bürostuhl. Das Telefon klingelt. Das quietschende Signal des Computers zeigt den Eingang neuer Mails an. Vom übernächsten Schreibtisch ruft die Kollegin herüber und will unbedingt eine Frage stellen. Auf dem Schreibtisch liegt eine Aktennotiz des Chefs, auf deren Umschlag die dick unterstrichenen Worte „Sofort erledigen!!!“ prangen. Aus dem Smartphone klingelt es, weil der Kalender mehrere überfällige und nun sofort zu erledigenden Aufträge meldet. Sie prasseln ungefiltert und gleichzeitig auf den Kollegen ein.

Stellen Sie sich vor, Sie würden jetzt nicht Ihre Sonntagsruhe pflegen, sondern stattdessen werktags am Schreibtisch sitzen. Kollegen wollen Ihnen Fragen stellen. Sie wissen nicht, wo Sie anfangen sollen. In früheren Jahren, zu Zeiten des Schwarzweißfernsehens hätten Sie vielleicht eine Zigarette geraucht. Heute lehnen Sie sich zurück und praktizieren zuerst drei Entspannungsübungen, zwei Minuten Nacken, Schulter und Bauchmuskeln, bevor Sie auf einem Zettel die Aufgaben in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit untereinander notieren und dann alles der Reihe nach abarbeiten, wenn nicht neue Aufträge dazu kommen. Wenn Sie so alles erledigt haben, können Sie zufrieden gegen Fünf den Computer ausschalten, und Ihre Kollegen werden Sie für Ihre Weitsicht und Geduld bewundern, wenn sie längst in der Straßenbahn nach Hause sitzen.

Heute, am Sonntag, sitzen Sie nun in diesem Gottesdienst und hören einen Predigttext, der Sie so verwirren muss, als ob Sie unter größtem Streß am Freitagnachmittag fünf Aufgaben gleichzeitig erledigen müßten. Die Textpassage hört sich an wie ein verschachteltes Wörtergebilde, Worte türmen sich zu Stapeln und Haufen. Das alles wirkt wie ein Mosaik, aus dessen Steinchen niemand auf das Gesamtbild schließen kann. Es scheint als ob Briefschreiber, Rabbiner und Gemeindeleiter gleichzeitig reden. Das erzeugt Verwirrung und führt schnell zu Täuschungen. Hier wird in wenigen Worten viel zu viel gesagt. Nur der Mörtel der Abstraktion klebt die Bilder zusammen. Die Schönheit der Worte, die Klugheit der theologischen Argumente und die Sinnlichkeit der Bilder scheinen darüber verloren zu gehen.

Also will ich es praktizieren wie die Kollegen im Büro oder in der Lagerhalle, die schnell mehrere dringende Aufträge gleichzeitig erledigen müssen. Wenn das Gesamtbild des Mosaiks auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, dann fange ich mit dem Einfachsten an. Vier Bilder greife ich heraus: die Steine, die Milch, das Opfer und das Licht. Vertrauen Sie darauf, daß die Bilder uns Hörer und Hörerinnen alle auf die Spur des Glaubens bringen. Also: Einmal einatmen – Einmal ausatmen – Den Nacken ein wenig strecken – Machen Sie es sich bequem – Entspannen Sie sich so, daß sie gerade noch genügend Kraft haben, um sich auf das Hören zu konzentrieren. Es geht los.

Eins: Die Steine

Der Badegast auf der Nordseeinsel geht gedankenverloren am Strand spazieren. Er läuft an der Wasserlinie entlang, die nackten Füße werden naß, den Blick hat er einmal auf den Horizont, dann auf den Boden gerichtet. Wenn er Interessantes sieht, bleibt er stehen. Eine silbrig glänzende Muschel steckt er in die Hosentasche, später einen Stein, der noch halb im Sand steckte. Die Wellen haben den Stein zu einer unregelmäßigen abgerundeten Form geschliffen, er liegt gut in der Hand.

Mit Steinen wird gebaut: Paläste, Rathäuser, Fabriken, Burgen und Kathedralen. Die Steine für ihr Baumaterial fanden die Menschen seltener am Meer als in Steinbrüchen. Wenn sich die Mönche und Bürger einer mittelalterlichen Stadt zusammentaten, um mit dem Bau einer gotischen Kathedrale zu beginnen, dann suchten sie sich Steinbrüche in der Nähe, um teure Transportkosten zu vermeiden. Steine für einen Kathedralenturm müssen behauen werden, bevor sie verbaut werden können. Dafür entwickelten die Steinmetze Schablonen.

