Ein Brief zur rechten Zeit
Gedanken des Friedens und nicht des Leides für eine gute Zukunft
Predigttext: Jeremi 29,4-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision)
1 Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte – 2 nachdem der König Jechonja und die Königinmutter mit den Kämmerern und Oberen in Juda und Jerusalem samt den Zimmerleuten und Schmieden aus Jerusalem weggeführt waren –, 3 durch Elasa, den Sohn Schafans, und Gemarja, den Sohn Hilkijas, die Zedekia, der König von Juda, nach Babel sandte zu Nebukadnezar, dem König von Babel: 4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: 5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; 6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. 7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. 8 Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! 9Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR. 10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. 11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. 12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. 13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, 14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.
Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Den vorgeschlagenen Zuschnitt des Textes, die VV 8+9 auszuklammern, halte ich nicht für angemessen, auch sachlich nicht begründet. Grund: V. 7 braucht zwei „denn“-Argumentationen. Jedenfalls, unabhängig von literarkritischen Erwägungen, ist die kanonische Form geschlossen und kunstvoll.
1. Die VV 8+9 stellen eine Einrede dar, die überwunden wird: Es gibt Propheten, die Jeremias Brief konterkarieren, eine Gegenposition vertreten und der Stadt Bestes nicht suchen (V.7).
2. Die VV 10-14 entwickeln, wie Gott sein gnädiges Wort „an euch erfüllen“ will. Es ist von einem Neuanfang die Rede und von „Zukunft und Hoffnung“.
Beide Anfänge – in V. 8 wie in V. 10 – setzen mit einem „denn“ ein, um dann in Negation („lasst euch nicht betrügen“) und Position („ich will euch heimsuchen“) die VV 4-7 zu begründen und auch argumentativ zu sichern.
Die VV 1-3 verorten den „Brief“ – von dem später allerdings nicht mehr die Rede sein wird - , Jeremias an die Ältesten, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, die „weggeführt waren“ (V.1, V.2).
V. 4 setzt neu an: Gott selbst, der Herr Zebaoth, der Gott Israels (!), spricht die Weggeführten an – die ER hat wegführen lassen! VV 1 + 2 erwähnen, dass sie „weggeführt waren“ – jetzt erweist sich die Wegführung als von Gott veranlasst. Vgl. auch VV 7 + 14.
Gliederung:
V. 4 Erste Gottesrede: Ansprache-Formel
VV 5+6 Weisungen, heimisch zu werden
V. 7 Schlussfolgerung
VV 8+9 Widerwort
VV 10+11 Zweite Gottesrede: Verheißung des Friedens
VV 12+13 Heilvolle Reaktion
V. 14 Universales Heilswort
An mehreren Stellen merkt der Exeget die Bearbeitungsspuren, die aber nicht darüber hinwegtäuschen können, das der Text, die Texte, gut zusammengewachsen sind. Eine Bewegung wird sichtbar, in der einerseits die Beheimatung in der Fremde ein existentielles Thema ist, andererseits die Befreiung aus der Gefangenschaft – dann sogar, in V. 14, „aus allen Völkern und von allen Orten“, also weit über das babylonische Exil hinaus. Hier wird der Ausleger nicht umhin können, sogar eine eschatologische Perspektive wahrzunehmen, die in Jer. 29 angesprochen ist, aber mit Jer. 29 nicht in Erfüllung geht. Hier hat die Verheißung einen Mehrwert, der sich nicht darin erschöpft, aus Babylon zurückzukehren – oder, im Sinn des Textes, aus Babylon geführt zu werden.
Die VV. 4-7 sprechen sehr handfest von Häusern und Gärten, von Heiraten und Geburten. Und das in der Fremde, in Babylon. Wer Häuser baut und Gärten anlegt, will bleiben, wer heiratet und Kinder bekommt, stellt sich auf eine neue Heimat ein, unabhängig davon, wie es mit seiner alten einmal war. Die Kinder (und Enkel) mögen die Erzählungen kennen, aber ihr Lebensumfeld erschließt sich an einem Ort. Was das heißt, haben viele Menschen nach Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert gelernt. Viele müssen es auch heute noch lernen. Es ist homiletisch unumgänglich, sich mit dem vertraut zu machen, was heute „Migrationshintergrund“ genannt wird. Es ist die Frage nach der Heimat in der Fremde. Jer. 29 spiegelt eine uralte menschliche Erfahrung – und den heilvollen Umgang mit ihr.
