Berufen, um Menschen aus der Tiefe ins Leben zu holen
Die richtigen Worte finden
Predigttext: Lukas 5,1-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
1 Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, zu hören das Wort Gottes, da stand er am See Genezareth. 2 Und er sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. 3 Da stieg er in eines der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. 4 Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! 5 Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort hin will ich die Netze auswerfen. 6 Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische und ihre Netze begannen zu reißen. 7 Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und ihnen ziehen helfen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken. 8 Da Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. 9 Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die mit ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, 10 ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. 11 Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.
Exegese
Immer wieder erzählen die Evangelien Geschichten, in denen Jesus schon zu Lebzeiten in der Vollmacht und Hoheit dessen auftritt, der als Sohn Gottes von den Toten auferstanden ist. Der Predigttext zählt dazu (im Johannesevangelium wird eine ähnliche Szene als Erscheinung des Auferstandenen bei den Jüngern erzählt). Dabei gehört es auch zu diesen Erzählungen, dass die Jünger zutiefst erschrecken, worauf sie von Jesus hören dürfen: „Fürchtet euch nicht.“
Die Verheißung weist auf den tragenden Grund eines neuen Lebens, bei dem der Tod, der wie ein Zwilling jener Macht ist, die im NT „die Sünde“ genannt wird, unser Leben äußerlich und innerlich tyrannisiert. Davon handelt auch der Predigttext, der dann zu einer ausdrücklichen Berufungsgeschichte wird. Simon und seine Gefährten werden zu „Menschenfischern“ berufen. Man beachte, dass im Lukas-Evangelium hier ein spezielles Wort steht, das griechische Verb „zoogrein“ (V. 10), in dem unüberhörbar anklingt, dass es eine Berufung ist, die auch den anderen Menschen zum Leben dient.
In V. 3 lautet es im griechischen Text wörtlich: „er sagte ihm, sie sollten ins Tiefe hinausfahren.“ Das gibt mir in der Predigt das Stichwort der Tiefen, die sich in Simons Antwort an Jesus auftun.
Vergeblich
Die Netze drohen zu reißen. Sie können die Menge der Fische nicht mehr fassen. Auch Simon und seinen Gefährten können nicht fassen, was sie da gerade erlebt haben. Aber warum gehen sie nicht einfach überglücklich mit ihrem unerwarteten Fang nach Hause? Warum reagiert Simon so entsetzt, dass er Jesus geradezu anfleht: „Geh weg von mir. Ich bin ein sündiger Mensch?“
Angefangen hat alles damit, dass Jesus ihn gebeten hatte, noch einmal auf den See hinauszufahren, ins Tiefere. Dort solle er die Netze auswerfen. Darauf antwortet Simon, wie es jeder Profi tun würde, dem ein ahnungsloser Laie einen absurden Vorschlag macht. „Meister, wir haben die ganze Nacht geschuftet. Gefangen haben wir nullkommanull.“ Fast könnte man einen leicht ironischen Beiklang heraushören, bei der Zurückweisung eines angeblichen Experten, der von der Sache wenig Ahnung hat.
Doch es steckt noch einiges mehr in dieser Antwort von Simon. Noch einmal ins Tiefere hinauszufahren, hatte Jesus sie gebeten. So folge ich jetzt einmal der Antwort von Simon bis in ihre tieferen Schichten hinein.
Sie lässt uns tief blicken in seine Seele. „Jesus, wir haben uns abgerackert, die ganze Nacht hindurch. Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Jede Nacht hinaus auf den See zu fahren? Hast Du noch nichts gehört von den Stürmen, in denen schon manche auf diesem See umgekommen sind? Außerdem bedenke: Jede Nachtschicht ist ein Anschlag auf den Bio-Rhythmus. Das macht einen auf die Dauer kaputt. Und dann ist das alles oft ‘für die Katz’ gewesen, wie heute Nacht, wo wir nichts Nennenswertes gefangen haben. Aber was bleibt uns denn anderes übrig? Wir müssen schließlich unsere Familien durchbringen. Es wird einem in diesem Leben eben nichts geschenkt.“ So klingt es ganz tief aus der Seele des Simon. Und an diese Klage des Simon könnte sich indirekt eine Klage anschließen, die aus noch größerer Tiefe kommt – die Klage einer Kreatur nämlich.
