Ortsbestimmung
Wo ist mein Platz?
Predigttext: Hebräer 13,12-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
12 Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. 13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. 14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
„Wo ist mein Ort? Wo gehöre ich hin? Wo bin ich richtig? Wer hat sich in Krisen das nicht schon gefragt, wer hat in Zeiten der Unsicherheit mit solchen Fragen sich nicht schon herumgeschlagen, sich nicht schon auch einmal damit gequält. Wo gehöre ich hin? Als ich die Jugendlichen, die Konfirmanden, danach fragte, war deren hauptsächliches Votum ganz klar: Meine Freunde. Und meine Familie. Da gehöre ich hin. Das ist der Ort, an dem ich richtig bin.
Auch die Zebedäussöhne (Lesung, Mk 10,35ff ) fragen ihren Freund Jesus nach einem ganz bestimmten Ort, nach einem Platz an seiner Seite. Nicht nur zu Lebzeiten, sondern in der ewigen Herrlichkeit. Jesus verweist auf Gott: Seinem Urteil unterwirft er sich hinsichtlich der endgültigen Bestimmung wer an welchen Platz gehört. Jesus selbst aber nimmt die Gelegenheit wahr, gegen ein Oben und Unten zwischen den Menschen zu opponieren. Unter seinen Freunden soll es so nicht sein. Wo jemand ist, wo jemand hingehört, wo jemand am richtigen Platz ist, kann sich nicht in Unterdrückung oder Unterwerfung zeigen. So nicht. Über unseren Ort bei Gott ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Wie aber verhält es sich mit Gottes Ort unter uns? Ist es so, wie eines der Lieder im Gesangbuch es beschreibt: „Überall ist er und nirgends. ….“ Überall ist er und nirgends? Gott ist nirgends? Nehmen wir das Lied als einen Versuch, von der Freiheit Gottes zu sprechen, von Gottes Freiheit seinen Ort zu bestimmten, seinen Geist zu geben. Ein Versuch davon zu reden, dass wir zum Glück Gott nicht fassen können. Aber dass er nirgends sei, dem will ich nicht zustimmen. Eine jüdische Auslegung zu eine Stelle des 33. Kapitels aus dem Buch Exodus (V21), aus dem wir einen kleinen Abschnitts gehört haben, unterstreicht: Nicht die Welt ist der Ort Gottes, sondern Gott ist der Ort der Welt.
Wo Gott ist, da ist die Welt, da ist seine Schöpfung. Da entfaltet sich Leben. Ha Maqom, auf Deutsch: der Platz, der Ort – das ist in der hebräischen Sprache, in der Sprache der Bibel, zugleich ein anderes Wort für den Tempel, für den Ort, an dem der Tempel steht. Und HaMaqom ist ein anderes Wort für Gott selbst. Gott ist noch einmal anderswo, als wir es uns vielleicht vorstellen.
Die Grunddaten der biblischen Überlieferung beruhen weniger auf Heimat als auf Aufbruch, weniger auf Zuhause, als auf Fremde. Diese Erkenntnis droht verloren zu gehen, wenn gerade Menschen, die in der Kirche viel Verantwortung auf sich nehmen, versuchen, in der Kirche, in der Gemeinde anderen eine Heimat zu geben. Auch der Kirchenraum ist nicht Wohnzimmer, nichts zum Einrichten. Sondern ein Ort des Kommens und Gehens. Der Glaube Abrahams etwa zeigt sich darin, dass er folgt, als Gott ihn aus seinem Land, aus seiner Verwandtschaft herausruft.
Für das Volk Israel wird Ägypten, wo die Vorfahren, Jakob mit seinen Söhnen, einmal Zuflucht gefunden hatten vor Hungersnot, immer mehr zur Fremde. Und Gott zeigt sich als der, der sein Volk herausführt aus dem Sklavenhaus Ägypten. Entsprechend fangen die Gebote an: Ich bin der Gott, der dich herausgeführt hat aus Ägypten. Jetzt handle entsprechend. Mit all diesen Fremdheitserfahrungen wird Israel dann auch fähig, das Exil, die Fremde Babylons zu bestehen, zu überleben, religiös dort lebendig zu bleiben, ja aufgrund des Glaubenslebens im Exil zu den ganz großen theologischen Entwürfen zu finden, wie wir sie in der ersten Schöpfungsgeschichte haben. Der biblische Gott ist nicht Gott allein an einem bestimmten Ort. Gott ist der Ort der Welt. Gott ist der Gott der ganzen Welt.
Gottes Handeln? Er lockt, ruft, befiehlt immer wieder da heraus, wo Israel ist. Ruft heraus auch aus den schlimmen Zuständen, ruft zur Umkehr. Gott begleitet dabei. Gott begleitet hinaus. In einem Psalm, oft auf dem Friedhof als Wort zum Geleit und vorläufiges Segenswort gesprochen, bevor man hinausgeht aus der Trauerhalle, hinaus zu den Gräbern, da heißt es: Der Herr segne Ausgang und Eingang. Ausgang und Eingang! Der Herr segne den Weg ins Ungewisse und die Rückkehr ins bekannte.