Dass Häuser gebaut, Gärten angelegt, Familien gegründet werden und Generationen folgen, wird in Jer. 29 geradezu projektiert. Jedoch: was heißt „nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären“ (V5f.)? Unter sich? In der eigenen Community? Oder auch mit Babyloniern, Fremden…? Nach orientalischem Brauch wird wohl das Letztere unwahrscheinlich sein, aber auch nicht ausgeschlossen! Jedenfalls legt V. 7 nahe, „der Stadt Bestes“ zu suchen – also nicht nur still und ruhig sein Plätzchen auszufüllen, sondern aktiv an der Gestaltung menschlicher Gemeinschaft und Gesellschaft beteiligt zu sein bzw. in der ersten Reihe mitzumachen. V. 7 besetzt die Stadt geradezu als von Gott ausersehen („dahin ich euch habe wegführen lassen“). Also: 1. Wahl! Dann heißt es: „betet für sie“! Wer vor Gott, vor dem Gott Israels (V. 4), für Babel bittet, stellt diese Stadt mit Jerusalem zusammen in einen heilvollen Zusammenhang. Ohne dass es eigens gesagt wäre oder gesagt werden müsste, erweist sich im Gebet eine „Völkerverständigung“ eigener Art.
Wer für Babel bittet, gibt Babel nicht auf. Dass Gott sein Volk nach Babel weggeführt hat, nimmt Babel auch den Charakter einer eigenständigen Geschichtsmacht – ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren oder Babels Ehre, Selbstbild oder Vermessenheit herauszustellen. Das geschieht später. Auch Gott macht den zweiten Schritt nicht vor dem ersten. V. 7 gipfelt in der Gewissheit: „wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.“ Israels Wohlergehen wird in der Fremde zum Wohlergehen der Fremden – und umgekehrt. Im Umkehrschluss: wenn es Babel schlecht geht (was wohl manche wünschten und ersehnten), dann geht es auch Israel schlecht (was jede Form von Genugtuung oder Schadenfreude ausschließt).
Jetzt erweisen sich auch die VV. 8+9 nicht nur als später eingefügtes Zwischenstück, das auch wieder herausgeschnitten werden könnte. Die VV haben eine hermeneutische Funktion, die vorhergehenden VV aufzuschließen, in dem sie in der Widerrede die Lüge aufdecken, die immerhin im Namen Gottes professionell aufgestellt wird mit Propheten, Wahrsagern und Träumern. Schon diese Zusammenstellung entlarvt jede falsche Hoffnung. So richtig es ist, dass die VV. 8+9 in ihrem Sitz im Leben „offen“ bleiben, so richtig ist es auch, dass sie an dieser Stelle „der Stadt Bestes“ wollen. Homiletisch ist denkbar, ausgehend von diesen Propheten, Wahrsagern und Träumern, die überall präsent sind, der Verheißung Raum zu geben, „der Stadt Bestes“ zu wollen und für sie beten, um in und mit ihr Wohlergehen zu teilen. Es ist nicht schwer, diesen Propheten, Wahrsagern und Träumern mit ihren Statements Gesichter und Stimmen zu geben. Was Fremde bedeutet, wie wir mit Fremden umgehen, an wie vielen Stellen wir Fremde sind, lässt sich nicht nur in Babel entdecken.
Die VV 10-14 schließen mit dem berühmten „denn“ (in den prophetischen Überlieferungen besonders ausgeprägt) auch an V. 7 an, um dann eine ganze neue Perspektive auszubreiten:
V. 10 setzt auch wieder mit einer Gottesrede ein. Die Zeit in Babel ist begrenzt. Ein Zeitraum wird genannt, durchaus mit symbolischer Bedeutung: 70 Jahre. Es geht jetzt darum, dass „mein gnädiges Wort“ an „euch“ erfüllt wird, was kontextualisiert nichts anderes heißt, „euch wieder“ an diesen Ort zu bringen. Was ist das aber für ein Ort, der als „dieser“ zwar charakterisiert, aber nicht näher bezeichnet wird? Alte Heimat? Neue Heimat? Man könnte zwar von der Heimkehr in das gelobte Land sprechen, aber gesagt wird das nicht. Dieses Fragezeichen ist verwirrend, die Formulierung fast schon sybillinisch. Aber ist diese Offenheit nicht „Gegenstand“ der Verheißung? Geht es überhaupt um einen Ort? Und was heißt jetzt 70 Jahre? V. 10 hebt das „gnädige Wort“ hervor, konkretisiert in V. 11: Gott hat Gedanken des Friedens, nicht des Leides, Gott gibt „Zukunft und Hoffnung“.
