„Du weißt, wie es sich anfühlt, fremd zu sein …“
Neu geschenkte Sehweise – Weite Perspektive
Predigttext: Hebräer 13,1-3 (Übersetzung nach Martin Luther)
1 Bleibt fest in der brüderlichen Liebe.
2 Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.
3 Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.
Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Der 7. Sonntag nach Trinitatis ist dem Abendmahl gewidmet. Wir sind Gäste am Tisch des Herrn. Christus selbst ist der Gastgeber - und die Gabe ist er auch. Das Evangelium lesen wir an diesem Sonntag in Joh. 6.
Hebr. 13,1-3 ist noch frisch in der Perikopenordnung, aber gleich auch ein Glücksfall. Drei Verse, die ein Universum umschreiten. Formal handelt es sich in 13,1-3 um Appelle / Imperative, die einerseits unverbunden nebeneinander stehen, andererseits Geschwisterliebe, Gastfreundschaft und innergemeindliche Solidarität verknüpfen. Bleibt fest! Gastfrei zu sein, vergesst nicht! Denkt an die Gefangenen! Jeder Satz lässt sich allerdings auch einzeln lesen und in ein Motto verwandeln.
In V. 1 steht das Wort philadelphia (Geschwisterliebe, eigentlich Bruderliebe) im Vordergrund, in V. 2. philoxenia (Gastfreundschaft). Hebr. 13,1-3 läutet das letzte Kapitel des Hebräerbriefes ein. „Letzte Ermahnungen“ hat ein kluger Kopf über die VV. 1-19 geschrieben. Doch die VV. 7ff. sind schon keine Ermahnungen mehr, eher eine Vergewisserung, dass Jesus Christus in Ewigkeit ist und wir „hier“ keine bleibende Stadt haben. Eine Grundinformation zum Hebräerbrief ist leicht zu finden: https://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/paulinische-briefe/hebraeer/
Von besonderer Bedeutung ist, das Hebr. 13,1-3 innerkirchlich konturiert ist: es geht nicht um ein Verhalten nach „außen“, sondern um ein Innenverhältnis. Die Gemeinden sind unter sich. Die Gemeinden auch unter sich verpflichtet. Die Geschwisterliebe verbindet die, die zur Gemeinde gehören (vgl. 1. Thess. 4,9f.) und die Gastfreundschaft die Gemeinden unter einander. Die Christen kommen nicht als Fremde, wenn sie Gäste sind. Philoxenia und philadelphia legen sich wechselseitig aus. Gäste sind keine Fremden, obwohl sie (nur) Gäste sind. Diese Verbindung wird dadurch unterstrichen, dass Gäste Engel sein können und Engel Gäste werden. In der Offenbarung des Johannes werden auch die Engel der Gemeinden in besonderer Weise erwähnt – und angeschrieben. 1.2 lässt sich durchaus auch so lesen, dass es eben nicht selbstverständlich war, gastfrei zu sein. Auch aus den frühen Gemeinden wissen wir um Abgrenzungen, soziale Dissonanzen und menschliche Empfindlichkeiten. Aber: wenn Engel kommen könnten … und ihr das nicht einmal wisst?
Engel kommen aus der göttlichen Welt. Sie sind himmlischer Hofstaat. Aber sie sind auch Boten, Mittler, Begleiter. In der Moderne hat es Gott schwerer als die Engel, die wie Sehnsuchtsfiguren überfordert und überschüttet werden. 1.3 erinnert an die gefangenen und verfolgten Mitchristen. „Als wärt ihr Mitgefangene“! In einem parallelen Gedanken werden die misshandelten und missbrauchten Mitchristen in den Blick genommen. „Ihr seid auch verwundbar“. Hier werden Erfahrungen verschränkt und neue Wahrnehmungen eingeübt. Das Phänomen, das später als Christenverfolgung typisiert wird, ist im Hebräerbrief bereits bekannt.
Solidarität ist nur ein unzureichendes Wort für das, was in Hebr. 13,3 erbeten wird: Es geht darum, das Schicksal der Gemeinden und Christen mitzutragen, die verfolgt werden, so, als sei man selber davon betroffen. Wir denken heute an die vielen und nachhaltigen Christenverfolgungen weltweit, die uns in einem Rechtsstaat merkwürdig unberührt lassen. Hebr. 13,1-3 hat eine weite Perspektive trotz der vergleichsweise kleinen Welt, in der der Text zu Hause ist. Die Begegnung der Engel ist auf dem Hintergrund des Bedrohungspotentials mehr als eine „einfache“ Gastfreundschaft. Unverbindlich kann sie nie sein.
