Stehen bleiben und hinschauen …
Wohltuende Veränderungen
Predigttext: Apostelgeschichte 3,1-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
3 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. 2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. 3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. 4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! 5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. 6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, 8 er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. 9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.
Lese-Ergänzung:
E. Drewermann erzählt (Markus-Kommentar zu Mk 2):
>Es war gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, als in der medizinischen Literatur zum erstenmal ein Fall bekannt wurde, in dem eine Frau von Gelähmtheit geheilt wurde nur durch seelische Beeinflussung.
Zu dem Wiener Nervenarzt Sigmund Freud war eine Patientin gebracht worden, deren Gelähmtheit am Krankenbett ihres Vaters entstanden war. Sie hatte den todkranken Mann wochenlang gepflegt und ernährt und war an sein Bett gefesselt durch Fürsorge und Pflicht. Zur gleichen Zeit aber drängte es sie zum Leben. Erst vor kurzem hatte sie die Bekanntschaft mit einem jungen Mann gemacht, um dessen Gunst sie fürchten musste, wenn zuviel Zeit in die beginnende Beziehung sich dazwischenschieben drohte; hin- und hergerissen zwischen Verantwortungsgefühl und Wunsch, zwischen der Pflicht gegenüber ihrem Vater und, wenn man so will, der Pflicht gegenüber ihrem eigenen Leben, wurde die Frau völlig bewegungslos. Sie konnte beides nicht mehr wahrnehmen; wie wenn gleichzeitig an zwei Seiten gleich stark in gegensätzliche Richtung an ihr gezogen würde, stand ihr Leben seelisch wie körperlich völlig unbeweglich auf der Stelle, gelähmt durch einen zerreißenden inneren Widerspruch.
Es war ein langer Weg, den sie zurückzulegen hatte, ehe sie den Gebrauch der eigenen Gliedmaßen wiedererlangen konnte. Ein ganzes Bündel einander widersprechender und sich verwirrender Gefühle war in ihr freizulegen, Gefühle, derer sie sich zutiefst schämte, für die sie sich schuldig wusste, die sie am liebsten gar nicht zugelassen, geschweige denn mitgeteilt hätte.
Ein ganzes Geflecht von Selbstanklagen, Schuldgefühlen und Empfindungen der Angst und Einsamkeit lähmten sie.<
Liturgie:
Eingangsspruch
Jesus sagt: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.! Das ist das Gesetz und die Propheten. (Matthäus 7,13)
Sündenbekenntnis
Herr, wir sind manchmal wie gelähmt: Wenn uns ein Problem überfordert und wir keine Lösung erkennen.
Wenn wir nach Hilfe suchen und uns allein gelassen vorkommen.
Wenn wir den Ansprüchen andere nicht genügen können.
Wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird und wir haltlos geworden sind.
Herr, dann gib Du uns die Kraft, kleine neue Schritte zu wagen. Herr, erbarme dich!
Gnadenzuspruch
Bei Johannes heißt es: „Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.“ (1. Joh. 4,10)
Gebet
Herr, wir kommen heute zu Dir, weil wir den Zuspruch in unserem Leben suchen. Wir brauchen das ermutigende Wort, das unsere Lähmungen überwindet und uns kraftvolle Schritte ermöglicht. Du gibst uns Mut und Zuversicht. Du stärkst uns, wenn wir uns ohnmächtig und lahm fühlen.
Schriftlesung - Jesaja 29,17-24
Fürbitte
Gott, wir haben heute Morgen von einem lahmen Menschen gehört. Petrus und Johannes haben ihn angeschaut und ihm ein Ansehen gegeben. Sie haben ihn als Mensch gesehen und ihm seine Würde gegeben. Sie haben ihn aufgerichtet und sein Selbstvertrauen geweckt.
Auch wir, Gott, sind manchmal wie gelähmt und fühlen uns erstarrt und steif geworden.
- Gott, es lähmt uns, wenn wir hören, wie Kinder in ihren Familien vernachlässigt werden und nicht das von ihren Eltern bekommen, was sie brauchen, sondern verwahrlosen.
- Gott, es lähmt uns, wenn wir sehen, wie Menschen respektlos und unwürdig miteinander umgehen, sich immer wieder im Ton vergreifen und keine Achtung voreinander zeigen.
- Gott, es lähmt uns, wenn wir mit den Erkrankten leiden, die uns nahe stehen und die nicht wissen, wie es weitergeht und was morgen auf sie zukommen wird.
- Gott, es lähmt uns, wenn wir tagtäglich das Elend in der Welt mitbekommen, durch Hass und Verbohrtheit, durch religiösen Fanatismus und Rassenwahn, durch Terror und Krieg.