Nur in der Nacht lohnt sich die Fischerei. Dann trauen sich die Fische aus ihren Verstecken tief unten und fühlen sich auch oben sicherer. Das muss ausgenutzt werden für eine rentable Fischerei. Geht es nicht so zu in der Welt? Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, dann kann man gewinnen. Doch wenn man zur falschen Zeit dort ist, hat man eben verloren. Ja, das könnte wie die Klage aller Kreatur klingen. Ihr Thema wäre der ewige Kampf ums Dasein. Bist du zur falschen Zeit am falschen Ort, kann es um dich geschehen sein. Um das zu verhindern, ist es gut, über möglichst starke Nerven zu verfügen, oder einen hohen IQ, kräftige Arme oder ein attraktives Äußeres, eine ausgeklügelte Technik, gut gefüllte Konten oder am besten unschlagbare Waffen. „Wir haben die ganze Nacht geschuftet und nichts gefangen.“ Doch dann wendet sich plötzlich wie um 1800, was Simon Jesus antwortet: „Aber auf dein Wort hin werfen wir die Netze noch einmal aus.“
Heilung oder: Werde ich wieder gesund?
Simon, der Fischer aus dem galiläischen Ort Kapernaum, hatte mit Jesus von Nazareth in jenen Tagen bereits eine unvergessliche Begegnung gehabt. Jesus war in das Haus gekommen, wo Simon mit seiner Familie wohnte. Man hatte ihm erzählt, dass man besorgt sei um die Schwiegermutter von Simon, die an heftigem Fieber erkrankt war.
Krankheiten, das wäre nun ein weiteres Thema, an das sich die Klagen so vieler einzelner Menschen anhängen könnte. Darüber brauche ich in einem Jahr, in dem ein bis dahin unbekanntes Virus eine ganze Menschheit in Atem hält, nicht viel zu sagen. Doch im Haus des Simon war damals etwas geschehen, das erwähnt werden muss. Jesus war zu der kranken Frau gegangen. Er hat zu dem Fiebernden gesprochen. Streng hat er mit ihm gesprochen. Daraufhin hatte sich das Fieber tatsächlich verzogen – so als wäre es ein verständiges Wesen, mit dem man reden kann. Ganz von selbst.
Vertrauen
Ich denke, an diese Begegnung mit Jesus von Nazareth hat sich Simon erinnert, als er dann zu Jesus sagt: „Aber auf dein Wort hin werfen wir die Netze noch einmal aus.“ Simon hatte damals erfahren, dass aus dem Munde Jesu von Nazareth Worte kommen können, die wie Worte des Schöpfers von Himmel und Erde sind. „Was er spricht, das geschieht“, heißt es in einem der Psalmen. Das sind vollmächtige Worte. Man könnte auf die Idee kommen, sie mit Befehlen zu vergleichen. Denn bei Befehlen wird ja erwartet, dass sie umgehend befolgt werden. Doch dieser Vergleich betrifft bestenfalls die Oberfläche.
Wichtig ist vor allem, wie es Gott mit uns und mit all seiner Kreatur hält. Gott spricht mit uns. Gott spricht mit seiner gesamten Kreatur. Gott vermag auch mit derjenigen Kreatur zu sprechen, die wir für völlig stumm halten und für alle sprachliche Verständigung ungeeignet. Hören wir es so nicht gleich zu Beginn der Bibel: „Gott sprach: es werde Licht. Und es ward Licht“? Gott nimmt seine Kreatur, wer oder was auch immer es ist, so ernst, wie wir jemanden ernst nehmen, mit dem wir uns verständigen wollen. Gott spricht zu uns. Gott spricht mit aller seiner Kreatur. Auf dieses sein Wort hin können wir anfangen, auf neuer Grundlage miteinander zu sprechen.
Verlorene Liebesmühe?