Hannah Arendt, die Philosophin und Essayistin, hat das letzte Jahrhundert als das Jahrhundert der Flüchtlinge bezeichnet. Millionen von Menschen erfuhren, dass der Ort, der ihnen Heimat ist, zerstört wird, ihnen entrissen. Samt allem, was dazu gehört: Heimat und Freunde und Verwandt und Kirche samt konfessioneller Geschlossenheit und all die Gebäude, die dazugehören. Wenn unsere Landeskirche sehr vorsichtig damit umgeht, Kirchen aufzugeben, Kirchen abzureißen, dann hat das vielleicht seinen Grund auch im Schmerz, der so tief ins kollektive Gedächtnis sich eingebrannt hat,
Dementsprechend deutet die unbekannte Autorin, der unbekannte Autor des Hebräerbriefs auch den Tod Jesu. Draußen vor dem Tor. In der Gestalt der größtmöglichsten Fremdheit. Außerhalb der Stadt stirbt Jesus. Er hat seine Freunde verloren, alle Geborgenheit. Alle Anerkennung. Alle körperliche Integrität. Alle Einbindung und allen Sinn. Mit dem Tod, so nimmt es das Schreiben für die Hebräer wahr, verliert er seine Zukunft, die Gewissheit, die äußeren Zeichen für die Gegenwart Gottes. Doch darauf beharrt das Schreiben an die Hebräer: Genau da ist Gott. Gott hat sich nicht verschanzt hinter den Mauern. Gott ist draußen. Genau da ist Gottes Ort. Der rechte Platz. Genau da ist Gottes Thron. Als Jesus seinen Ort hat am Kreuz, ganz draußen, hat er seinen Platz an der Rechten Gottes.
Es gehörte zu den Fehlwegen zu sagen: Gott ist aus Israel herausgegangen. Jetzt ist er bei uns, bei der Kirche. Im Hebräerbrief sprechen Juden noch mit Juden. Die einen sagen zu den andern: Gott ist draußen. Passt auf. Als das innerjüdische Gespräch von Christen aufgenommen wird, und die Christen zu den Juden sagen: Gott ist draußen. Gott ist nicht mehr bei euch. Gott ist bei uns, da verändert sich etwas. Da wird Gott aufs neue eingekastelt, eingemauert. Es müssen unsere Profeten uns aufs Neue zurufen: Gott ist draußen. Passt auf, dass ihr beweglich bleibt, ihm dorthin nachzufolgen. So, wie Israel sich Gott für den Weg in die Wüste anvertraut hat. Wir müssen immer mit rechnen: Gott ist da draußen. Außerhalb des Lagers. Außerhalb unserer festen Vorstellung. Gott ist draußen bei der Schmach und Schande, bei Tod und Elend. Draußen vor dem Tor.
Viele Schülerinnen und Schüler und natürlich die Älteren unter uns kennen das Theaterstück von Wolgang Borchert: Draußen vor der Tür. Die Geschichte von einem auf der Kippe zwischen Leben und Tod. Gekennzeichnet vom Krieg. Allein und übrig geblieben von denen, die mit ihm gekämpft haben und neben ihm gestorben sind. Fremd unter denen, die sich schon wieder eingerichtet haben in der Nachkriegszeit. Draußen vor der Tür: das ist eine moderne Passionsgeschichte.. Geschrieben mit den alten Bauteilen der Passion Jesu und der Deutung des Hebräerbriefs. Draußen vor dem Tod, allein, verlassen, fremd und angegriffen bis aufs Blut: Jesus, der Christus, der Mensch. Und genau dort ist Gott.
Ich habe eingangs von unseren Konfirmanden erzählt. Davon, dass sie sagten: der richtige Ort ist die Familie, sind die Freunde. Aber die gleichen Jugendlichen haben teilweise durchaus schon die Erfahrung gemacht, dass Freunde und Familie nicht nur ein sicherer Ort sind. Viele haben Erfahrungen mit Tod, mit Trennung, mit Abschieden. Für die zukünftige Wege brauchen sie das Zeugnis, dass wir ihnen als Gemeinde sagen: unsere Orte von Verbundenheit, Freundschaft, Familiarität und Freude sind nicht selbstverständlich.
Unsere Orte, an denen wir uns richtig und geborgen wissen, die wir für fest, bergend und tragfähig halten, können brüchig werden, sich auflösen. Sie haben nicht für immer Bestand. Gott aber zeigt uns im Leiden und Sterben Christi aufs Neue – wie er es Israel in Feuerschein und Wolke gezeigt hat: Ich selbst bin und bleibe euch Ort und Gewissheit. Ich bin da, wo ihr seid. Genau dann, wenn euch Heimat und Geborgenheit verloren gehen.
Der sehr kurze, aber sehr gehaltvolle und anspruchsvolle Predigttext wird von Pfarrerin Busch-Wagner interessant eingeleitet durch die allgemein wichtige Frage: Wo gehöre ich hin?
Über unseren Platz bei Gott ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wo ist Gott? Übersall in seiner Schöpfung. Die Welt ist weniger ein Ort der Heimat als ein Ort zum Aufbruch. Das erfuhren schon die Israeliten auf dem jahrzehntelangen langen Weg aus Ägypten. Gott ruft zur Umkehr auch durch den bekannten Spruch: Gott segne deinen Ausgang und Eingang.
Der Text ist auch dadurch aktuell, dass nach H.Ahrendt das letzte Jahrhundert ein Jahrhundert der Flüchtlinge war. Höchstwahrscheinlich setzt sich das heute fort.
Gott ist auch am Ort größter Fremdheit: beim Kreuz Jesu. Gott ist bei uns draußen vor dem Tor (W.Borchert). Unsere Heimatorte können sich auflösen, aber Gott zeigt uns am Kreuz Jesu: Ich bin da, wo ihr seid und wo Heimat und Geborgnheit verloren gehen.
Der Predigttext ist sehr anspruchsvoll und schwierig, aber die Pfarrin konnte eine tiefsinnige und tröstliche Predigt verkündgen.