- Gott, es lähmt uns, wenn wir von unserem Mitmenschen nicht ernstgenommen werden und andere über uns lästern, weil sie eine Schwachstelle bei uns entdeckt haben.
Wie gut tut es uns, wenn uns jemand anschaut und zulächelt, wenn uns jemand zuhört und versteht, wenn uns jemand aufrichtet und Mut zuspricht. Dann können wir neue Schritte wagen und unsere Lähmung hinter uns lassen.
Dann können wir uns darüber freuen, wenn Menschen füreinander da sind, wo Menschen sich unterstützen, wenn Beziehungen gelingen, wo Achtung und Respekt herrscht, wenn einer dem anderen verzeiht, wo Zuspruch mehr wert ist als „Gold und Silber“.
Petrus und Johannes – zwei auf dem Weg zum Abendgebet in die Kirche. Eine Hand streckt sich ihnen auf den Stufen vor der Kirchentür entgegen. Einfach wäre es, dem Bettler eiligen Schritts einen Münze in dessen Hand zu werfen, durch die Tür zu schreiten und sich ins abendliche Gebet zu vertiefen. Guten Gewissens könnten nun Petrus und Johannes – mit der hinter ihnen ins Schloss fallenden Tür – den lahmen Bettler seinem Schicksal überlassen. Er muss draußen bleiben vor der Tür der Kirche; denn gebrechliche Menschen hatten damals drinnen nichts verloren. So trennt die Kirchentür die Lobenden von dem Leidenden. Die Starken von dem Schwachen. Um es krass zu formulieren: Drinnen weht der Hauch des Heils und draußen schreit das Elend zum Himmel.
Petrus und Johannes – zwei auf dem Weg zum Abendgebet „in die Kirche“. Sie sind auf dem Weg, Gott zu danken für ihr Leben und ihn zu loben für seine wunderbare Güte. Doch eine Hand streckt sich ihnen entgegen, unterbricht ihren Gang zur Kirche, stellt sich ihnen in den Weg. Eine ausgestreckte Hand kommt ihnen in die Quere: Kommen die beiden an diesem Menschen vorbei? Kommen wir an den Problemen unserer Welt so einfach vorbei? Das ist die große Frage. Man kann sich natürlich in den sicheren Raum der Kirche flüchten, wo man das Elend der Straße nicht mehr sieht. Man kann die Augen davor verschließen und im Gebet eine heile Welt erträumen. Doch wer immer in die Kirche will, muss über die Straße gehen. Wer Gott im Gebet in der Kirche begegnen will, muss ihn zuvor auf der Straße erkennen.
Petrus und Johannes bleiben bei dem Lahmen auf den Stufen zur Kirche stehen. Sie sehen ihn an und Petrus fordert den Lahmen auf: “Sieh uns an!” Wann hat das zuletzt jemand zu dem Lahmen gesagt? Wann zuletzt ist jemand einfach stehen geblieben und nicht schnell vorbei gehuscht? Wann zuletzt hat ihm, dem Lahmen, jemand in die Augen geschaut? In diesem Moment erhält der Lahme ein Ansehen, das er schon lange nicht mehr hat. In diesem Blick von Petrus in sein Angesicht erhält er die Würde eines Menschen zurück, die ihm längst abhanden gekommen war. Plötzlich kann der Lahme sich wieder als Mensch empfinden.
Wann immer wir uns Zeit nehmen, stehen zu bleiben und hinzuschauen, geschieht etwas Veränderndes. Der Lahme ist mit einem Male nicht mehr der Gleiche wie zuvor.
“Silber und Gold habe ich nicht!” sagt Petrus und macht deutlich, dass er ihn mit Geld nicht einfach “abspeisen” will. Da mag die Enttäuschung aus den Augen des Lahmen hervor gekrochen sein, zumal er nichts anderes erwartet hat, als ein bisschen Geld zum Leben. Doch hat der Lahme nicht schon mehr bekommen, als er erwarten konnte?! Kostbareres als “Gold und Silber”! Im Anblick des Petrus hat der Lahme seine Menschenwürde wiedergefunden. Er hat sich als Mensch erlebt, nicht als Krüppel, den die Gesellschaft nicht gebrauchen kann. Ja, als Mensch, der ein Angesicht hat, wenn auch dieses gezeichnet ist von jahrzehntelangem unmenschlichem Dasein.
Sein Gesichtsausdruck spricht Bände, seine Züge verraten seine Behinderung. Alle Verachtung, die ihm begegnet ist, hat ihn bitter gemacht. Er hat selbst schon lange nicht mehr daran geglaubt, ein Mensch zu sein. Zu viele haben ihn erniedrigt und gedemütigt. Hinter vorgehaltener Hand haben sie über ihn gespöttelt, Witze gemacht, von lebensunwertem Leben gesprochen. Das alles hat sich tief in sein Gesicht eingegraben und unweigerlich Spuren hinterlassen.