Manchmal hören wir auf, miteinander zu reden. Vielleicht hat man sich überworfen. Vielleicht wurde man verletzt und will das nicht gerne noch ein weiteres Mal erleben. Vielleicht denkt man sich auch: Mit dem oder der noch zu reden, hat sowieso keinen Zweck. Das ist verlorene Liebesmühe. Aber wo man aufhört, endgültig aufhört, miteinander zu sprechen, weil es für einen so oder so nicht mehr in Frage kommt, da ziehen immer düstere Wolken auf. Meistens sind sie Vorboten eines Miteianders, in dem das gemeinsame Dasein jederzeit in einen puren Wettstreit um die besten Positionen und sichersten Plätze umschlagen kann. Wo es schließlich vor allem darauf ankommt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Wo man verloren sein kann, wenn man zur Unzeit am verkehrten Ort auftaucht. Wo es darauf ankommt, über möglichst starke Nerven zu verfügen oder einen hohen IQ, kräftige Arme, ein attraktives Äußeres, einen guten Riecher, eine ausgeklügelte Technik oder auch gut gefüllte Konten mitsamt den besseren Waffen zu haben.
Wo immer aber Gott mit seiner Kreatur spricht, da reagiert sie wie jemand, mit dem man sich verständigen kann. Selbst ein Fieber weicht dann. Selbst Sturm und Wellen auf dem See legen sich dann, wie es Simon und seine Gefährten später noch erleben werden. Wo Gott zu seiner Kreatur diesen Kontakt hält, da muss Leben nicht für alle Ewigkeit immer wieder zu jenem Wettstreit werden, der sich jederzeit sogar zu einem Kampf ums Dasein und Überleben steigert.
Märchen?
Nun könnte man natürlich einwenden: Das höre sich alles ja ganz schön an. Aber zuletzt klingt es doch mehr wie ein Märchen, in dem auch andere Kreaturen sprechen können und Sprache verstehen. Ja, so könnte man es finden, wenn die Geschichte im Evangelium nun weiterginge, wie sie in einem typischen Märchen weiterzugehen pflegt. Z.B. so: Simon und seine Gefährten zogen hocherfreut mit ihrem Fang nach Hause. Sie wurden reich und lebten mit ihren Familien fortan glücklich und zufrieden alle ihre Tage. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.
Aber so geht die Geschichte im Evangelium gerade nicht weiter. Vielmehr hören wir, dass Simon Jesus entsetzt zu Füßen fällt und ihn geradezu anfleht: „Geh weg von mir. Denn ich bin ein sündiger Mensch.“ Es ist, als sei dem Simon bei dem Blick in die Tiefe regelrecht schwindelig geworden. Jetzt erst, wo ihm zum zweiten Mal im Munde Jesu jenes vollmächtige schöpferische Wort Gottes begegnet ist, da ist ihm schlagartig klar geworden, in welchem Maße er selber Tag für Tag mit gräbt an jenen Untiefen, aus denen heraus seine Klage emporgestiegen war. Er ahnt plötzlich, wie er selber daran mitwirkt, dass sich diese Abgründe auftun – Untiefen, in denen man gewinnen kann, wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort ist und so elendig verlieren kann, wenn man dabei den Kürzeren zieht. Simon ahnt etwas davon, was in der Bibel immer wieder „Sünde“ genannt wird. Das ist ein Leben auf andere Einflüsterungen hin als dem Wort, das aus Gottes Mund kommt. Das ist ein Leben, in dem wir einander zu Todfeinden werden können; in dem eine Kreatur der anderen zur Todfeindin werden kann.
Auftrag
Doch in diesem Moment wendet sich die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium ein letztes Mal. „Jesus sagte: Fürchte dich nicht. Von nun an wirst du Menschen zum Leben fischen.“ Simon und seine Gefährten werden berufen. Jesus von Nazareth beruft sie in seine Nachfolge. Sie werden neu an andere Menschen verwiesen. Ihr Blick wird in eine neue Zukunft gerichtet. Das ist ein weiter offener Horizont. Was sie dort einbringen, wird auch den anderen Menschen zum Leben dienen.
In dem Wort, mit dem Jesus sie zu Menschenfischern ernennt, klingt im Lukas-Evangelium ganz deutlich „Leben“ an: Es geht darum, für die Menschen und ihr Leben zu sorgen, die sie zusammenbringen. Ihnen ist das schöpferische Wort Gottes ja so begegnet, dass sie eine ganz neue Grundlage haben, um sich über jenen Untiefen zu bewegen, in denen Leben nur wie ein Kampf ums Dasein bestanden werden kann. Sie dürfen in sich den Schatz einer Vorstellung von einer Welt tragen, in der sich alle Kreatur auf solches Wort Gottes hin verständigen und das Leben entdecken kann, zu dem sie berufen ist.