Die Frage bleibt, wo das ist, wo das sein kann, wann das ist, wann das sein kann. VV 12-13 lösen die Blicke von einem Ort: „Ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten … ihr werdet mich suchen und finden…“ Gott selbst, der Gott Israels (!) wird zu einem Ort, der gesucht und gefunden wird, der angerufen wird und der erhört. Eine gewagte Interpretation? Die Konkretion, Häuser und Gärten wieder zu verlassen, ist je nach Betrachtung des Exils – es gibt mehrere davon – verführerisch. Aber Jer. 29 suggeriert zwar die Möglichkeit, diese Spur zu finden, wendet sie aber gleich um. V. 14 ist exegetisch eine Herausforderung: Nach den VV 12 und 13, in denen Gott gesucht und gefunden wird, ist in V. 14 von einer gewendeten Gefangenschaft die Rede, dann aber heißt es: „Ich will euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der Herr, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.“ Hier ist – noch einmal - „dieser Ort“, der in seiner Mehrdeutigkeit nicht so recht weiß, wo er im Atlas zu finden ist.
Der ganze textliche Zusammenhang transzendiert den Ort. Aufschlussreicher ist das Wechselspiel in den VV 12-14: „Ihr werdet mich anrufen, ihr werdet hingehen, ihr werdet bitten, ihr werdet mich suchen und finden“ Dann: Ich will euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, ich will euch wieder an diesen Ort bringen. In dem „ihr“ und „ich“ bekommt die Gottesrede verheißungsvolle Gewissheit. Gott spricht als der Herr Zebaoth, als der Gottes Israels, sein Volk an. Ein besonderes Gewicht bekommt der Ort dann aber in dieser Gottesrede doch: „von allen Orten“ – „an diesen Ort“. Dieser Ortsbezug wird in der Gottesrede gedeutet: „Von allen Orten“ heißt, „wohin ich euch verstoßen habe“ – und „an diesen Ort bringen“ heißt, „von wo ich euch habe wegführen lassen“.
Zukunft und Hoffnung (V. 11) werden so mit Jerusalem verbunden, ohne aber in Jerusalem aufzugehen. Schließlich ist die Wendung „aus allen Völkern und von allen Orten“ auch von Babel schon gelöst. V. 14 formuliert einen „Überschuss“ der Zukunft Gottes, die viele Orte kennt und viele Völker einbezieht. Frage: Wie kann die prophetische Predigt, Jer. 29, hier: VV. 10-14, in Babel gehört und verstanden werden, wenn vorher (und womöglich nachher) Häuser gebaut und Gärten angelegt werden, Ehen geschlossen und Kinder (oder Enkel) geboren werden (VV. 4-7)?
Die Möglichkeit, dass die VV 4-7 nur eine Zwischenstation sein könnten, ist zwar nicht ganz ausgeschlossen, aber die VV 10-14 verstehen sich nicht als eine lineare „Wegführung“, schon gar nicht als Relativierung. Der Prediger, die Predigerin ist gut beraten, die Geschichte nicht abzuschließen, auch nicht Vergangenheit und Zukunft einzugrenzen. 70 Jahre übrigens stehen für ein Menschenleben – ein zweites habe ich nicht.
Die einfachste und schlüssigste Lesart ist, die VV 10-14 in den VV 4-7 unterzubringen (2 x „denn“) und Gott selbst als den „Ort“ zu bezeugen, den wir suchen und finden. Die Formulierungen „Ihr werdet“ und „ich will“ geben der Verheißung eine Struktur und eine – ausgesprochene, zugesagte – Verlässlichkeit. Zweifel sind nicht einmal möglich. Die VV 8 und 9 stehen nicht umsonst in der Mitte. Kann uns Jer. 29 helfen, unter „Coronabedingungen“ zu leben, „der Stadt Bestes“ zu suchen und den vielen falschen Propheten und Wahrsagern ein Wider-Wort zuzumuten?
Prof. Hans-Joachim Höhn hat vor der Karl-Rahner-Akademie in Köln einen Vortrag gehalten mit dem Titel: „Immun oder angesteckt? Lernen aus Corona – Konsequenzen für die Kirche“, der unter https://www.karl rahner-.de/fileadmin/ user_upload/ Angesteckt_oder_immun.pdf nachgelesen werden kann.
