Die Schuld im Meer versenken
Freude an Gott
Predigttext: Micha 7,18-20 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
18 Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade!
19 Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.
20 Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.
Exegetische Bemerkungen
Ein kurzer Blick auf Aufbau und Entwicklungsgeschichte des Michabuches. Es besteht aus zwei zweigliedrigen eschatologischen Schemata, die beide erst Unheil, dann Heil zum Inhalt haben.
Authentische Michaworte sind ausschließlich Gerichtsworte über Samaria und Juda und in den Kap. 1–3 zu finden. Sie mischen sich hier mit Unheilsworten aus Michas Schülerkreis. In der Exilszeit wird die Sammlung dieser Worte fortgeschrieben (Kap. 4–5) „aus der Überzeugung heraus …, dass Jahwes verdientes Gericht … nicht das Ziel seiner Wege mit seinem Volk ist“ (Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, Göttingen 2007 [ATD 24,3], S.119): Heilsweissagungen schließen sich an.
In Mi 6,1 – 7,7 klagt ein weiterer Prophet über die Verderbnis des Volkes und kündigt das Gericht an. Diese Klage wird später durch eine Heilsliturgie (7,8-20) ergänzt. Beiden Prophetenschriften geht es erstens um die Bewahrung eines ambivalenten Gottesbildes (was hier freilich erst in diachronischer Stufenfolge entsteht) und zweitens um die letztendliche Gewissheit des Wahrwerdens der Verheißungen (Achtergewicht derselben).
In Mi 7,18-20 ist dieses Gottesbild in nuce zusammengefasst. Diese Verse sind die in Hymnus (7,18) und Zuspruch (7,19) gekleidete Gnadenformel aus Ex 34,6f (langsam zum Zorn, groß an Gnade und Treue). 7,20 dient der heilsgeschichtlichen Vergewisserung. Das Wesen und Wirken Gottes ist Vergebung. Dem korrespondiert ein Menschenbild, wie es aus Gen 8,21 bekannt ist und wie es hier durch „Sünde“ und „Schuld“ gekennzeichnet ist. In der göttlichen Verschränkung von Schuld und Vergebung liegt die Befreiung zum Leben.
Homiletische Bemerkungen
Wie bringe ich einen Hymnus homiletisch zur Sprache? Zu exorbitantem Jubel sehe ich zurzeit keinen Anlass. Ich hebe stärker den Ton des Zuspruchs hervor, der in V.19 durch das Futur erklingt. Außerdem bleibt nur noch, bekannte Hymnen aus Gesangbuch (z.B. EG 331), geistlichen Liedersammlungen (z.B. „Wie ein Fest nach langer Trauer“ oder: „Wenn die Seele wieder lächelt“) und aus der traditionellen Dichtung (z.B. Ode an die Freude) einzubeziehen.
Inhaltlich geht es um Gott, Sünde, Gnade. Zum Glück predige ich vor einem Publikum, das die Existenz Gottes nicht in Frage stellt. Sonst müsste ich von „letzter Verantwortung“ sprechen. Aber wo wird sie vielfach verortet? – Was ist Sünde/Schuld? Verweigerung der Verehrung Gottes? Der Theologe versteht es. Böse Machenschaften, Korruption, Willkür (Mi 7,3)? Der Bürger versteht es; aber geht das tief genug? Ich denke an die Schuldfalle, in die man kommt und aus der man ohne Vergebung nur schwer herauskommt. Darauf lege ich das Gewicht und lege die Predigt im Sinne des Zuspruchs an. – Was ist Gnade? Gnade setzt den Richtspruch voraus. Ohne ihn keine Begnadigung. Die Tat wird gerichtet, der Mensch aber gütig angesehen. Er hat eine Chance zum Neuanfang.
Ich verzichte auf Beispiele. Ich denke, der eine oder die andere wird Situationen in seinem Leben wiedererkennen, die der angesprochenen Ausweglosigkeit und der neuen Hoffnung entsprechen. Mir fallen lediglich zwei Beispiele aus der Corona-Zeit ein. Die will ich aber nicht traktieren; denn wir haben inzwischen genug darüber gehört (Ich meine die Schuldfalle der Ärzte ohne ausreichende Beatmungsgeräte und die Schuldgefühle derer, die Angehörige in bester Absicht in Heimen untergebracht haben, wo diese dann durch das Virus starben. Nicht zuletzt ist Vergebung auch ein Thema der Militärseelsorge).
