Gesang der Hirschkühe und Wildesel
Präfiguration des Unmöglichen, um das Wirkliche in Bekenntnis und Gebet sagen zu können
Predigttext: Jeremia 14,1-9 (Übersetzung nach Martin Luther)
1 Dies ist das Wort, das der HERR zu Jeremia sagte über die große Dürre:
2 Juda liegt jämmerlich da, seine Städte verschmachten. Sie sinken trauernd zu Boden, und Jerusalems Wehklage steigt empor.
3 Die Großen schicken ihre Diener nach Wasser; aber wenn sie zum Brunnen kommen, finden sie kein Wasser und bringen ihre Gefäße leer zurück. Sie sind traurig und betrübt und verhüllen ihre Häupter.
4 Die Erde ist rissig, weil es nicht regnet auf das Land. Darum sind die Ackerleute traurig und verhüllen ihre Häupter.
5 Selbst die Hirschkühe, die auf dem Felde werfen, verlassen die Jungen, weil kein Gras wächst.
6 Die Wildesel stehen auf den kahlen Höhen und schnappen nach Luft wie die Schakale; ihre Augen erlöschen, weil nichts Grünes wächst.
7 Ach, HERR, wenn unsre Sünden uns verklagen, so hilf doch um deines Namens willen! Denn unser Ungehorsam ist groß, womit wir wider dich gesündigt haben.
8 Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärst du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt?
9 Warum bist du wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann? Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!
Vorüberlegungen zum Predigttext
Jeremia setzt voraus, dass alle um die große Dürre wissen (V. 1). Homiletisch ist es reizvoll, dieses Wissen zu teilen! Die historische Konkretion halten wir offen (V. 2), aber die Erinnerungsmarker „leere Brunnen und Gefäße“, „rissige Erde und entmutigte Bauern“, „fliehende Hirschkühe“ und „verendende Wildesel“ sprechen universale und traumatische Erfahrungen an, die aus der Natur kommend Bilder für verlorenes, vertrocknetes und untergehendes Leben werden. „Juda liegt jämmerlich da, seine Städte verschmachten. Sie sinken trauernd zu Boden, und Jerusalems Wehklage steigt empor.“
Der Text verbindet „Dürre“ mit „Sünde“ (V.7) und bringt sie mit dem „Trost Israels“ in ein Korrespondenzverhältnis. Kulminierend in der großen Frage am Schluss: Warum bist du – Gott – wie einer, der verzagt ist, sprich: der selbst vertrocknet? Der Eindruck, es könne eine rhetorische Frage sein, wird im letzten Satz verweht: Du bist ja doch unter uns, Herr, und wir heißen nach deinem Namen: Verlass uns nicht! In den Fragen VV 8+9 wird „Unmögliches“ präfiguriert, um das Wirkliche im Bekenntnis und im Gebet sagen zu können. Gottes Namen sind Trost und Nothelfer – er soll (kann) sich nicht verstellen als Fremdling im Lande oder als Wanderer, der nur über Nacht bleibt. Der Text lebt von starken Bildern und Impressionen – und setzt sie frei.
Die Schnippelei, die sich der Text in der empfohlenen Versauslese gefallen muss, geht dann tatsächlich auf keine Kuhhaut. Hier darf nichts herausgeschnitten werden. Heute predigen Hirschkühe und Wildesel – grünes, saftiges Gras! Eine Predigt über den Klimawandel darf es aber auch sein!
Die große Dürre
Manchmal muss man doch tatsächlich genau zuhören! Der HERR – unser Gott – redet nicht nur mit Jeremia – was für uns denn so besonderes auch nicht ist -, aber er erzählt von jämmerlichen Orten, versiegten Brunnen, rissigen Böden, von Hirschkühen und Wildeseln, die nicht mehr leben können! Wie aus der Zeitung geschnitten, eine Frequenz aus der Tagesschau. Hat Jeremia das nicht gewusst? Hat er es übersehen? Hat ihm das womöglich noch niemand gesagt? Jedenfalls: Jetzt hat er Gott am Hals. Und der redet! Mir gefällt es ungemein gut, dass ich heute über Hirschkühe und Wildesel predigen darf. Und nicht nur über sie. Es gibt Tiere – und Pflanzen, um sie nicht zu vergessen – die bei großer Trockenheit und Dürre elend zugrunde gehen.
