Österlicher Blick
Jesus von Nazareth öffnet die engen Daseinsnischen des Alltags
Predigttext: Lukas 18, 31-43 (Übersetzung Elberfelder Bibel)
Er nahm aber die Zwölf zu sich und sprach zu ihnen: Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was durch die Propheten auf den Sohn des Menschen hin geschrieben ist; denn er wird den Nationen überliefert werden und wird verspottet und geschmäht und angespien werden; und wenn sie ihn gegeißelt haben, werden sie ihn töten, und am dritten Tag wird er auferstehen. Und sie verstanden nichts von diesen Worten, und diese Rede war vor ihnen verborgen, und sie begriffen das Gesagte nicht.
Es geschah aber, als er sich Jericho näherte, saß ein Blinder bettelnd am Weg. Und als er eine Volksmenge vorbeiziehen hörte, erkundigte er sich, was das sei. Sie verkündeten ihm aber, dass Jesus, der Nazoräer, vorübergehe. Und er rief und sprach: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und die Vorangehenden bedrohten ihn, dass er schweigen sollte; er aber schrie umso mehr: Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und befahl, dass er zu ihm gebracht werde. Als er sich aber näherte, fragte er ihn: Was willst du, dass ich dir tun soll? Er aber sprach: Herr, dass ich sehend werde! Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dich geheilt. Und sofort wurde er sehend, folgte ihm nach und verherrlichte Gott. Und das ganze Volk, das es sah, gab Gott Lob.
Exegetische Skizze
Beide Teile des Textes weisen im dritten Evangelium im Vergleich zu Mt und Mk einige Besonderheiten auf. Für die Leidensankündigung ist das vor allem der Hinweis auf die Propheten. Er taucht bei Lk auch in den Geschichten auf, die von Begegnungen mit dem Auferstandenen erzählen (vgl. 24, 25ff; 44ff). Bei der Heilung des Blinden stellt das dreimalige Verb anablepein (aufschauen, frei aufsehen) eine lukanische Besonderheit dar. Mithilfe von Verben mit der Vorsilbe ana- (auf, hinauf) charakterisiert Lk auch sonst gerne, was Menschen von der befreienden Ankunft des Reiches Gottes erwarten dürfen (vgl. 19, 11; 22, 28). Man beachte, dass auch das griechische Wort für „auferstehen“ diese Vorsilbe trägt. Dem freien Aufschauen entsprechen als Kontrast die „gehaltenen Augen“ der Emmausjünger in 24, 16. Es geht darum, dass sich Augen zu einem österlich belichteten Blick auftun. Wo er aufdämmert, beginnt der Glaube, der rettet.
Dieser Glaube stützt sich auf die Propheten, etwa die Visionen von Jes 29, 18ff und 35, 5ff. Sie bringen etwas von dem allerersten Blick zurück, von dem in der Bibel berichtet wird, nämlich wie Gott am Anfang auf seine Schöpfung geschaut hat (Gen 1, 4+31). Der Glaube lässt den blinden Mann einer Umwelt trotzen, die ihn „bedroht“ (so wörtlich im griechischen Text), er solle Ruhe geben. So wie sie ihn anherrschen, muss es ihn, dem nichts anderes übrigbleibt als zu betteln und zu rufen, bis in Mark und Bein treffen, so als ob er körperlich von giftigen Pfeilen getroffen würde – also existenzbedrohlich. Er trotzt einer Welt, in der der Tod bereits das Sagen unter uns hat, auch wenn er für einen persönlich noch gar nicht eingetreten ist.
Dass damit nicht bloß eine „Musik zum Träumen“ eingespielt wird, zeigt die Leidensankündigung vom Menschensohn. Auch sie stützt sich auf die Propheten. Den harten Kern der befreienden Botschaft bildet es, wie Gott und der Tod im Menschensohn Jesus von Nazareth aneinandergeraten sind.