Zum Gottesdienst
Ich nehme EG 331,1-3.6 als „Aufhänger“ (Lied vor der Predigt). Der Predigttext ist in die Predigt integriert. Die „modernen“ Lieder wurden bereits genannt. Nach der Predigt: EG 628 (Reg.-Teil Baden): „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“ (Vorschlag G.Lämmlin in DPfBl 5/2020, 323). Ob am Schluss noch die „Ode an die Freude“ (ab)gespielt wird, sei dahingestellt.
(Vor der Predigt: Lied “Großer Gott, wir loben dich”, EG 331)
Lobpreis als Bekenntnis
Ich gestehe, dieses Lied gehört für mich zu den schönsten und erhabensten Lobgesängen unserer Kirche. Mir geht es so: Manchmal kann ich meinen Glauben durch ein solches Lied besser und überzeugender zum Ausdruck bringen als durch das Sonntag für Sonntag gesprochene Glaubensbekenntnis. Und ich habe den Eindruck, dass ich Sie in diesen meinen Glauben und in meine Überzeugung durch solche kräftigen Loblieder viel besser mit hineinnehmen kann als durch noch so sorgsam gewählte Worte der Predigt. Denn wir singen ja gemeinsam, wir loben Gott gemeinsam mit unserem Gesang.
Aber die Predigt soll auch nicht zu kurz kommen. Der heutige Predigttext ist im Grunde auch ein Lobgesang. Zumindest ein Lobeshymnus auf den großen, den großartigen Gott, der Sünden vergibt und Schuld nicht ewig nachträgt. Gesprochen wird dieser Hymnus – oder vielleicht auch gesungen – von den wenigen Israeliten, die im Lande bleiben konnten, als der Großteil nach Babylon verschleppt worden war und jetzt nach fünfzig Jahren zurückkehren darf ins Land der Väter. Vielleicht wurde er gemeinsam gesprochen auf dem heiligen Berg Zion:
(Lesung des Predigttextes)
Der Lobpreis fasziniert mich: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist“, und mehr noch die poetischen Bilder: „Er wird unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ Von Schuld und Sünden reden wir nicht gern. Aber eingebunden in den erhabenen Lobgesang geht das schon besser und ohne inneren Widerspruch: Wir wollen von dem angefangenen Lied die Strophen 10 und 11 singen.
(Lied EG 331,10.11)
Was wir hier erbeten haben: „Rett aus Sünden, rett aus Tod, / sei uns gnädig, Herre Gott“, worauf wir hier vertrauensvoll schauen: „Herr, erbarm, erbarme dich …, / deine Treue zeige sich … Auf dich hoffen wir allein, / lass uns nicht verloren sein“, das hat Gott längst getan. Gott hat aus Sünden und Tod gerettet, er hat sich unser erbarmt und unsere Schuld vergeben, er steht treu an unserer Seite. Das bekennt lobend und dankend unser Predigttext.
Fragen
Nun werden viele sagen: „Was geht mich das an? Ich bin mir keiner Sünden und Schuld bewusst, ich muss auch nicht gerettet werden.“ Okay, solange alles gut läuft im Leben, mag mancher so denken. Solange ich auf gut ausgebauter Straße fahre, muss kein Trecker bereitstehen, der mich aus irgendeinem Graben holt. Aber denken wir daran: Es gibt auch schlecht ausgebaute Straßen. Im Winter sind sie glatt, und nebenher läuft der Graben. Da ist es bei aller Vorsicht gut zu wissen: Im Dorf wohnt der Bauer mit dem leistungsstarken Trecker; der holt mich da raus. Wie der Bauer mit dem Trecker in der Not uns durchaus etwas angeht, so könnte es sein, dass uns Gott in der Not etwas angeht. Darum ist es gut zu wissen, was Gott tut und schon immer getan hat: Sünden vergeben, Schuld versenkt, rausgeholt, einen neuen Start ermöglicht.
Nun werden manche aber sagen: „Davon merke ich nichts. Meine Schuld geht mir nach. Ich mache mit ständig Vorwürfe.“ Manchmal mag es gelingen, die Selbstzweifel zu zerstreuen; manchmal mag es sogar gelingen, die Schuld ein Stück weit mitzutragen, im verstehenden Gespräch, im Mit-Leiden, in Em-pathie. Im Letzten aber bleiben unsere Worte blass.