Häuser bauen und Gärten anlegen
Ein Traum! Ein eigenes Häuschen bauen, natürlich mit Garten, schön angelegt. Einen lieben Menschen heiraten. Kinder bekommen. Irgendwann Enkel… Glück ein ganzes, langes Leben. Ein Traum. Von der Arbeit könnten wir jetzt auch reden, von Hobbies, von Ferien, von … so vielem. Von Brüchen auch. Von Enttäuschungen. Aber der Traum bleibt: Ein eigenes Häuschen bauen, natürlich mit Garten, schön angelegt.
Es ist das private, kleine Glück. Notfalls können wir uns sogar gegen die böse Welt einigeln, unter uns bleiben, uns zurückziehen. Aber in Coronazeiten? Auf einmal ist nicht nur vieles, es scheint alles anders zu sein. Die Zahlen steigen, die Ängste auch. Gebannt schauen wir auf Maßnahmen, die – wie es heißt – verhängt werden. Die Diskussionen, die Zweifel, die Wut kennen wir auch. Das Bier in der Kneipe, das Fußballspiel, schöne Feiern erweisen sich als fast noch größere Träume als Haus und Garten. Und oft ist Traum, was nicht mehr geht. Bevor zum Albtraum wird, was über meinem Kopf zusammenfällt. Ich freue mich darum, dass wir heute einen Brief bekommen. Er ist nicht einfach für uns bestimmt – er ist gut 2.600 Jahre alt. Aber alles, was in ihm steht – genial. Veraltet? Nein, so aktuell, dass wir ihn heute von Hand zu Hand gehen lassen können. Die ganze Welt muss ihn kennen. Diesen Brief.
„Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte…“ Eine unselige Zeit. Häuser und Gärten waren verloren, Familien auseinander gerissen, Hoffnungen kaputt. Wie die Stadt Jerusalem. Die Mauern niedergerissen, der Tempel verbrannt, die Menschen ohne Hoffnung – deportiert. Fußmärsche wie die nach Sibirien! Und Gott ist mitgegangen. In der jüdischen Überlieferung gibt es dazu viele schöne Geschichten. Wie die, dass er die Rucksäcke getragen hat, Kinder auf den Arm nahm – aber immer hinten geblieben ist.
Jeremia weiß sogar zu schreiben, dass Gott hinter dieser Geschichte steht, in die Israel – nicht ohne eigene Schuld – geraten ist. Darüber haben die Menschen auch in Babyon lange nachgedacht. Schuldzuweisungen inklusive. Jetzt kommt der Brief. Mehr als ein Lebenszeichen – Evangelium! Marduck, der Gott der Babylonier, der sich so imposant zur Schau stellen lässt, wird mit keinem Wort erwähnt. Es ist der Gott Israels, der Herr Zebaoth, der die Fäden in der Hand behält – und Menschen auch in einer katastrophalen Situation neues Vertrauen schenkt, Mut macht und die Geschichte tatsächlich wendet.
Der Stadt Bestes
Häuser bauen und Gärten anlegen, heiraten und Kinder bekommen, das kleine und doch so große Glück – wo, wenn nicht auch in der Fremde, in Babel! „So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.“
Was machen Menschen, wenn sie sich nicht mehr zu Hause fühlen, als Opfer sehen, von der Geschichte überrollt werden, sogar von Gott vergessen wähnen? Sie können fluchen, hassen, klagen. Sie können sich auch aufgeben. Sie gehen können sich gehen lassen. Oder: Häuser bauen … Da kommt der Brief zur rechten Zeit! Es ist zwar eine verwickelte Geschichte, zugegeben. Aber was die Menschen lesen, was sie sich zu Herzen nehmen, worüber sie sprechen können: Gott hat gute Ideen für sie und ganz praktisch. Mitten in Babylon wehen unsere Fahnen. Von Gottergebenheit oder so – keine Rede! Sich ins Zeug legen, mutig und verwegen den Platz im Leben einnehmen!
