“Wo warst du, Gott?”
Abschied vom lieben Gott?
Predigttext: Hiob 23,1-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
1 Hiob antwortete und sprach:
2 Auch heute lehnt sich meine Klage auf; seine Hand drückt schwer, dass ich seufzen muss.
3 Ach, dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seiner Stätte kommen könnte!
4 So würde ich ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen
5 und erfahren die Reden, die er mir antworten, und vernehmen, was er mir sagen würde.
6 Würde er mit großer Macht mit mir rechten? Nein, er selbst würde achthaben auf mich.
7 Dort würde ein Redlicher mit ihm rechten, und für immer würde ich entrinnen meinem Richter!
8 Aber gehe ich nach Osten, so ist er nicht da; gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht.
9 Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht.
10 Er aber kennt meinen Weg gut. Er prüfe mich, so will ich befunden werden wie das Gold.
11 Denn ich hielt meinen Fuß auf seiner Bahn und bewahrte seinen Weg und wich nicht ab
12 und übertrat nicht das Gebot seiner Lippen und bewahrte die Reden seines Mundes bei mir.
13 Doch er hat´s beschlossen, wer will ihm wehren? Und er macht´s wie er will.
14 Ja, er wird vollenden, wie´s mir bestimmt ist, und er hat noch mehr derart im Sinn.
15 Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht, und wenn ich darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm.
16 Gott ist´s, der mein Herz mutlos gemacht, und der Allmächtige, der mich erschreckt hat;
17 denn nicht der Finsternis wegen muss ich schweigen, und nicht, weil Dunkel mein Angesicht deckt.
Zur Predigt
Der 01. September als Antikriegstag wird literarisch aufgenommen und unter dem Stichwort Gottesbild mit dem Predigttext Hiob 23 in Verbindung gebracht. Als literarisches Beispiel dient das Drama „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert.
Lieder
"Es mag sein, dass alles fällt" (EG 378)
"Herr, du hast mich angerührt" (EG 383)
"Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr" (EG 382)
Gedenken
Heute am 1. September begehen wir den Antikriegstag. Vor 80 Jahre begann der zweite Weltkrieg. Ausgelöst wurde er durch den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Als Rechtfertigung diente eine Lüge. Der Reichsrundfunk übertrug die Rede Adolf Hitlers vor dem Reichstag in der Berliner Krolloper. „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“ Doch der Angriff war nicht von polnischen, sondern von deutschen Streitkräften ausgegangen. Am 28. September kapitulierte Warschau. Die deutsche Propaganda feierte den „Blitzkrieg“ gegen Polen. Tatsächlich begann ein jahrelanger Vernichtungsfeldzug durch Europa. Am Ende stand eine unvorstellbar hohe Zahl: 80 Millionen Tote. Umgebracht in Schützengräben, ermordet in KZs, auf Todesmärschen, in den eigenen Häusern und wo auch immer. Die am Ende in allen Kriegsgebieten Überlebenden sind schwer traumatisiert. Frauen, Männer und nicht zuletzt unzählige Kinder. Verletzt an Leib und Seele, spürbar bis in die heutige Generation hinein. Kriegskinder und ihre Enkel. Die Erben der vergessenen Generation.
Wo warst du, lieber Gott?
Gott mit uns? Einer, der als Wehrmachtssoldat diese Worte auf seinem Koppelschloss trägt, ist der Autor Wolfgang Borchert. Er ist 18 Jahre alt, als der Krieg beginnt und 24, als er krank und verstört aus dem Krieg zurückkommt. Er wird Schriftsteller. Seine Erfahrungen aus dem Krieg verarbeitet er in der Figur Beckmann, einen jungen Kriegsheimkehrer, der, nachdem er „tausend Nächte in der Kälte gewartet hatte“, endlich nach Hause kommt. Er hat ein steifes Bein, aber er hat überlebt. Doch wofür? Schuldgefühle quälen ihn, Die Toten aus dem Krieg lassen ihm keine Ruhe. Bei seiner Ankunft stellt er fest: Es ist nichts mehr wie es war. Seine kleine Familie gibt es nicht mehr. Seiner Frau ist er fremd geworden. Sein Kind hat er nie kennengelernt. Erschüttert stellt er fest: Für ihn ist kein Zuhause mehr da. Vielen Heimkehrern so geht wie ihm. Er ist einer von denen, die feststellen müssen, ihr Zuhause ist jetzt „draußen vor der Tür“. Er findet sich nicht mehr zurecht. Welchen Sinn hat dieses Leben noch?