Zuspruch als Antwort
Im Letzten bleibt nur ein Zuspruch: „Im Himmel wohnt einer, der uns nicht ewig böse ist. Im Himmel wohnt einer, der Gefallen hat an Gnade. Er wird all unsere Schuld unter seine Füße treten und alle unsere Sünden in der Tiefe des Meeres versenken.“ Wir alle kennen den Chorgesang aus der Ode an die Freude: „Droben überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Friedrich Schiller hat das in seinen Worten gesagt. Möglich, dass das Pathos seiner Dichtung uns nicht mehr liegt. Aber er hat recht! „Droben überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Der Prophet Micha rühmt: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld …“ Und Ludwig van Beethoven hat der Ode an die Freude einen phänomenalen musikalischen Ausdruck verliehen, der uns die Erhabenheit, Stärke, Richtkraft und Gnade unseres Schöpfers in unserem Innersten spüren lässt. Auch hier sind es nicht nur die Worte, die überzeugen, sondern die Worte im Zusammenhang mit dem musikalischen Kunstwerk.
Und beides zusammen, Worte und musikalisches Kunstwerk, erzeugt genau das, was beabsichtigt ist, was das erste Wort ist, was der Grundton dieser Ode ist und zugleich auch der Grundton unseres Lebens sein soll und sein darf: „Freude!“ Freude erwächst aus der Überzeugung: „Droben überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“
So darf und so soll es auch in unserem Leben sein. Nichts anderes darf und soll auch aus dem Wissen erwachsen, dass Gott sich unser nach langem Selbstzweifel und Schuldbewusstsein wieder erbarmt. Hoffnung soll erwachsen, dass sich alles zum Besseren wenden wird. Lebensfreude soll erwachsen, die Energie und Tatendrang freisetzt, die Welt zum Besseren zu verwandeln. Freiheit soll erwachsen, das Leben als Geschenk zu ergreifen, Chancen, die es täglich bietet, zu nutzen und es dankbar zu genießen. So versöhnt Gott sich mit uns. So ist es mit seinem Vergeben und Verzeihen. So ist es mit seiner Güte und seiner Gnade. So ist Gott! Mit ihm können wir der Freude am Leben huldigen. Denn unsere Schuld hat er in der Tiefe des Meeres versenkt.
Manchmal kommen nur die Bilder der Dichtung der Wirklichkeit nahe. Der Prophet Micha kommt der Wirklichkeit Gottes sehr nahe. Der Wirklichkeit Gottes, wie sie uns das Neue Testament in Jesus Christus offenbart. Am Kreuz Christi werden wir der Wirklichkeit Gottes ansichtig. Da versenkt er nicht nur bildlich alle Schuld im Meer, sondern da versenkt er all unsere wahre und vermeintliche Schuld im Tod dieses Einen, der am Kreuz stirbt. All unser krankes Wesen hat er auf sich genommen und getragen – in seinen Tod. Dort ist es versenkt – für immer. Und der überm Sternenzelt wohnt, sieht uns mit anderen Augen an: mit dem Blick der Gnade und der Güte, mit dem Blick des Zutrauens und der Aufforderung zum Leben.
Zum Jubel sehe ich während der bedrückenden und weitreichenden Corona- Krise keinen Anlass, aber den Zuspruch des Textes und dazu das Lied Großer Gott wir loben dich ( EKG 331) finde ich sehr aktuell Das ist das Thema der Predigt von Pastor Dr Scholz zum Propheten Micha. Die Israeliten waren damals in der bedrückenden babylonischen Gefangenschaft. Die Worte des Propheten sind in der Lage ein faszinierender Lobpreis Gottes mit poetischn Bildern. Vielfältige Probleme und Schuld nehmen uns auch heute gefangen. Aber es bleibt der Zuspruch der Bibel, den Schiller und Beethoven aufgenommen haben mit ihren Worten: Droben übern Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.
Das soll mit durch unseren Glauben der Grundton unseres Lebens sein. Poetische Bilder bringen uns Gott nah. Besonders aber Jesus Christus am Kreuz. Er und Gott sehen uns mit gütigen Augen an und der hoffnungsvollen Aufforderung zum Leben. Vielen Dank an Micha undan den Mitchristen Pastor Scholz für eure uns aktuell ermutigenden Worte !