Doch jetzt wird es auch richtig spannend. Das kleine – oder auch große – eigene Glück wird mit dem Glück anderer Menschen zusammengelegt. Nein, mit dem Wohlergehen einer ganzen Stadt. Mehr noch: mit dem Wohlergehen, mit dem Glück Babels. Alle Fremdheit, die sich längst eingenistet hat, weicht einem neuen Zutrauen. Der Stadt Bestes meint: Frieden. Schalom. Kein Platz für Sabotage. Kein Platz für Vorurteile. Kein Platz für Hass auf alles und jeden. Der Stadt Bestes meint, auf einander zuzugehen, Geschichten zu tauschen, einander zuzuhören. Babel, so mächtig und groß, hat dunkle Flecken. Hier leben viele Menschen, auch viele Menschen aus eroberten Reichen – modern: Babel steht nicht nur für Sprachverwirrung, Babel hat viele Migrationshintergründe. Eine Weltstadt mit Abgründen. Wissen Sie, dass Babel heute im Irak ist?
Aus Jerusalem, einer verwundeten Stadt kommt der Brief, der „der Stadt Bestes“ für Babel will. Mit Häusern und Gärten, Familien und dem unbeschwerten, fröhlichen Lachen der Kinder. Das sagt der Herr Zebaoth, der Gott Israels! Merkwürdig: er braucht keinen Tempel mehr. Er ist dort ausgezogen. Oder: er hat sich auch vertreiben lassen. Wie die anderen, wie die Menschen.
Wahrsager
Ich habe mir jedes Wort überlegt. Ob ich nicht doch einiges geschönt habe? Es gibt doch Geschichten, die nur schrecklich sind. Aber ohne Perspektive leben, aus dem Bann kleiner oder auch großer Geschichten nicht mehr herausfinden, Opferrollen pflegen? Gott hat da einen anderen Weg. Mit uns. Aufmerksames Hören, Abwägen, weise Entscheidungen legt er uns an’s Herz. Hier tauchen dann auch die Wahrsager und falschen Propheten auf, die wohl zu jeder Zeit mit alternativen Fakten Stimmung und Geschäfte machen. Jeremia hat sie voll im Blick. Sogar hunderte km weiter. Und das ohne Internet!
Obwohl wir so viel gar nicht wissen von den Verwirr- und Ränkespielen im fernen Babel – eine feine Spur führt uns doch dahin. Nein, nicht der Stadt Bestes – mein Bestes! Das Beste unserer Gruppe. Das Beste unserer Altersgruppe. Das Beste unserer Geschäfte. Das Beste … Das Beste von unserer Freiheit. So unklar die großen Worte – so gefährlich die Trennungen, die Abgrenzungen, die nicht einmal verbrämte Ignoranz. Jeremia schreibt: „Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen!“
Corona hat inzwischen so viele Interpreten, dass wir Interpreten der Interpretationen brauchen, die jeden Tag in immer neuen Variationen Verunsicherungen, Zweifel und Ängste schüren, obwohl sie sie nehmen wollen. Unter der Hand passiert, was keiner will. Es ist schwer, eine gemeinsame Meinung herauszuhören, noch schwerer, einen gemeinsamen Weg zu sehen. Die Konsequenzen tragen wir alle. Corona trennt, Corona bringt auseinander, Corona nimmt Köpfe und Herzen gefangen. Mal mit einfachen, simplen Verschwörungstheorien – mal mit wissenschaftlichem Zahlenwust und Rechenkünsten. Was ist der Stadt Bestes? Meiner Stadt? Ich habe mich in ihr häuslich niedergelassen. Ich kenne die Straßen. Ich kenne viele Menschen. Viele Gesichtspunkte, Interessen und Risiken sind abzuwägen. Dabei fallen Risse auf. Träume? Träume auch. Träume, die in Erfüllung gehen sollen, Träume, die zerplatzen, Träume, die vererbt werden. Morgen…
Doch es ist mehr als ein Traum, Menschen zu schützen, sich der Schwachen anzunehmen und nicht zuletzt, auch der Wirtschaft ihren Raum zu erhalten. Der Stadt Bestes hat so viele Seiten wie Menschen, Geschäfte und Sprachen. Für Menschen, die arbeiten, die gerne arbeiten, die Arbeit brauchen. Die sich ein Zuhause einrichten, vielleicht auch den Garten hinter dem Haus. Die den Familienunterhalt sichern. Die sich um die Kinder sorgen. Die das, was sie – oft hart – erkämpft haben, nicht verlieren wollen. In der Situation sind Konflikte vorprogrammiert.