In den VV 1-3 lässt sich ein argumentativer Zusammenhang erschließen als Urbild von Kirche: Geschwisterliche Verbundenheit, Überwindung der Fremdheit, Anteil am Leiden. Obwohl nur drei Sätze, die jeder für sich gelesen und verstanden werden kann, sehen wir in ihnen das Programm, alle Gemeinden in einer gemeinsamen Verantwortung zusammenzuführen. Das ist noch nicht die „ganze Welt“, auch nicht die Oikoumene, aber die erste Keimzelle, aus Singularitäten herauszuwachsen. Gemeinsames Merkmal: Hebr. 13,20f. In der Mitte dieses Bildes steht – auch formal - die Gastfreundschaft – und die bewirteten, aufgenommenen und in Anspruch genommenen Engel.
Im Judentum ist die hachnasat orchim (das Hineinbringen der Gäste) bedeutender als das Studium der Tora oder der Gottesdienst. „Rabbi Jehudah sagte in Rabbis Namen: Die Gastfreundschaft ist bedeutender als der Empfang der Göttlichkeit (Schechina), denn es heißt (Gen. 18,3): und er sprach: ‚O Herr, wenn ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, so gehe doch nicht vorüber.‘““ (Babyl. Talmud, Schabbat 127a) Ein Augenmerk liegt auch darauf, dass Israel selbst im Land der Ägypter ein „Fremdling“ war (Gen. 15,13; Ex. 23,9; Lev. 19,34), eine Erfahrung, die tiefe Spuren hinterlassen hat. Die Exoduserfahrung ist ein Indikativ und reicht weit in das Neue Testament. Spuren finden sich besonders im Hebräerbrief.
Der Wochenspruch nimmt das Motiv der von Christus gewährten Gastfreundschaft auf: Eph. 2,19 „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen." Nicht mehr Gäste und Fremdlinge? Es kommt auf die neu geschenkte Sehweise an: Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen sind Engel! Dass Engel Gäste sind, ist dann kein Gegensatz.
Zwei Seitenblicke
1) Gastfrei – Kirche als Herberge
Gastfreiheit ist eines der Zauberworte, die wir kennen. Es ist von Herbergen die Rede und gemeint sind Kirchengemeinden, die sich öffnen. Ohne große Verbindlichkeit – Raum auf Zeit. Bildlich gesprochen, wo eine lange Tafel, ein großer Tisch ist. Ein aktuelles Beispiel (14. Juli 2020) aus der niederländischen Nachbarschaft:
Unter der Überschrift „Ist die Kirche von Roermond die ‚Kirche der Zukunft‘?“ heißt es auszugsweise (übersetzt): „Protestanten in Limburg sind selbst Fremde in einer katholischen Umgebung. Mit dieser Erfahrung ist es vielleicht einfacher, offen zu sein für die, die neu zu uns kommen. Du weißt, wie es sich anfühlt, „fremd“ zu sein. Du kennst die Belastung. Darum sind wir offen für jeden. Und du siehst, wie das unsere Glaubensgemeinschaft verändert.“
„Gastfrei „wird auch in Verbindung mit „bunt“, „vielfarbig“ in einen Satz gefügt. Überhaupt ist das Wort „gastfrei“ überaus spannend und vielsagend. Frei sein, einen Gast aufzunehmen, ist noch nicht die Freiheit, einen Gast zu ertragen oder ihn auszuhalten. Und wie „frei“ ist ein Gast, wie „frei“ darf er sein? Und wie „frei“ ist der Gastgeber in seinem Haus? Wie „frei“ muss er bleiben?
2) Gastfrei – Christus kommt
In der Regel des Hl. Benedikt (6. Jahrhundert) heißt es:
Die Aufnahme der Gäste
- Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus: denn er wird sagen: "Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen." (Mt 25,35)
- Allen erweise man die angemessene Ehre, besonders den Brüdern im Glauben und den Pilgern. (Gal 6,10)
- Sobald ein Gast gemeldet wird, sollen ihm daher der Obere und die Brüder voll dienstbereiter Liebe entgegeneilen.
- Zuerst sollen sie miteinander beten und dann als Zeichen der Gemeinschaft den Friedenskuss austauschen.
- Diesen Friedenskuss darf man wegen der Täuschung des Teufels erst nach dem Gebet geben.
- Allen Gästen begegne man bei der Begrüßung und beim Abschied in tiefer Demut:
- man verneige sich, werfe sich ganz zu Boden und verehre so in ihnen Christus, der in Wahrheit aufgenommen wird.