Mich fasziniert immer wieder, dass die ersten Kathedralbaumeister vollständig ohne Pläne auskamen, jedenfalls hat man sie bis jetzt noch nicht gefunden. Daß die Steine sich zu Mauern, Spitzbögen, Pfeilern und Gewölben fügten, das beruhte nicht auf einem gezeichneten Plan auf Millimeterpapier, sondern allein auf dem Erfahrungswissen der geistlich-architektonischen Bauherren. Die Kirchensteine türmten sich zu einer Höhe, welche Strohhütten, Fachwerkhäuser und Burgen der mittelalterlichen Stadt bei weitem überragte. Trotz ihrer gewaltigen Höhe stürzten die Steinmauern und Gewölbe nicht ein. Innerhalb der Mauern entstanden damals zuvor unbekannte Räume aus farbigem Licht, welche die der Architektur geschuldete Dunkelheit romanischer Kirchen ersetzte und bei weitem übertraf.

Die Kathedrale, gleich ob romanisch oder gotisch, setzte sich aus Steinen zusammen, wie sich die Gemeinde Jesu Christi aus den lebendigen Steinen der Christinnen und Christen zusammensetzt. Wer glaubt, begibt sich in die Gemeinschaft Christi. Blöcke aus Buntsandstein oder Granit benötigen Mörtel für den Zusammenhalt, die lebendigen Steine der Gemeinde brauchen dafür das Gespräch, die Kommunikation. Zwischen den Kathedralen aus Steinen und den Gemeinden von Christen ist eine Beziehung gestiftet, die den Glauben sichtbar macht. Kirchturm und Glocken, Glauben und Gemeinschaft wirken zuerst in die Stadt, dann in die Welt hinein als Zeichen für die Gegenwart des lebendigen Gottes.

Zwei: Die Milch

Dass ein Mensch zum Glauben findet, ist nicht selbstverständlich, auch wenn er als Kind getauft wurde. Glauben benötigt Lernen, Erziehung, Bildung, aber eben nicht als Eintrichtern oder Einpauken. Die alten Zeiten stumpfen Auswendiglernens und schwarzer Pädagogik des Katechismus sind endgültig vorüber. Glaubensbildung darf nicht als Pflichterfüllung oder Zwangsarbeit missverstanden werden. Wer glauben lernen, sollte nicht dazu gezwungen werden. Wachstum im Glauben braucht Zuwendung und Empathie. Als Bild steht dafür die stillende Mutter mit dem Baby an der Brust im Arm.

Stillen ist nach Jahren der Gläser mit Babynahrung wieder zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Zusammensetzung der Muttermilch ist genau darauf abgestimmt, was das kleine Kind braucht, Nährstoffe, Eiweiße, Kohlehydrate. Und noch in der Beliebtheit der Kuhmilch bei Erwachsenen schwingt die Erinnerung daran mit, daß das Neugeborene einmal ohne nachzudenken wusste, was gut und nahrhaft war und wonach es alle drei Stunden schreiend oder wimmernd verlangte. Das Stillen umgibt die Aura das Sanften, Friedlichen, des geschützten Bereichs zwischen Mutter und Kind, den niemand stören kann.

Wer glauben lernen will, der ist eingeladen, sich langsam an das Glauben gewöhnen. Kein klerikaler Bürokrat sollte ihn mit der Brechstange dazu zwingen. Der Eintritt ins Haus der lebendigen Steine sollte begleitet sein von freundlichen Worten der Einladung, nicht von schwarzen Drohungen. Wenn im ersten Petrusbrief Glauben als Gestilltwerden umschrieben wird, dann ist die Beziehung der Glaubenden zu Gott ähnlich zu sehen wie die Beziehung der Mutter zu ihrem neugeborenen Kind. Der barmherzige Gott kommt den glaubenden Menschen mit mütterlicher Fürsorge entgegen.

Milch ist ein Getränk, das alles enthält, was Menschen zum Wachstum benötigen. Auch die zum Lernen des Glaubens nötige Milch macht die Menschen in Glauben und Vertrauen größer. Sie läßt sie mündig und frei werden, leitet sie an zum aufrechten Gang. Gängelung haben sie nicht mehr nötig. Wachstum im Glauben benötigt Geduld, aber jeder kann darauf vertrauen, daß die Milch ihre Wirkung tut.

Drei: Das Opfer

Das Leben und Sterben Jesu Christi verändert fundamental die Sicht der Glaubenden auf das Opfer. Vorher waren die Götter oder das Göttliche launische, strenge Wesen, die zu hohen Kosten mit regelmäßigen Opfergaben besänftigt oder barmherzig gestimmt werden wollten. Noch heute ‚ver-handeln‘ Menschen mit Gott, um ihn gnädig zu stimmen. Das Christentum zeichnet sich dadurch aus, daß es das Opfern abgeschafft hat.

