Ostern – Jesus Christus gestern, heute und morgen
Ostern - Heilung aus todesähnlicher Erstarrung
Predigttext: Lukas 24,36-45
(Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
36 Als sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! 37 Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist. 38 Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? 39 Seht meine Hände und meine Füße, ich bin's selber. Fasst mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich sie habe. 40 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und Füße. 41 Als sie aber noch nicht glaubten vor Freude und sich verwunderten, sprach er zu ihnen: Habt ihr hier etwas zu essen? 42 Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. 43 Und er nahm's und aß vor ihnen. 44 Er sprach aber zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen. 45 Da öffnete er ihnen das Verständnis, sodass sie die Schrift verstanden.
„Hauptwörter sind alle Dinge, die man sehen und anfassen kann“. Diese Faustregel gab man uns in der Grundschule mit. Sie sollte uns elementare Orientierungshilfe sein, um zu entscheiden, welche Wörter wir groß zu schreiben hatten. Sehen und anfassen haben es bisweilen auch für Erwachsene mit ganz elementarer Orientierung zu tun. Was man anfassen kann, ist real.
I.
So ist es für Menschen, die einen Angehörigen verloren haben, ganz besonders schmerzlich, dass sie ihn nicht mehr berühren können. Nicht mehr mit ihm sprechen ist schon schlimm genug – aber die selbstverständliche, zärtliche Berührung fehlt ganz besonders. Und wenn man den Verstorbenen ein letztes Mal berührt, fühlt es sich fremd an. Kalt, unvertraut, unfassbar.
„Ich war wie in einer anderen Welt“. So drücken es mitunter Menschen aus, die sich an ein zutiefst schockierendes Erlebnis erinnern. Da hat etwa jemand mit ansehen müssen, wie andere schwer verunglückten. Oder man erhielt aus heiterem Himmel eine ärztliche Diagnose, die einen wie ein Blitz traf. Sie mussten einen Menschen zu Grabe tragen, ohne den sie sich ein Leben auf keinen Fall vorstellen konnten. Die Meisten, die so etwas erleben, fühlen sich in der ersten Zeit danach wie in einer Art innerem Kokon, in dem man wie betäubt ist. Um aus ihm herauszufinden, brauchen wir vertraute Stimmen und eine Umgebung, in der wir uns geborgen fühlen und auskennen.
Genauso geht es uns in diesen Tagen. Nicht berühren, nicht umarmen, nicht besuchen, nur mit Abstand zu einander sprechen – schlimmer kann es kaum sein, das menschliche Zusammenleben. Denn gerade von Berührungen, Gesprächen, Besuchen lebt die menschliche Seele. Und was wir im Moment erleben – vor allem diejenigen, die wirklich ganz alleine zuhause leben müssen und keinen Partner um sich haben – ist genau wie ein solcher Kokon: fremd, unvertraut, kalt, zutiefst verstörend. Und da geht es uns – bei aller Hoffnung, die wir auf ein baldiges Ende der Einschränkungen haben, – nicht anders als Trauernden: wir brauchen vertraute Stimmen und eine Umgebung, in der wir uns geborgen fühlen und auskennen.
II.
Das Lukas-Evangelium erzählt von dem Tag, an dem der Auferstandene den Kokon des Schreckens durchbrach. Er trat mitten unter die Jünger. Er begegnet ihnen so, wie er ihnen vertraut war. Zuerst sind sie in ihrer Panik und todesähnlichen Erstarrung immer noch total gefangen. Sie können nicht einmal sicher unterscheiden, ob sie es mit einer unheimlichen Geistererscheinung, einem Hirngespinst womöglich oder echter Wirklichkeit zu tun haben. Da lässt er sie seine vertraute Stimme hören: „Ich bin’s doch“. Danach zeigt er ihnen seine Hände und Füße.
Aus irdischen Verhältnissen ist Jesus ihnen vertraut. Darum gibt er sich ihnen mit den unverwechselbaren Kennzeichen seines Sterbens am Kreuz zu erkennen. Als sich die Freude in ihnen auch da erst ganz zaghaft aus ihrem Versteck heraus hervorzuwagen beginnt, isst er vor ihren Augen ein Stück Fisch. Es ist als erinnere er sie an ihre frühere Gemeinschaft zu Tisch. In solcher Runde hat so viel stattgefunden hat, worin sie ihn unter Tausenden auf Anhieb unfehlbar ausmachen würden und womit er ihnen nahegekommen war wie niemand sonst.
III.