Zur Predigt
Die Predigt wird Abendmahlserfahrungen aufgreifen können, sie in Hebr. 13,1-3 spiegeln und die Gastfreundschaft Gottes verbinden mit der geschwisterlichen Nähe und dem Mitleiden der Kirche. Unter Coronabedingungen – so zumindest in Aachen – wird es aber nicht möglich sein, Abendmahl zu feiern. Zudem soll der Gottesdienst kurz sein und die Predigt knackig – wie es in einem internen Papier heißt. Eine Predigt über Engel?
Literatur: Manfred Josuttis, Über alle Engel. Politische Predigten zum Hebräerbrief, München 1990; Oliver Gussmann, Couchsurfing für Engel. 7.Sonntag nach Trinitatis Hebr 13,1-3, PMCJK (2019), 299-304.
Gäste beim Abendmahl
Schon schade, dass uns Corona sogar das Abendmahl nimmt. Es ist zu gefährlich, das Brot zu teilen und aus dem einen Kelch zu trinken. Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt. Glücklicher lächeln die Gemeinden, die Einzelkelch haben … Doch, Corona lässt auch da grüßen. Heute schmerzt das besonders. Denn der eigentlich so glanzlose oder auch festlose 7. Sonntag nach Trinitatis ist der Abendmahlssonntag – und das seit langer Zeit. Das Evangelium erzählt, dass Jesus das Brot des Lebens ist. Wir sind Gäste seines Mahles. Er teilt das Brot, er teilt den Becher mit Wein, er teilt mit uns sein Leben, seine Zukunft. Er ist nicht nur der Gastgeber – er ist die Gabe. Wir lassen uns von ihm beschenken. Wir feiern ein Fest – das Fest der Auferstehung! Soll da noch jemand sagen, der Tag sei glanzlos! Wir schauen in den Himmel. Wir schmecken ihn förmlich.
Wenn wir Abendmahl feiern, kommen wir einander näher. Wir schauen uns in die Augen. Wir reichen einander die Hand. Wir bilden einen Kreis. Rund um den Altar – wenn immer es räumlich geht. Aber selbst, wenn der Altar nicht in die Mitte genommen werden kann – unser Kreis ist in der Kirche sichtbar. Eine Gemeinschaft. Selbst, wenn wir uns nicht kennen, sieht man es uns nicht an – und wenn wir einander vertraut sind, hat das so viel in diesem Kreis nicht zu sagen. Wir sind alle – nur Gäste. Gäste unseres Herrn. Gäste des Gekreuzigten.
Darf ich von einem Erlebnis, einer Erfahrung erzählen? Als Student an der Kirchlichen Hochschule Bethel habe ich in der Zionskirche der von Bodelschwinghschen Anstalten den Gottesdienst mitgefeiert. Dann das Abendmahl. Ich bin in einem großen Kreis. Ich kenne keinen Menschen. Neben mir ein Patient aus Bethel. Er hatte ein Lätzchen an. Ein wenig Speichel tropfte aus seinem Mund. Was mach‘ ich denn jetzt? Gehen? Bleiben? Der Kelch wurde durch die Reihe gegeben. Jede, jeder gab jeder, jedem. Ein Augenblick. Ein Augen-Blick. Die Spendeworte: Christi Blut, für dich vergossen. Und dann gab mir der Mann den Kelch, nachdem er aus ihm getrunken hatte, stotterte Jesu Wort – ich weiß noch, wie liebevoll er mir den Kelch gab. In der Runde waren noch andere Kranke, Behinderte – sie mussten nichts verstecken. Sie mussten sich nicht verstecken. Im Kreis standen auch Ärzte, Pfarrer, Professoren, Betheler. Ein bunter Reigen. Ich war fremd –und aber wieder auch nicht. Es war eine so schöne Erfahrung, dass sie mich bis heute trägt. Ich habe gesehen, wie das ist, Gast zu sein. Gast unseres Herrn. Gast des Gekreuzigten.
Aber keine Sorge: Sie können gerne, wenn wir wieder Abendmahl feiern, das Brot eintauchen. Die Erfahrung, Brot und Wein miteinander zu teilen, bleibt uns auch so geschenkt.
Engel zu Gast
Aber wussten Sie, dass Gäste auch Engel sind? Oder sein können? Tatsächlich finden wir dieses Bild in einem Text, der uns heute den Gottesdienst prägt. Am 7. Sonntag nach Trinitatis, Abendmahlssonntag. Er steht am Ende des Hebräerbriefes im 13. Kapitel. Und: es sind die Verse 1-3: Bleibt fest in der brüderlichen Liebe. Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.