Tun und Ergehen
„Auch heute lehnt sich meine Klage auf, seine Hand drückt schwer, dass ich seufzen muss“ (Hiob 23,2). Einen Mensch namens Hiob ächzt unter der Last seines Schicksals. Er war fromm und rechtschaffen. Einst ging es ihm sehr gut er war gesegnet mit allem. Bis eine Welle von Katastrophen über ihn hereinbrach. Seine Familie starb, er wurde krank, er verlor seinen gesamten Besitz. Am Ende liegt sein Leben in Schutt und Asche. Sein Unglück ist mit der Hiobsbotschaft sprichwörtlich geworden. Doch was hat er sich zuschulden kommen lassen? Diese Frage stellt sich ihm sofort. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil. Er ist davon überzeugt, dass er dieses – sein Unglück nicht verdient hat. Dass ihn dieses Unglück ohne Schuld treffen kann, liegt außerhalb dessen, was Hiob denken kann. Er weiß: Wer sich an Gottes Weisung hält, dem geht es gut. So denken auch seine Freunde, die ihn in dieser schweren Zeit besuchen. Als sie Hiobs Unglück sehen, ist für sie ist klar: Wem es so schlecht geht wie Hiob, der ist selbst schuld. Hiob muss etwas auf dem Kerbholz haben. Sie versuchen Hiob klarzumachen, dass kein Mensch ohne Schuld ist. Sie versuchen ihn dazu zu bewegen, seine Schuld vor Gott einzugestehen und ihn um Vergebung zu bitten. Doch je mehr sie ihn dazu drängen, nach Schuld zu suchen, desto mehr beharrt Hiob auf seiner Unschuld.
Mich kann man auf die Goldwaage legen, so rein bin ich, davon ist Hiob überzeugt. Er beginnt Gott anzuklagen. Er protestiert. Warum trifft es mich, Gott? Ich habe nichts Unrechtes getan! Warum strafst du mich? Diese Fragen möchte er nur zu gern stellen. Gott ist Richter, aber zugleich Anwalt Hiobs. Er fürchtet ihn als Richter und zugleich rechnet er mit Gottes Beistand. Gott selbst wird achthaben auf mich, so vertraut Hiob, er kennt meinen Weg gut. „Ach, dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seiner Stätte kommen könnte!“ seufzt er. Dort, wo Gott wohnt, werde er schon Antworten bekommen auf seine Frage und hören, was Gott ihm zu sagen hat. Doch Hiob kann Gott nicht finden. Weder im Osten noch im Westen- auch im Norden und Süden nicht. Er bekommt ihn einfach nicht zu fassen.
Leid in der Welt
Welchen Sinn hat das Leiden Unschuldiger? Warum gibt es so viel Leid auf der Welt? Kann man noch an einen allmächtigen, gütigen Gott glauben – nach Hiob? Nach dem Zweiten Weltkrieg? Nach Auschwitz? Nach dem 11. September, nach Enschede, nach dem plötzlichen Kindstod, nach … was auch immer Sie erlebt haben, die Sie heute hier im Gottesdienst sind. Wo warst du, Gott? Kann man noch an Gott glauben nach …? Fragen Sie (sich) selbst. Ist ihr Glaube nach einem Schicksalsschlag gestorben? Oder hat er sich verändert? Welches Bild haben Sie heute von Gott? Hat Ihr Blick sich verändert – auf ihr Leben, auf die Menschen, denen sie begegnen, auf die Welt? Und was ist mit Ihnen selbst? Wie haben Sie sich verändert nach …? Was ist heute anders als damals?
Hiob dagegen hält an Gott fest, indem er mit ihm rechtet. Er ringt, er kämpft mit ihm. Er protestiert, er klagt ihn an. Mit Gott gegen Gott. Doch am Ende muss er eingestehen, dass dieser für ihn unverfügbar bleibt. Er kann ihn nicht einfach aufsuchen. Niemand kann Gottes Willen beeinflussen. Er muss Gottes Freiheit, seine Souveränität anerkennen. „Er macht´s wie er will“ resümiert Hiob. „Er hat´s beschlossen, wer will ihm wehren?“ (Hiob 23,13) Hiob erschrickt: Wie wenig hatte er bisher von Gott erkannt! Er fürchtet sich vor diesem Gott, der für ihn im Dunkeln, der für ihn verborgen bleibt. Sein eigenes Schicksal bleibt für ihn undurchschaubar.
Abschied vom lieben Gott?
Draußen vor der Tür. Kann der Glaube da Halt geben? Ist Gott dort jemand, der Antwort gibt? In dem Drama von Wolfgang Borchert ist aus dem allmächtigen Gott ist ein hilfloser alter Mann geworden. Einer, der vor dem Tod kapituliert hat. Einer, der um seine Kinder weint und selbst nichts ausrichten kann. Ein hilfloser Gott. Einer, an den keiner mehr glaubt.