Von einem sicheren Ort spricht man im Umgang mit zutiefst verstörten, traumatisierten Menschen. Man meint damit innere vorgestellte Orte, an denen sie sich geborgen fühlen wie in einer vertrauten Umgebung. An solchen sicheren Orten kann man seine lebendigsten Gefühle erleben. Man spürt am ehesten, wie sich kostbare Ressourcen in einem erschließen wollen. Manche erzählen, ein Baum sei für sie in ihrer Kindheit solch ein Ort geworden. Oder ein Lieblingsplatz auf dem Dachboden, den niemand kannte – außer dem Teddybär. Dort hätten sie am besten ihr Herz ausschütten können. Erwachsene kennen solche Vertrauensorte auch: die Lieblingsinsel im Wattenmeer, der Lieblingsplatz im Garten, die tägliche Laufrunde im Park: Orte des Vertrauens, Orte zum Kraftschöpfen.
Indem der Auferstandene die Jünger an die vertraute Gemeinschaft und Nähe erinnert, die sie von ihm kennen, holt er sie aus ihrer todesähnlichen Erstarrung heraus an einen solchen sicheren Ort. Nun heilt er sie, die oft miterlebt hatten, wie er andere geheilt hat. Doch ist noch eine kleine Strecke zurückzulegen, bis die Jünger wirklich von einer österlichen Freude erfüllt sind. Wenigstens haben sie nun den Kopf frei, um verstehen zu können, worin sie gründet. Der Auferstandene beginnt, ihnen das zu erklären, nachdem er sie aus ihrer todesähnlichen Erstarrung geheilt hat.
Vertraut war Jesus den Jüngern, wie er Menschen von schweren Leiden heilte und wie er Leute, die kaum noch Hoffnung hatten, für eine neue Zukunft aufrichtete. Aber dass er selbst dem Leiden ausgeliefert sein konnte, gar einem, das von Menschen verursacht und von menschlicher Gewalt geprägt war, das war wie ein Fremdkörper in der Geschichte, von der so strahlende Verheißungen ausgegangen waren. „Er war eine prophetische Gestalt, mächtig in Worten und Taten vor Gott und allem Volk. Wir hatten gehofft, er würde Israel erlösen.“ So hatten es zwei von ihnen kurz vorher ausgedrückt.
Eine Welt war in ihnen zusammengebrochen, als Jesus am öffentlichen Schandpfahl eines Kreuzes hingerichtet worden war. Sicher war jetzt nur noch eins. Das Spiel war aus. Der Vorhang würde bald fallen. Auf der Bühne hatte man zuletzt eine Szene zu sehen bekommen, wie sie typischer für eine irdische Geschichte nicht sein könnte. Da waren auf der einen Seite verzweifelte Leute, die trauern mussten, weil für sie verloren war, woran ihr Herz hing. Da waren auf der anderen welche, für die mit dem gleichen Geschehen nur ein leidiges Kapitel endlich abgehakt war.
Da trauern die Einen, weil sie ihr Liebstes und Wichtigstes verloren haben, während über derselben Geschichte für Andere nur etwas erledigt ist, und sie in ihrer Tagesordnung weitermachen können, als wäre nichts passiert. „Das war‘s dann also“, könnte als Überschrift darüber stehen – für die Einen in entsetzlicher Bedeutung, für die anderen in einer, die wie ein Schlussstrich wirkt. Menschen, die so denken und fühlen, bedürfen einer Heilung, die noch weit umfassender ist als jede Heilung, die wir als einzelne Menschen erfahren können. Sie bedürfen einer erlösenden Heilung und heilenden Erlösung. Darum nun ist der Auferstandene damals mitten unter die Jünger getreten und hat zu ihnen gesagt: „Friede sei mit euch. Ich bin es doch, ich selbst und niemand sonst“.
IV.
Österliche Botschaft auch für uns! Jesus tritt an uns heran und sagt zu uns: „Ich bin doch da!“. Der Auferstandene erschließt den Jüngern einen neuen Lebenshorizont. Er lässt uns ebenso wie die Jünger damals verstehen: wenn Gott ihn von den Toten erweckt hat, ihn, über den eine solche Geschichte hinweggegangen ist, dann beginnt für den Tod eine Welt zusammenzubrechen.
– Dann ist das, was wir als „todsicher“ verstehen, aufgebrochen.
– Dann ist endlich die Zukunft befreit davon, dass man sie vor allem immer wieder nur unter einem ultimativen Druck sieht, als könne morgen schon für uns verloren sein, was wir nicht beizeiten für uns unter Dach und Fach gebracht haben.
– Dann finden wir aus solchem Bann zu einem heilenden sicheren Ort bei Gott wieder zurück, wo lebendige Quellen entspringen und sich endlich wieder eine neue offene Zukunft auftut, immer wieder neu sogar.
– Dann gibt es sogar für unsere Trauer einen Ort, wo sie sich erholen, heilen und eigene Quellen lebendiger Art in sich finden kann.
Was für uns damit beginnen kann, hat der Apostel Paulus einmal mit einem wunderbaren Wort benannt. Wir können, so hat er es beschrieben, heute zu leben beginnen, als lebten wir bereits wie von den Toten auferstanden.