14. Januar 2020, 10:44 Uhr -Dürre: Tausende Kamele in Australien abgeschossen – So die Süddeutsche Zeitung. Lesen wir einmal:
„Scharfschützen haben in Australien Tausende wilde Kamele gekeult. Auf der Suche nach Wasser waren die Kamele im Bundesstaat South Australia in Ortschaften eingedrungen, hatten die Bewohner gefährdet und das ohnehin knappe Wasser verschmutzt…
Die verheerenden Buschbrände, die seit Monaten in Australien wüten, haben nicht direkt etwas damit zu tun, dass sich Menschen und Kamele zurzeit gefährlich nahe kommen. Wohl aber die seit Jahren anhaltende Dürre in dem Land. Die Trockenheit ist in manchen Regionen derart extrem, dass selbst die Kamele kurz vor dem Verdursten sind. In ihrer Verzweiflung dringen sie in Ortschaften ein, weil sie dort Wasser wittern. Die Tiere merken, dass aus Klimageräten Kondenswasser austritt und zerstören die Anlagen beim Versuch zu trinken. Sie werfen Wassertanks um und leeren die wenigen Wasserstellen, die auch für Menschen und andere Tiere überlebensnotwendig sind. Dazu kommt, dass Kadaver verdursteter Tiere in und an den Wasserstellen liegen, es verschmutzen und so die Trinkwasserversorgung der Menschen gefährden….“ usw. usw. https://www.sueddeutsche.de/wissen/australien-invasive-arten-kamele-1.4754648
Wilde Kamele, wilde Esel. Sie sind die ersten Opfer, auch die ersten Opfer der Klimakatastrophe. Genau genommen: gehören nicht auch die Brände dazu, die seit Tagen, seit Wochen in Australien wüten? Häuser, Lebensräume – vernichtet. Dazwischen Milliarden von Tieren. Kängurus, Koalas – und nicht zu zählen die vielen kleinen Lebewesen. Und nicht nur in Australien!
Man sieht förmlich, wie sich die Erde wehrt. Sagen kann sie nichts. Und wenn sie das könnte – der Schlaumeier Mensch würde nicht hören. Er erklärt alles, er erklärt auch alles falsch. Einseitig. Profitorientiert. Und manchmal so ausgewogen, dass nichts mehr auszuwiegen ist. Ein Glücksfall, dass uns heute Hirschkühe und Wildesel begegnen. Wenigstens sie. Sie haben unendlich viel zu erzählen! Dass sie Künstler im Überleben sind, wussten Sie schon? Dass sie in karger Landschaft immer noch etwas finden? Dass sie bescheiden sind und nur wenig brauchen? Aber wenn es kein Gras mehr gibt, wenn die Erde reißt, wenn sich die Dürre ausbreitet, dann sind sie am Ende. Die Hirschkuh muss ihr Junges verlassen und es dem Tod überlassen. Der Wildesel verendet einfach. Irgendwo. Ein Opfer, um das kein Mensch weint.
Und Gott redet mit Jeremia! Über eine Dürre!
Versiegtes Leben
Es sind gewaltige Bilder. Bilder von versiegtem, versiegendem Leben. Es fallen die Worte „jämmerlich“ und – mehrfach – „traurig“. Wir sehen ratlose Menschen. Menschen, die ihre Köpfe hängen lassen. Menschen, die sich zurückziehen. Die sich verhüllen. Das Internet sammelt fast schon grenzenlose Bildergalerien von zerrissener, vertrockneter Erde – und von Menschen, die dem Unheil zu entkommen suchen. Das Internet überbietet sich förmlich mit Bildern trauriger und sprachloser Menschen, aber auch mit Bildern von Wut und Verzweiflung. Weltweit sind, vor allem Frauen, lange unterwegs, um Wasser zu schöpfen und auf ihren Köpfen nach Hause zu schleppen. Die meisten von ihnen, in ihren farbenprächtigen Gewändern, sehen nicht unglücklich aus – doch tauschen möchten wir mit ihnen nicht. Was können wir überhaupt sehen? Was verstehen?
Es sind gewaltige Bilder. In dem kleinen Wort „gewaltig“ versteckt sich auch das größere Wort „Gewalt“. Jeremia berichtet, Jeremia erzählt. Er lässt eine Situation sichtbar werden und beschreibt sie – sozusagen mit den Worten Gottes. Das verleiht seinen Worten nicht nur Autorität, sondern auch Wärme und Anteilnahme.