Viele Menschen, die als Fremde wahrgenommen oder auch diffamiert werden, werden zu Lückenbüßern, Konkurrenten oder Gegnern. Vielleicht sogar Feinde. Sie nehmen uns etwas weg, steht in unsichtbaren Sätzen über die Horizonte geschrieben. Ein Brief des Vertrauens wird nicht geschrieben. Jeremias Brief fehlt. Dabei gibt es Wahrsager – sogar mit akademischen Würden -, die ihre eigenen Wahrheiten zum Maß aller Dinge machen, falsche Sicherheiten zumindest in Kauf nehmen und anderen Menschen Blasen schenken, in denen sie unter sich bleiben können. Wenn sich die Träume mit der Angst verbünden, gewinnt immer nur die Angst, nie der Traum. Hört nicht auf die Träume …
Gedanken des Friedens
Und wie geht es in Babel weiter? Schon schade, dass wir keinen Menschen dort kennen, mit keinem auch reden können. Viele Biographien sind einfach verschwunden. Dafür können wir mit ganz vielen Menschen reden, die ein ähnliches Schicksal erlebten – und immer noch erleben. Vertriebene. Flüchtlinge. Manchmal leben sie unerkannt neben uns. Oft sind sie auch weit weg. Dann sehen wir ihre Gesichter im Fernsehen. In schnellen Bildern, in kurzen Sequenzen, in abgehackten Sätzen. „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ In Babel, in Syrien, in Libyen, im Libanon, im Irak – Zukunft und Hoffnung. Frieden. Kein Leid.
Die Menschen in Babylon hören das zum ersten Mal. Zauber eines neuen Anfangs? Zu Hause, in Jerusalem und Umgebung, lief das Leben wie am Schnürchen. Aber Frieden gab es nicht. Wohl viel Leid. Die Gesellschaft war zerrissen. Die Mächtigen konnten mehr oder weniger machen, was sie wollten – die einfachen Menschen mussten sich fügen. Die Kluft zwischen arm und reich ist immer größer geworden. Gott durfte Garant der Ordnung sein, die längst keine Ordnung mehr hatte. Dann brannte der Tempel. Die alten Selbstverständlichkeiten, das fromme Gerede, die arrogante Selbstsicherheit – verrußt und verräuchert. Eine Ruine.
In Babel erfahren die Menschen, bunt zusammen gewürfelt, längst ohne Ansprüche und Rechtstitel, was Gott ihnen zusagt: Gedanken des Friedens und nicht des Leides. Nicht nur für sie. Wie ein Lichtblick in fremder Umgebung. Mit Häusern und Gärten. Mit Kinderlachen. Mit Opa und Oma. Gedanken des Friedens, Zukunft und Hoffnung – der Stadt Bestes! Und das in – Babel! Im Brief heißt es: „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.“ Mancher, der das hörte, wird mit den Zähnen geknirscht haben. Für Babel beten? Babel Gott befehlen? Babel ehren? Die Fürbitte kennt keinen Fluch. Es ist wohl diese Bewegung, die diesem Brief auch nach so langer Zeit Glanz verleiht: Was wir suchen, auch suchen sollen, hat Gott schon in seinen Gedanken wohlgeordnet: Frieden. Nicht Leid. Hoffnung. Zukunft.
Ein Ausblick
Ein Traum! Ein eigenes Häuschen bauen, natürlich mit Garten, schön angelegt. Einen lieben Menschen heiraten. Kinder bekommen. Irgendwann Enkel… Glück ein ganzes, langes Leben. Ein Traum. Am Ende steht eine Aussicht: Gott bringt alles Verlorene wieder zusammen. Von weit her. Aus allen Völkern. Auch aus Babylon. Israel ist nicht verloren. In der Vorrede zum Abendmahl heißt es, dass wir mit allen, an allen Orten, zu allen Zeiten Gott loben.
Ungewöhnlich ausführlich bei der Exegese und Predigt, aber sehr interessant und verständlich verfasst Pfarrer Wussow seine Predigt über einen anspruchsvollen Bibeltext von Jeremia. Er beginnt mit unserer Sehnsucht nach dem kleinen privaten Glück. Dann spricht er über die unselige Zeit, welche Jeremia mit Babylon erlebte. Es folgt die positive Verheißung des Jeremia. Sie wird aktuell angewendt auf unsere Corona- Seuchen-Zeit. Gedanken des Friedens folgen hoffnungsfroh für uns heute. Rhetorisch geschickt kommt der Prediger zum Schluss wieder auf seinen Anfang zurück. Eine wertvolle Predigt in schwerer Zeit, klar, verständlich und prägnant formuliert und mit christlichem Tiefsinn.