Es ist nicht richtig, das Leiden Christi am Kreuz als ein Opfer zu verstehen, auch nicht als das letzte Opfer Gottes. Gott hat nicht einen Sohn geopfert, um die bösen Taten der Menschen wieder gut zu machen. Vielmehr zeigt das Kreuz, daß die Menschen Gottes Liebe nicht annehmen wollten. Und in der Auferstehung hat sich Gottes Liebe als stärker erwiesen als der Hass der Menschen. Weil das so ist, müssen Menschen sich nicht mehr selbst beweisen, um sich vor Gott zu rechtfertigen. Glauben heißt auch, sich zurücknehmen zu können, um Gnade und Barmherzigkeit in der eigenen Lebenswelt voranzubringen. Wenn der Begriff Opfer im Christentum einen Sinn macht, dann nur in dieser Deutung.

Vier: Das Licht

Zuletzt ist etwas über Gott zu lernen: Gott ist kein Gefängnis, in das die Glaubenden eingemauert werden. Gott verhält sich zu den Menschen wie eine Mutter, die ihre Neugeborenen stillt. Gott poltert nicht als der strenge Vater, der die bösen Menschen bestraft und Opfer von ihnen fordert. Gott erscheint als Licht. Die Baumeister der Gotik haben Mauern und Gewölbe gebaut, um dem Licht seinen eigenen Ort zu geben.

Sie erinnern sich an den Strandspaziergänger, der nach Steinen im Sand sucht? Er weiß genau, daß er nicht direkt in die Sonne schauen darf, sonst würde er geblendet. Aber alles, was er sieht, beleuchten die Strahlen des hellsten Himmelskörpers. Ohne die Strahlen der Sonne würde der Strandspaziergänger keinen Stein und keine Muschel, der Bergwanderer nicht das Gipfelkreuz und der Passant in der Fußgängerzone nicht die nächste Eisdiele erkennen. Wie diese zerbrechliche und gefährdete Erde von der Energie und Wärme der Sonne lebt, leben die Glaubenden von der Barmherzigkeit des Gottes, den sie nicht sehen können. Das ist kein distanzierter, strenger Gott, der Opfer fordert in Gestalt von getöteten Rindern und Ziegenböcken. Dieser Gott ist barmherzig, und er ist Mensch geworden in Jesus Christus.

Diesen Gott zeichnet zweierlei aus: Er ist bestimmt nicht der alte bärtige Mann, der über dem Himmelszelt wohnt und das Schicksal der Welt je nach seiner guten oder schlechten Laune bestimmt. Er bleibt vielmehr in seiner Verborgenheit, das ist das eine andere. Zum anderen kommt er den Menschen nahe, in Jesus Christus. An seinem Leben, seinen weisen Worten, seinen Heilungen, seiner Fürsorge für die Mitmenschen erkennen die Glaubenden, wie Gott sich für die Menschen einsetzt. Die Sonne Gottes erhellt das Leben der Menschen. Sie klärt dieses Leben auf, sie vertreibt die Dunkelheit, in der die Menschen sich bequem und warm eingenistet haben.

Die Gemeinde Gottes bildet sich erst im Licht. Das ist nicht „Gottes geliebte Gurkentruppe“, wie das anbiedernd eine Pfarrerin beim Kirchentag glaubte ausdrücken zu müssen. Es ist peinlich, auf diese Weise mit der eigenen Unzulänglichkeit zu kokettieren. Die Textpassage aus dem 1.Petrusbrief führt in eine andere, schönere und elegantere Bilderwelt, so kompliziert sie auf den ersten Blick zusammengestellt sein mag.

Glaubende gewinnen eine besondere Kraft, die ihnen hilft, mit dem ewigen Opfern aufzuhören. In Gottes Licht leben Menschen aus der Fülle, aus dem Staunen und aus dem Teilen, nicht aus dem Verzicht, dem Zwang und der Demütigung. Diese Kraft schöpfen sie aus dem Blick auf Jesus Christus, denn sein Handeln und Reden wird transparent für die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Menschen. Es gilt, dieses Licht Gottes, das auf die gesamte Welt fällt, sichtbar zu machen, so daß jeder es sehen kann.

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Ein Kommentar zu “Milch und Licht

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Der komplexe und etwas verworrene Predigttext ist für alle Prediger wohl ein Problem. Pfarrer Dr Vögele aber löst diese Aufgabe sehr geschickt , indem er den Text nach den vier Stichworten und Unter-Themen gliedert und predigt: Steine, Milch, Kreuz und Licht. Dadurch wird es eine ansprechende und ermutigende Predigt. Mein Vikars -Leiter in Petri- Hamburg , Pastor Dr von Schlippe hat immer als Kriterioum für jede Predigt gesagt. Entscheidend ist, ob der Hörer mit positivem Gefühl aus der Kirche geht. Und der Schriftsteller Jostein Gaarder mit der Erfolgs-Philosophie-Geschichte Sofies Welt sagt ähnlich heute: Ich habe heute beschlossen, trotzdem ein Optimist zu bleiben.

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