Spiegelungen
Als sich die Augen des blinden Mannes am Straßenrand vor Jericho öffneten, da sah er, obwohl er längst erwachsen, ja von einem harten Schicksal gezeichnet war, wie aus Kinderaugen. Und die, die dabei waren, werden sich in seinen Augen sehen. Es spiegelt sich, was sich in Kinderaugen so alles spiegeln kann. Dreimal verwendet das Evangelium ein besonderes Wort, um von diesem Sehen zu erzählen. Man könnte es mit ´frei aufschauen` wiedergeben. Es ist, als ob Fesseln von dem Mann gelöst würden, die ihn bis dahin in eine enge Daseinsnische gezwängt und dort niedergehalten haben. Er sieht nicht einfach nur so, wie man routinemäßig im Alltag schaut. Er sieht mit einem österlich belichteten Blick. Und denen, die alles als Zuschauer mit angesehen haben, wird kaum entgangen sein, wie sich in seinen Augen eine österliche Belichtung spiegelte. Darum endet die Geschichte damit, dass alle zusammen überschwänglich Gott verherrlichen und loben.
Freilich: dazu mussten sich nicht nur die Augen des blinden Mannes auftun. Auch der Zuschauerblick derer, die dabei waren, musste gründlich gewendet werden. Hatten sie nicht kurz vorher noch den rufenden Blinden bedroht, er solle ruhig sein und mit seinem Geschrei aufhören? Nun, sie werden ihn wohl barsch und unfreundlich angefahren haben. Aber schon damit beschämen sie ihn vor allen Leuten. Ihm blieb damals als Blindem gar nichts anderes übrig als zu betteln. Nur so konnte er seine Existenz halbwegs bestreiten. Auch muss er ja um Hilfe rufen, um auf sich aufmerksam zu machen. Darum muss es ihn bis in Mark und Bein hinein treffen, wie sie ihn da anfahren und ihm zu verstehen geben: Du störst. Es muss ihn in seiner Seele treffen wie giftige Pfeile seinen Körper treffen würden.
Ausblenden?
In einer Tageszeitung fand ich einmal den Leserbrief einer Frau. Sie beschwerte sich, dass man in der Einkaufszone unserer Stadt immer wieder an Leuten vorbeikommt, die – übrigens meist ganz stumm – dasitzen und betteln. Ihr Anblick sei lästig. Tatsächlich erinnert einen dieser Anblick an manche Schattenseiten des Lebens. Doch was hilft da eine künstlich gesäuberte heile Welt, außer dass man für den Moment seine Ruhe und keinen inneren Stress hat? Erledigt ist in ihr auf Dauer jeder Blick, der wie aus Kinderaugen sehen kann. Von einem Blick, der österlich belichtet wäre, ganz zu schweigen.
Doch nun hatte der blinde Mann von Jesus von Nazareth gehört. Die Kunde von dessen Botschaft und Wirken hatte sich ja inzwischen längst im Land verbreitet. Deswegen gibt er jetzt nicht einfach Ruhe. Auf das hin, was er von Jesus gehört hat, kann er sich jetzt einfach nicht mehr zurückdrängen lassen in seine Daseinsnische, in der er zwar überlebt, aber kaum sehr viel mehr als das.
Im Grunde, so vermute ich, wollen auch die, die ihn bedrohen, nichts anderes, wenn auch auf einem deutlich höheren Niveau als er. Auch sie suchen für sich einfach nur möglichst ungestörte Nischen, in denen ihnen die Schattenseiten des Lebens nicht auch noch an einem besonderen Tag wie diesem auf die Pelle rücken. Ihre Augen sind organisch gesund. Aber sie sind auf ihre Weise sehbehindert. Dass man in seinen jeweiligen Überlebensnischen halbwegs überlebt und einander dabei nicht in die Quere kommt, das scheint ihnen als Vorstellung von einem gemeinsamen Leben zu reichen. Hoffnungen darüber hinaus hegen sie nicht. Ansprüche darüber hinaus werden ihnen zur Last.