Als der Kriegsheimkehrer Beckmann auf der Straße liegt, nicht mehr leben, nicht einmal mehr aufstehen mag, trifft er auf diesen Gott. Beckmann fragt ihn, wer den lieben Gott eigentlich „lieb“ genannt hat. Er vermutet, das können nur die Satten und Zufriedenen gewesen sein. Oder die, die Angst vor Gott haben. Er stellt Gott, den alten Mann, zur Rede. „Wo warst du eigentlich, als die Bomben brüllten, lieber Gott? Oh, wir haben dich gesucht, Gott, in jeder Ruine, in jedem Granattrichter, in jeder Nacht. Wir haben dich gerufen, Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht! Wo warst du da, lieber Gott? Wo bist du heute (…)? Hast du dich von uns gewandt? Hast du dich ganz in deine schönen alten Kirchenmauern eingemauert, Gott? Hörst du unser Geschrei nicht durch die zerklirrten Fenster, Gott? Wo bist du?“
Gottes Freiheit
Als Gott ihm, Hiob, endlich antwortet, ganz anders als erwartet aus dem Wettersturm, weist er Hiob schon mit wenigen Worten in die Schranken. „Wer ist´s, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand?“ Er macht ihm deutlich, wie vermessen es ist, seinen Ratschluss ergründen zu wollen. Gottes Gedanken sind nicht berechenbar. Sie müssen für den Menschen nicht durchschaubar, nicht vorhersehbar sein, wie Hiob und seine Freunde gedacht haben. „Hast du einen Arm wie Gott und kannst du mit gleicher Stimme donnern wie er?“ (Hiob 40,9) Zugleich begreift Hiob, dass es einen Gott gibt, der in seiner Güte sichtbar ist. Es ist der Gott, der in der Schöpfung erfahrbar ist. Der Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Der jeden Morgen die Sonne aufgehen lässt. Gerade weil das eigene Schicksal nicht zu verstehen ist, vertraut Hiob diesem Gott der Schöpfung.
Zukunft und Hoffnung
Welchen Sinn hat das Leiden? Wolfgang Borchert stirbt einen Tag vor der Uraufführung seines Theaterstückes „Draußen vor der Tür“. Das Resümee der Presse nach der Premiere lautete: „Selten hat ein Theaterstück die Zuschauer so erschüttert.“ Nie wieder Krieg! Gegen das Vergessen und Verdrängen setzt sich diese Botschaft fort bis heute am 01. September 2019. Sie hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Für Hiob gibt es am Ende ein Happy End. Für den Dichter des Hiobbuches war es wichtig zu zeigen, wie sich dieser fromme Mensch am Ende in seinem Glauben bewährt hat. Gott schenkt ihm von allem, was er hatte, doppelt so viel.
Hiob ist am Ende nicht mehr der Alte. Die Erfahrung tiefen Leids hat ihn verändert. Nichts ist mehr wie vorher. Er hat überlebt, hat schwerste Schicksalsschläge überstanden. Hat sein Leiden im Rückblick wenigstens einen Sinn gehabt? Man müsste ihn selbst fragen. Auf jeden Fall hat er erfahren, dass Gott auch dann noch da ist, wenn er ihn nicht spürt. Dass Gott ihn zwar nicht vor allem Unglück, aber im Unglück bewahrt hat. Vielleicht ist es diese Erfahrung mit Gott, die ihn – nach langem Leiden – wieder leben ließ. Er lebt noch 140 Jahre, zweimal siebzig, d.h. er bekommt am Ende ein zweites Leben geschenkt. Er stirbt alt und lebenssatt.
Danke für die Predigt. Schön, dass über aktuellem Anlass und “Draußen vor der Tür” der Bibeltext nicht verloren ging.
Beim unlösbaren Thema Theodizee erinnert Pastorin Frerichs zuerst an die achtig Millionen Toten beim letzten Weltkrieg und die seelischen Nachwirkungen bis heute. Dann steigt sie in das eigentliche Thema ein mit dem Buch von W.Borchert Draußen vor der Tür. Auch der Gottesanhänger Hiob versteht sein Schicksal nicht.Ein Tsunami von Katastrophen brach ja über ihn und seine Familie hinein. Er ist sich keiner Schuld bewußt. Nach dem AT-Grundgedanken nach Prof Klaus HH der schicksalswirkenden Tatsphäre , dem Tun Ergehen Zusammenhang ist er schuldlos. Das sagt er auch den drei Freunden, die ihn auf Schuld festnageln wollen. Er weiß ja nichts vom der Glaubenswette Gottes mit dem Satan. – Die bleibende Frage ist: warum gibt es soviel unschuldiges Leid ? Was ändert sich am Glauben nach Schicksalsschlägen ? Hiob hält an Gott fest. Er besteht den Glaubenstest, auch wenn Gott undurchschaubar ist. In der Schöpfung zeigt Gott immerhin seine Güte, beim Schicksal bleibt er undurchsichtig. Hiob kann am Ende getrost leben mit Gott. Wie gut, dass wir Jesus als Freund und Bruder haben !