Im Internet gibt es so viele Bilder von Menschen, die mit ihren Hoffnungen am Ende sind. Wir sehen, fast schon zeitgleich, über tausende von Kilometern, in Gesichter, die leer und stumpf geworden sind. Wie die Erde, auf der sie ihr Leben fristen. Die Namen kennen wir nicht. Es sind flüchtige Eindrücke. Angeklickt. Weggeklickt.
Im Internet – es macht die Welt so klein, dass sie auf einen Monitor passt – gibt es so viele Bilder von Menschen, die auf der Flucht sind vor Hunger, Krieg und Terror, die um ihr nacktes Leben kämpfen, die unter Umständen Jahre, Jahrzehnte in Lagern hausen. Nicht einmal die kleine Geschichte kennt Erbarmen, nicht einmal die Lebensgeschichte. Dass auch Menschen verdorren, vertrocknen und nur noch als Hüllen existieren – wir haben es eigentlich immer schon gewusst.
Gott muss mit uns reden! Über die Dürre!
Juda liegt jämmerlich da
Jeremia freut sich! Er freut sich, dass wir ihm zuhören! Nach so langer Zeit! Keineswegs selbstverständlich, auch noch die alten Geschichten hervorzukramen! Alte Geschichten? Ich weiß nicht. Juda taucht unversehens aus versunkener Zeit auf.
„Juda liegt jämmerlich da, seine Städte verschmachten. Sie sinken trauernd zu Boden, und Jerusalems Wehklage steigt empor.“
Erzählt Jeremia das? Ist es seine Erinnerung? Beobachtet er alles aus sicherer Distanz? Wie weit wohl die Entfernung ist zwischen dem, was geschehen ist und was jetzt beschrieben werden soll! Die Einzelheiten fallen kaum noch ins Gewicht. Etwas für Historiker! Merkwürdigerweise, vielleicht sogar ein wenig verwegen, ist es aber gar nicht Jeremia, der aus einer großen Geschichte einen kleinen Satz formt: Es ist Gott, der Juda sieht und Jerusalem zuhört! Achten wir einmal auf die Worte, die Gott selbst findet: „Jämmerlich“. „Schmachten“. „Trauern“. „Wehklagen“. Ist Gott Chronist? Zeitgenosse? Interpret? ER sieht die Menschen, ER hört ihnen zu, ER gibt ihnen ein Gesicht, ihr Gesicht!
Hören wir diese Zeile einmal anders – und dann doch wieder gar nicht so anders:
„Idlib liegt jämmerlich da, seine Städte verschmachten. Sie sinken trauernd zu Boden, und Idlibs Wehklage steigt empor.“
In und um Idlib tobt seit Jahren ein Krieg. Unzählige Menschen sind umgekommen, auf der Flucht, in einer ausweglosen Situation. Dürre noch einmal anders. Die Bilder sind kaum auszuhalten. Und ich kenne nicht einmal den Namen eines einzigen Menschen, der da durch die Hölle muss! Zahlen über Zahlen lassen sich veröffentlichen, hin- und her rechnen – aber zwischen ihnen gibt es keine Wahrheit. Wieder: Dürre. Nochmals: Dürre.
Dabei sehen wir – selbst hilflos – zu, wie Menschen zu Spielbällen gemacht werden, zu Figuren auf den Schachbrettern der Mächtigen. Zu diesem Zweck müssen sie sogar gefangen gehalten werden. In Europa wird Angst vor ihnen geschürt. Bitter ist die Einsicht, dass nicht nur ein menschliches Leben wertlos sein kann – wir reden von Tausenden, Hundertausenden. „Jämmerlich“. „Schmachten“. „Trauern“. „Wehklagen“.
Jeremia freut sich! Jeremia freut sich, dass Gott sich die Welt, die Menschen, ja sogar die Hirschkühe und Wildesel anschaut. Was Jeremia bislang auch nur beschweigen – oder beschwichtigen – konnte, wird – sagen wir es so – zur Chefsache. Jeremia, der sonst um kein Wort verlegen war. Jeremia, der sich mit dem König anlegte. Jeremia, der in ein Wasserloch geworfen wurde, um dort elendiglich zu verrecken. Er hört – das Evangelium!
Vor Gericht
Zu den schönsten, treffendsten Zügen dieser Geschichte gehört, dass Jeremia die Rolle tauschen kann. Tauschen muss! Als Hörender wird er zu einem Bittenden. Als Verstehender wird er zu einem Fürsprecher. Als Vertrauter wird er zu einem Freund.