Licht der Auferstehung
Mir fällt eine Geschichte ein, die im Lukasevangelium nur wenige Kapitel später erzählt wird. Da sind zwei der Jünger Jesu unterwegs nach Hause. Jesus ist in Jerusalem gekreuzigt worden. Er hatte ihnen zwar vorher angekündigt, was in der Hauptstadt auf ihn wartet. Der Predigttext lässt uns daran teilhaben. Aber das war nicht wirklich bis zu ihnen durchgedrungen. Ihr Blick blieb so niedergehalten, dass sie Jesus nicht einmal erkennen, als er sich zu ihnen gesellt – er, den Gott zu einem von der Herrschaft des Todes befreiten Leben auferweckt hatte. „Ihre Augen waren niedergehalten, so dass sie ihn nicht erkannten“, erzählt das Lukasevangelium. Ihr Blick war wie fremdbeherrscht, wie abgerichtet auf eine Welt, in der der Tod in unserem gemeinsamen Leben schon das Sagen hat, auch wenn er für uns noch gar nicht eingetroffen ist.
Wie ein äußerster Horizont begrenzen dann zum Beispiel die Nischen, in denen man im gemeinsamen Leben bestehen kann, alle Erwartungen und Hoffnungen. Doch im Grunde haben wir uns einem ungeschriebenen Gesetz unterworfen, das uns letztlich jederzeit drohen kann. Es schreibt fest, dass unser gemeinsames Leben im Extremfall jederzeit zu einer schieren Überlebensfrage werden kann; dass es sich darauf reduzieren kann. Die Geschichte von dem Blinden in Jericho erzählt davon, dass sich dieser Extremfall hinter den Kulissen des normalen Alltags verstecken kann. Er verbirgt sich dann im Stillen in Begebenheiten, wie sie sich überall zutragen. Er steckt in ihnen steckt wie des Pudels Kern. Da ist einer, der unter dem Korsett seiner harten Daseinsnische ächzt, in der er gerade noch überleben kann. Da sind andere, die froh sind, wenn sie in den ihrigen von den Schattenseiten des Lebens halbwegs verschont bleiben.
So war es in Jericho damals. So geht es auch heute noch unter uns zu. Ich behaupte: Der Glaube, von dem Jesus dem ehemals blinden Mann sagt, er habe ihn gerettet, beginnt damit, dass er die Kraft fand, sich trotz der Bedrohung, die ihn bis in Mark und Bein hinein treffen musste, nicht davon abhalten ließ, zu schreien: „Sohn Davids, erbarme dich mein!“ Er lässt sich nicht mehr einfach zurückdrängen in die ihm zugewachsene Überlebensnische. Entsprach das, was er von Jesus von Nazareth gehört hatte, nicht Wort für Wort den Lesungen aus den Propheten, wie sie allwöchentlich in den Synagogen vorgetragen wurden?
Verheißungen
„An jenem Tag werden die Tauben die Worte des Buches hören, und aus Dunkel und Finsternis hervor werden die Augen der Blinden sehen. Und die Demütigen werden mehr Freude im HERRN haben, und die Armen unter den Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels. Denn der Gewalttätige ist nicht mehr da, und der Spötter geht zugrunde.“
„Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und jauchzen wird die Zunge des Stummen. Denn in der Wüste bricht Wasser hervor und Bäche in der Steppe. Und die Wüstenglut wird zum Teich und das dürre Land zu Wasserquellen. An der Stelle, wo die Schakale lagerten, wird Gras sowie Rohr und Schilf sein. Und dort wird eine Straße sein und ein Weg, und er wird der heilige Weg genannt werden… Kein Löwe wird dort sein, und kein reißendes Tier wird auf ihm hinaufgehen noch dort gefunden werden, sondern die Erlösten werden darauf gehen.“
Ja, das waren Verheißungen eines anderen gemeinsamen Lebens als dem in unseren gewohnten und doch immer wieder nur wie vom puren Überlebenskampf zudiktierten Daseinsnischen. In solchem Leben ist irgendwann erloschen, was man je aus Kinderaugen sah. Die alten prophetischen Visionen handelten von einem anderen gemeinsamen Leben. In diesen prophetischen Verheißungen spielgelte sich ein österliches Licht. Und wenn man Ohren hatte zu hören, wie sie der Blinde von Jericho gehabt haben muss, dann konnte man mithilfe dieser prophetischen Visionen auch sehen. Ja, sie verliehen ihm regelrecht Augen. Diese Augen waren erleuchtet davon, was der erste Blick gesehen hat, von dem die Bibel erzählt. „Und Gott sah, dass das Licht gut war“.
„Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ So sieht jetzt real nur noch Gott. Aber er lässt uns an diesem Blick in den prophetischen Verheißungen teilhaben. Das ist er, der österlich belichtete Blick auf unsere Welt und das Leben in ihr. Da spiegelt alle Kreatur Gottes Herrlichkeit, indem alles jedem Moment so lebt, als lebe es gerade auf. Sogar die Wüste blüht auf, so als täten sich in ihr alle Quellen mit einem Mal auf. Wie endlich befreit von allen Fesseln beginnt alles, sich regelrecht verströmen zu wollen. Und: Nichts lebt mehr nur in irgendwelchen Daseinsnischen, in die es sich zurückziehen muss, um zu überleben. Denn der Tod tyrannisiert nichts und niemanden mehr.
Österliches Licht
Klingt das alles nicht nur nach einer weltfremden Utopie? Wird da nicht bloß eine Art Musik zum Träumen eingespielt? Könnte sich das überschwängliche Lob, das am Ende der Geschichte laut wird, nicht ganz schnell als eine kurze schwärmerische Ekstase erweisen? Es hat zu allen Zeiten Leute gegeben, die keine anderen Ohren hatten, als es so zu hören und keine anderen Augen, um es so zu sehen. Schon Jesus selber hat man nachgesagt, er müsse verrückt sein. Doch vergessen wir über der wunderbaren Erzählung von der Heilung des blinden Bettlers nicht, womit der heutige Predigttext beginnt. Zum Träumen allein ist die Geschichte nämlich kaum, die dort anklingt. Jesus nimmt seine Jünger zur Seite. In Kürze, so teilt er ihnen mit, wird sich an ihm der Tod in seiner nackten Gestalt zeigen.
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten.“ Das österliche Licht droht schon wieder ausgeschaltet zu werden, kurz nachdem es gerade in einen Alltag von Menschen hineinleuchtete. Gottes Herrlichkeit scheint schon bald wieder aus der Welt vertrieben worden zu sein, in der der Tod heimlich das Sagen hat und einen schon abrichten kann, bevor er ganz real für einen eingetroffen ist. So muss es jeder nüchterne Alltagsblick konstatieren. Nicht so aber der Glaube, der Ohren hat zu hören, was von Jesus von Nazareth geschrieben ist, und der Augen hat zu sehen, was Gottes Verheißung uns in den prophetischen Visionen zeigt.
Denn hören dürfen wir, dass Jesus das alles als der Menschensohn erleidet, von dem die Propheten auch schon lange gesprochen haben. Als der Menschensohn steht er in dieser Elendsgestalt vor Gott stellvertretend für Menschen, stellvertretend auch für uns. Ja, so zugerichtet wie Menschen in dieser Welt nur zugerichtet werden können, steht er stellvertretend als unser menschlicher Bruder vor Gott. Als Menschensohn steht er aber auch stellvertretend für Gott vor uns. Auch davon haben die prophetischen Visionen erzählt, auf die uns die Geschichte Jesu von Nazareth hinweist. Gott aber kann der Tod bedrohen wie er will. Gott lässt sich von ihm nicht auf ewig aus einer Welt heraushalten, auf die er allein die Schöpferrechte hat. Darum hält sich der Glaube auch an die Verheißung: „Am dritten Tag wird er, der so zugerichtete Menschensohn auferstehen.“ In ihm ist Gottes Verheißung mitten in unserer Welt ein für alle Mal geerdet. Das österliche Licht ist ihr erhalten und leuchtet auf, wann und wo Gott es will.