Klar doch, auf dieses Bild fliegt man direkt: Engel beherbergen. Und dass ohne unser Wissen? Ohne Vorbereitung? Ohne Zeremoniell? Gut ist auch, dass dieses Bild mittendrin steht – und eben alle Blicke anzieht. Eingerahmt werden die unbekannten Engel von Imperativen – oder Appellen: Bleibt fest! Gastfrei zu sein, vergesst nicht! Denkt an die Gefangenen! Eigentlich könnten wir auch jedem Satz auch ein Motto machen – oder eine Werbekampagne. Dickt gedruckt, farbig und großflächig. Im Fernsehen, auf Plakatwänden, auf Flyern und – vielleicht mit Musik unterlegt – im Radio. Die große Überraschung: die meisten Menschen werden nicht das Gefühl haben, etwas grundlegend Neues zu erfahren – und dass die Kirche dahinter steht. Steht die Kirche dahinter? Es lohnt sich, genauer hinzuschauen, die Worte abzuwägen und eine Kette zu bilden, die – wie eine gute Kette – auch alles zusammenhält.
Die Reihung beginnt mit der Aufforderung – oder Bitte -, in der brüderlichen Liebe fest zu bleiben. Wir übersetzen gleich weiter, ohne das griechische Wort zu strapazieren: geschwisterliche Liebe. Wenn ich daran denke, dass die Christen, die hier angesprochen werden, eben nicht verwandt waren, sondern Fremde, geht mir auch der Reiz dieser Formulierung auf: Wir sind Geschwister. Was uns verbindet? Wer uns verbindet? Christus.
Aber die Mahnung – nennen wir sie ruhig so – in der Liebe fest zu bleiben, verrät schon mehr als wir auf Anhieb merken: Liebe wird irgendwann alt und verbraucht. Die schönen Worte sind da, werden auch regelmäßig, pathetisch oder auch einfach langweilig, aus dem Hut gezaubert. Doch die sozialen Unterschiede haben längst angefangen, auch die christliche Gemeinde zu teilen, vielleicht sogar zu zerreißen. Offen darüber zu reden, dafür fehlen die Worte. Glücklich der Mensch, der wenigstens noch die Worthülsen hat. Im schlimmsten Fall werden Menschen wieder Fremde – geduldet, gewiss, aber nicht willkommen. Dann schmeckt es nicht mehr, Gast zu sein. Es ist eine Erinnerung, die alles Leben bestimmt: Bleibt fest in der geschwisterlichen Liebe. Dass sie auch Streit einschließt – wer wüsste es besser als Brüder und Schwestern.
Wir kennen den Briefschreiber nicht! Schade! Ich will Ihnen nicht erzählen, was die klugen Leute, die sich mit diesem Brief eingehend beschäftigt haben, herausgefunden haben. Aber mir gefällt, wie er gegen Ende seines Briefes so manchen Gedanken, den er breit ausgeführt hat, zu bündeln versteht. Es ist ein Brief an eine Gemeinde, eine frühchristliche Gemeinde in neutestamentlicher Zeit. Alles ist noch ganz frisch, was im Namen Jesu geschieht und aufgebaut wird. Eine Kirchengeschichte gibt es noch nicht. Eher viele einzelne Versuche, sich zu treffen, Gottesdienst zu feiern – und Leben miteinander zu teilen. Es gibt auch noch keine gemeinsamen Regeln – und schon gar keine großen theologischen Entwürfe, über die man sich zerstreiten könnte. Später gab es ganz viele davon. Aber das ist eine andere Geschichte.
Während wir in unserer Landschaft überall Kirchtürme sehen, unendlich viele Gottesdienste feiern können und im Internet präsent sind, dass uns die Seiten platzen, sind die kleinen Gemeinden in der Frühzeit weit verstreut. Würden wir eine Landkarte mit Stecknadelköpfen verzieren – manchmal liegen Tagereisen zwischen den Orten, an denen sich Christen zusammenfinden. Es gibt auch noch keine Adressen, Pfarrer und Gemeindebüros. Wenn aber die Christen einander besuchten, war das manchmal abenteuerlich, zumindest für viele weit weg von zu Hause. Das passt jetzt, das muss sein: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“. Dass Menschen, die sich nicht kennen, Fremde sind, ahnen wir. Dass sie als Christen Gäste werden, verändert den Blick. Sie werden auch nicht gleich wieder gehen können. Sie müssen verpflegt werden. Vielleicht sogar übernachten. Für eine kurze Zeit finden sie Herberge, einen Unterschlupf, Familienanschluss. Die orientalische Gastfreundschaft ist sprichwörtlich. Nach jüdischem Verständnis ist das Hereinbringen der Gäste – die hachnasat orchim – sogar bedeutender als das Lesen der Hl. Schrift, als der Gottesdienst.