Es gibt so viele Lähmungen, auch heute:
Wer sich um seinen Ehepartner intensiv kümmern muss, weil dieser dement ist, ist gelähmt – und kann kaum mehr am normalen Leben teilnehmen.
Wer in seinen Selbstvorwürfen gefangen bleibt, weil er einmal einen Fehler begangen hat, ist gelähmt – und fühlt sich ausgeschlossen und einsam.
Wer hin- und hergerissen ist zwischen den Forderungen anderer und seiner eigenen Lebensvorstellung, ist gelähmt – und weiß nicht, wie er sich und anderen gerecht werden soll.
Es gibt so viele Lähmungen. Seelische Verkrüppelungen und körperliche Verklemmungen.
Nicht immer bleibt ein Mensch stehen – und schaut genauer hin. Schaut hin und sieht, wie er helfen kann. Ja, wie er einen lahmen Menschen aufrichten kann und ihm auf die Beine hilft.
Die an dem Lahmen vorüber gegangen sind, mögen nicht danach gefragt haben, warum er gelähmt ist. Denn so richtig angeschaut hat ihn wohl keiner. Schon als Kind hat niemand mit ihm gespielt. Was es heißt, einen Freund zu haben, kann er nicht sagen, weil ihm die Erfahrung fehlt. Für eine Ausbildung war er ungeeignet. Eine eigene Identität hat er nicht entwickeln können, weil er immer auf fremde Hilfe angewiesen war. Für einen guten Beruf war er untauglich. Ihm blieb nur das erniedrigende Betteln, um essen und leben zu können.
Aber braucht der Lahme wirklich “Silber und Gold”?! Braucht er nicht vielmehr Zuwendung anstatt “Abspeisung”! Ihm eine Münze in die Hand zu geben, ist das einfachste. Ihm aber und seiner Seele, seiner inneren Ratlosigkeit, ins Gesicht zu sehen, ist viel schwieriger. Ihm ein Angesicht zu geben, eine Würde, wieder Menschlichkeit, das ist mehr wert als alles “Gold und Silber” dieser Welt.
„Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und wandle!“ Dieses mutmachende Wort gibt dem Lahmen sein abhanden gekommenes Selbstvertrauen zurück. Beachtung und Zuwendung schenken Ansehen. Ansehen gibt Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein lässt wieder auf die Beine kommen. Wieder stehen ermöglicht erste Schritte. Mit jedem Schritt wächst der Lebensmut. Kleine Schritte lassen Ziele erreichbar werden. Weil ein mutmachendes Wort allein noch nicht gleich wirkt, ergreift Petrus den Lahmen und hilft ihm auf die Beine.
Hier wird ein Mensch aufgerichtet, der zeitlebens zu keinem aufrechten Gang fähig war. Im Namen Jesu wird dem Mann Mut zugesprochen, erhält er sein Ansehen zurück, gewinnt er an Selbstvertrauen, wagt er erste Schritte und es heißt: “Alsbald sprang er auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, wandelte und sprang und lobte Gott.”
Gelobt sei Gott, wo immer ein Mensch einen anderen aufrichtet und ihm auf die Beine hilft – und sich alle Welt über dessen Lebensschritte freut.
Sehr anschaulich erzählt Pfarrer Kurt Klein die Heilungsgeschichte und aktualisiert sie für heute. Wie oft gehen wir an Hilfsbedürftigen vorbei. Petrus beachtet den Lahmen und wendet sich ihm liebevoll im Namen Jesu zu. Es gibt so viele Lähmungen durch seelische und dann körperliche Verklemmungen bis heute. Der Lahme braucht Zuwendung und Petrus schenkt sie ihm und damit auch neues Selbstbewußtsein. Der Lahme richtet sich innerlich auf und sein Körper folgt ihm. Gelobt sei Gott, für solche heilenden Aufrichtungen. Einfach eine schöne und ermutigende Predigt , welche auch bei uns an die psychosomatiscen Verbindungen erinnert. – Pfarrer Klein verwendet auch die überzeugenden Gedanken von Eugen Drewermann. In dreißig Jahren Primaner-Reliunterricht wurden zuerst alle Heilungsgeschichten belächelt. Drewermans psychosomatisch-religiöse Auslegung war dann sehr aktuell und überzeugend. ( Deswegen habe ich einen Meter seiner Bücher-Rücken.) Noch ein Beispiel. Ein alter Mann war so verbittert, dass er nicht mehr aufstand und ging und dann gehen konnte. Nach seiner Bekehrung zu Jesus und dem Leben besserte sich sein Zustand.