Höchste Zeit
Advent - „Wann endet die Nacht ...?
Predigttext: Römer 13,8-12 (Übersetzung nach Martin Luther)
8 Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. 11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkannt habt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.
I. Advent beginnt. Es kommt Licht in die dunkle Jahreszeit, Leben kommt in die Städte und Märkte. Wir feiern Weihnachten entgegen. Man kann dem kaum entgehen; überall springt es einem förmlich ins Auge. McDonalds Weihnachts-Countdown 2019 mit täglich wechselnden Deals: 6er Nuggets für 1 Euro etc. Jeden Tag ein Türchen und eine Süßigkeit mehr im Adventskalender, jeden Tag ein Punkt weniger auf meiner Erledigungsliste. Der Countdown läuft. Ach, Weihnachten! Soll ich dich wirklich so empfangen? Jede Woche ein Kilo mehr und ein paar Nerven weniger? Ist es das? Was bin ich dem wirklich schuldig, der da kommt? Paulus sagt: Aufstehen soll ich, lieben soll ich, nichts als lieben. Im Nächsten Bruder und Schwester sehen, nichts Böses tun. Es ist höchste Zeit.
II.
„Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“, fragte einmal ein jüdischer Rabbi seine Schüler. Die Schüler dachten kurz nach; dann war die Antwort des ersten heraus: „Ist es dann, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ – „Nein“, sagte der Rabbi. „Vielleicht ist es dann, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann“, erwiderte ein anderer Schüler. Doch der Rabbi schüttelte nur stumm den Kopf. „Aber wann soll es denn sonst sein?“ fragten die Schüler ratlos. Da neigte sich der Rabbi seinen Schülern zu und gab zur Antwort: „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ (https://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&id=3034)
Als Jochen Klepper 1938 den Text zu seinem bekannten Adventslied „Die Nacht ist vorgedrungen“ schrieb, war tiefste Nacht in Deutschland. Vier Jahre später, in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 – „in diesen stillen, dunklen, trüben Tagen, so lind, so voll der Trauer der Himmel“ – ging Klepper zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter freiwillig in den Tod. „Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“ Der Antrag auf Ausreise seiner jüdischen Frau und seiner Tochter war endgültig gescheitert, Zwangsauflösung der Mischehe und Deportation standen unmittelbar bevor. Die vergangenen Jahre waren geprägt von Angst und Feindschaft, auch in der eigenen Familie. Am Ende wollte Klepper nicht in die Hände seiner Feinde fallen, sondern gab sich in Gottes Hand.
„In jeder Nacht, die mich umfängt, darf ich in deine Arme fallen, und du, der nichts als Liebe denkt, wachst über mir, wachst über allen. Du birgst mich in der Finsternis. Dein Wort bleibt noch im Tod gewiß.“ Ein Tod aus Verzweiflung, einer von vielen in einer Zeit, in der Menschen anderen Menschen Böses taten, einer lieblosen Zeit. Denn die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Jochen Klepper fiel einer Zeit zum Opfer, in der man anderen Gesetzen als Gottes Gesetz folgte. Die Dichterin Eva Strittmatter hat einmal gesagt: „Unsere süßesten Lieder sind gepresst aus unseren bittersten Jahren.“
Eines der schönsten Lieder im Advent ist für mich Kleppers Lied. In einer Welt, in der Hass auf den Straßen lärmte, stieg es leise und doch unaufhaltsam auf. „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern. Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“ Ein Lied für das Lob und gegen den Lärm und die Barbarei, Hoffnung und Trost in jedem Wort, geschrieben in der Gewissheit, dass der, der nichts als Liebe denkt, über allen wacht, auch in der finstersten Nacht. Immer wenn ich Kleppers Lied höre und die Zeit bedenke, in der er diese Worte schrieb, denke ich: Das Licht hat seine eigenen Waffen gegen die Werke der Finsternis. „Sein Wort will helle strahlen, so dunkel auch die Nacht.“
III.
Advent beginnt. „Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“ Darum geht es. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.“ Dies Wort bleibt noch im Tod gewiss. Liebe kommt in diese Welt, die so gewalttätig ringt und schreit. Darum ging es immer im Advent, so dunkel die Welt auch war. Unter dem Eindruck des Mordens und Sterbens im dreißigjährigen Krieg verfasst der Dichter Andreas Gryphius 1650 sein Werk „Leo Armenius“. In diesem Drama um Macht, Diktatoren und die Gesetze des Terrors, das sich – entkleidet man es der barocken Sprache und der historischen Szenerie – wie eine Folie für das gegenwärtige Weltgeschehen liest, benennt Gyrphius den Grund unserer adventlichen Hoffnung mit lichter Klarheit: „Der immerhelle Glanz, den Finsternis verhüllt, den Dunkel hat verborgen (…) geht plötzlich auf in schwarzer Mitternacht.“ Darauf – auf nicht mehr und nicht weniger – warte ich im Advent, warte ich hier und jetzt in unserer zerrütteten Welt. Doch wie soll dich empfangen, immerheller Glanz, heller Morgenstern?
Lieben soll ich, sagt Paulus, nichts als lieben. Im Angesicht des Nächsten den Bruder und die Schwester sehen und ihm nichts Böses tun. Der Tag ist nicht mehr ferne. Es ist höchste Zeit, aufzustehen aus dem Schlaf und die Waffen des Lichts anzulegen: Steh auf und liebe! Denn der Ungeist der Vergangenheit schleicht sich wieder in die Herzen und Köpfe. Man kann dem kaum entgehen; überall springt es einem förmlich ins Auge. Juden fühlen sich in unserem Land nicht mehr sicher, die Relativierung des Holocaust scheint fast normal zu werden, nationalsozialistisches Gedankengut macht sich wieder breit, aus Kriegsverbrechern werden Märtyrer.
In vielerlei Gestalt greifen Hass und Dunkel um sich. „Heimat“ wird mit Ausgrenzung Fremder und Andersdenkender verbunden, das lärmende Voranschreiten des Populismus drängt Demokratie, Vernunft und Humanität zurück. Wann immer das passiert, sind die Werke der Finsternis nicht fern und die Würde des Menschen wird antastbar. Nacht beginnt sich auf die Welt zu legen, die so gewalttätig ringt und schreit. Menschen tun Menschen Böses, bleiben einander Liebe schuldig, erkennen im Angesicht des Nächsten nicht Bruder oder Schwester, sondern den Feind. Damit beginnt es immer. Schleichend, subversiv dämmert das Dunkel heran, doch am Ende steht die schwärzeste Mitternacht. Am Ende stehen Menschen, die sich aus Verzweiflung das Leben nehmen im Angesicht des segnenden Christus, der um sie und um unsere Welt ringt.
IV.
Advent beginnt. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. Der Countdown läuft. „Sein Wort will helle strahlen, so dunkel auch die Nacht.“ Das ist die Verheißung jenseits von Bratwurst und Glühwein, sein Wort ist der immerhelle Glanz, der auf uns liegt selbst in schwärzester Mitternacht. Hab Mut! Wandle in diesem Glanz! Steh auf und liebe – was immer auch geschieht. Denn der, der nichts als Liebe denkt, wacht auch über dich. „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und –schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her. – Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.“
(Die Zitate von Jochen Klepper sind entnommen aus: Helmuth Reske, In seinem Wort das Glück, Neukirchen-Vluyn 2008.)