Alte Erinnerungen tauchen auf, auch im Hebräerbrief. Die Erinnerung, wie das ist, fremd zu sein, kein Zuhause zu haben, nicht dazu zu gehören. Es sind ganz elementare Erfahrungen, die verbunden werden mit dem Besuch der Engel. Nein, es kommen nicht Fremde – es kommen Engel! Das gibt den Gästen eine eindrückliche Entdeckung mit: sie sind den Boten Gottes gleichgestellt. Sie gehören zum himmlischen Hofstaat. Sie kommen aus dem Himmel. Wie müssen sich Fremde fühlen, wenn sie so empfangen werden? Selbst Könige werden nicht so empfangen wie Engel! Was das heißt, bringt so ziemlich alles durcheinander, was Menschen sich gesellschaftlich so ausgedacht haben. Unser Wochenspruch bringt uns das eindrücklich nahe (Eph. 2,19): „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.”
Obwohl die Nachrichten länger laufen mussten, um anzukommen, lag eine Spannung in der Luft. Christ zu sein, sich zu Christus zu bekennen, eine Gemeinde zu bilden, wurde als Widerspruch aufgefasst. Als Widerspruch zur Staatsreligion, zur Staatsraison, zur Tradition. Christen wurden verfolgt und misshandelt. Nicht überall, nicht immer, doch die Gefahr lag im Raum. Bis in unsere Tage werden weltweit Christen bedroht, zur Flucht getrieben, gar zum Tode verurteilt. Im Hebräerbrief heißt es: Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.
Die, die geschützt zusammenkommen, Gottesdienst feiern und ihren Glauben leben, sollen an die denken, die um ihres Glaubens willen verfolgt, angefeindet und misshandelt werden, die Gewalt erleiden. Geschwister! Geschwisterliebe! Es ist ein einfacher Satz, der so vieles offen lässt: Wie kann man mitleiden? Wie kann man solidarisch sein? Obwohl der Brief nicht viel dazu sagt, wissen wir von den Christen, dass sie gebetet haben. Sie haben die Namen der Menschen, die litten, in ihren Gottesdiensten vor Gott gebracht, ihn um sein Erbarmen angerufen. Wenn Hilfe nötig war, haben sie sie gewährt. Gastfreundschaft in der Bedrohung. Und: Engel werden nicht nur in Empfang genommen, Engel kommen, Engel gehen. Zu den Menschen, die einen Boten aus dem Himmel sehnsüchtig erwarten – und alleine sind.
Jetzt überschauen wir die drei kleinen Verse, die ein Bild ergeben. Das Bild einer Gemeinde, einer Kirche, die geschwisterlich in Liebe verbunden ist, Engel beherbergt und mit den Menschen mitleidet, die verfolgt und missbraucht werden. Wir lesen zwischen den Worten eine große Sensibilität. Für die Bedrohungen, für das Unheil, für die Angst. Geschwisterliebe, Herbergen für Engel und Solidarität werden zu Kennzeichen der Christen in und zwischen den Gemeinden. Obwohl weit verstreut: es ist ein Netz. Ein Netz, das verbindet. Ein Netz, das trägt. Ich möchte das mit jedem Kirchturm sehen, der unsere Stadtbilder und Landschaftsbilder prägt. Drei Imperative: Bleibt fest! Gastfrei zu sein, vergesst nicht! Denkt an die Gefangenen!
Es ist schön, ein Gast zu sein
Heute sind viele Menschen unterwegs. Es ist Ferienzeit. Zeit für Gastgeber – und Gäste. Damit verbindet sich, unterwegs zu sein, eine Herberge zu suchen. Ein Dach über dem Kopf. Oder ein Zelt. Auch im Gottesdienst sind auf einmal Gäste. Fremde? Gäste sind wir alle. Wenn wir Abendmahl feiern, bilden wir einen großen Kreis. In unserer Mitte ist Christus. Im Hebräerbrief heißt es –im selben Kapitel – wie ein krönender Schluss (Hebr. 13,8.9.13.14): „Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade… So lasst uns nun zu ihm hinausgehen… Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“.