Jeremia sieht klar menschliche Schuld. Gott gegenüber, aber eben nicht nur: Wenn sein Gebot der Liebe nicht mehr gilt, gehen Menschen über Leichen. Wenn sein Gebot der Liebe nicht mehr gilt, wird aus der großzügigen Ordnung Gottes menschengemachte Hölle. Wenn sein Gebot der Liebe nicht mehr gilt, gibt es am Ende immer nur Fremde – und immer nur Feinde. Also: Dürre! Die Dürre wächst! Die Dürre breitet sich aus! Die Arithmetik ist bezwingend einfach, fast so wie eine mathematische Formel. Ich mache es mir zu einfach, sagen Sie? Sie mögen Recht haben. Aber ist es nicht wirklich so ein-fach? Jeremia bittet: „Ach, HERR, wenn unsre Sünden uns verklagen, so hilf doch um deines Namens willen! Denn unser Ungehorsam ist groß, womit wir wider dich gesündigt haben“. Gegen dich. Gegen uns.
Jeremia ahnt nicht nur, wie entsetzlich Schuldverstrickungen sind, besonders die, die nicht einmal als solche erkannt, schon gar nicht anerkannt sind. Er schlüpft in die Rolle eines Anwaltes, eines Fürsprechers. Es ist, als ob er sich in einem Gericht sieht, in dem die Wahrheit ermittelt werden soll. Ein Schuldspruch? Ein Urteil? Ein letztes Urteil? Ohne Rechtsmittel? Jeremia findet seine Paraderolle. Als Verteidiger. Es sprudelt nur so aus ihm heraus. Und ist doch druckreif!
„Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärst du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt? Warum bist du wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann? Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!“
Was macht Jeremia? Er verteidigt uns! Gegen besseres Wissen, gegen gutes Gewissen? Nein, er nimmt Gott beim Wort. Er, der alles sieht, der alles hört, was Landschaften, Orte und Menschen traurig macht, der alles ungeschönt wahrnimmt und „jämmerlich“ nennt, was Menschen sich vielleicht sogar noch schönreden, der selbst Hirschkühen und Wildeseln eine Stimme gibt – er soll doch nicht von uns lassen! Uns nicht alleine lassen! Uns nicht fallen lassen! Die Vorstellung, er könne sich wie ein Flüchtling geben, der sich aus allem heraushalten muss, er könne sich wie ein Übernachtungsgast morgen schon vom Acker machen, ist so beängstigend, dass Jeremia ihn so nennt, wie er sich genannt hat: Trost Israels! Und: „Wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!“
Unvermutet entpuppt sich Jeremia in seinem Plädoyer vor diesem imaginären Gericht, in dem es um Tod und Leben geht, als großer Theologe! Wie heißt Gott? Nein, wie hat er sich genannt? Nein nein, wie möchte er genannt werden? Ich bin der, der mit dir geht. Ich werde sein, der immer mit dir geht. Ich war der, der mit dir gegangen ist. Schade, den Charme, den die hebräische Sprache hat, bekommen wir kaum ins Deutsche. Aber da Gott nicht nur hebräisch spricht, sagt er uns: Ich habe euch lieb. Ich verlasse euch nicht. Oder wie das bei Verliebten immer noch heißt: Ich bin zusammen mit – und dann muss nur noch ein Name eingesetzt werden. Und da packt Jeremia Gott! „Wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!“
Gesang der Hirschkühe und Wildesel
Und wenn er bei uns bleibt? Uns nicht verlässt? Wie Gott auf das großartige Plädoyer des Jeremia reagiert hat, wissen wir nicht. Zugegeben: ich bin enttäuscht. Wo ich doch alles wissen, alles verstehen will. Doch was kann ich wissen, was kann ich verstehen? Vielleicht mit den Augen Gottes?
Juda und Idlib blühen wieder auf. Jerusalem ist keine geteilte Stadt mehr. Kinder lachen. Es werden Lieder gesungen.
Die Wasserversorgung ist gut. Niemand muss sich um sie streiten. Auf der Erde grünt und blüht es. Gute Ernten werden eingefahren. Niemand hungert mehr. Selbst die Hirschkühe fangen zu singen an und die Wildesel locken Menschen an, um ihnen die Schönheit der Welt zu zeigen. Manchmal muss man doch tatsächlich genau zuhören!
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinn in Christus,unserem Herrn.