Notwendige Abschiede
Vom Weizenkorn zum Brot des Lebens
Predigttext: Johannes 12,20-24 (Übersetzung nach Martin Luther)
Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. Die traten zu Philippus, der von Betsaida aus Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus gerne sehen. Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen‘s Jesus weiter. Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Zur Predigt
In der Luthergemeinde haben zwischen 4. Advent und Invokavit keine Präsenzgottesdienste stattgefunden. Zum Sonntag Lätare sind deswegen insbesondere Angehörige der in diesen Wochen Verstorbenen zum Verstorbenengedenken eingeladen worden. Dies schlägt sich in der Schwerpunktsetzung dieser Predigt nieder. Diese konzentriert sich im Wesentlichen auf den Wochenspruch am Ende des Predigttextes, greift aber den Gesamtzusammenhang der Perikope auf. Denkbar wäre in der Verarbeitung dieses Predigtentwurfs auch, diese Perspektive zu verkürzen und die christologischen Auslegungsansätze stärker zu entfalten.
Zur exegetischen Vorbereitung stand mir der ÖKT von Jürgen Becker (1981) zur Verfügung.
Abschied, Sterben, Tod, all das macht traurig. Ein Mensch geht, der uns etwas bedeutet hat, den wir um Rat haben fragen können, der uns Nähe und Geborgenheit geschenkt, Schritte mit uns gegangen ist. Gemeinschaft bricht ab, die uns etwas bedeutet hat, die ein Teil unseres eigenen Lebens war.
I.
Auch ohne Sterbefälle hat die Corona-Pandemie uns viele Abschiede abgerungen. Abschied von so vielen Selbstverständlichkeiten: vom Handschlag, von der Chorprobe, vom morgendlichen Gang zur Schule oder ins Büro, von der Reise, vom Gang zur Christmette, vom großen Familienfest anlässlich eines runden Geburtstags und so vielem mehr. Jeder und jede hat eine eigene lange Liste, was uns in den Corona-Monaten „gestorben“ ist.
Und dann sind da noch die vielen kleinen Tode, die ich sterben muss, wenn ich mal etwas wegschmeißen muss. Ich nehme es zur Hand – die Schüssel aus dem Spanienurlaub mit dem Sprung, das Liedblatt von dem wunderbaren Ostergottesdienst vor drei Jahren, das Spielzeug, mit dem unsere Kinder vor fünf Jahren so begeistert gespielt haben. Schöne Erinnerungen hängen daran, die ich mir gerne erhalten will. Aber irgendwann geht es nicht mehr. Dieses Jahr steht ein Umzug an, und jeden Tag kommt Neues ins Haus.
Es ist alltäglich und selbstverständlich, das Abschiednehmen, das Loslassen müssen. So alltäglich und selbstverständlich, wie es Jesus in seinem Bildwortdeutlich macht. Jedem ist klar: das Weizenkorn muss in die Erde, wenn ich auch in Zukunft noch meine Familie satt bekommen möchte. Würde sich das Korn aufsparen und in der Vitrine hinter Glas liegen, gut geschützt, als Museumsstück, es würde an seinem eigenen Zweck vorbei gehen. Denn das Weizenkorn hat seinen Zweck ja nicht darin, später einmal zu zeigen, was für Getreide die Bauern einst angebaut haben. Es hat seinen Zweck darin, neue vielfache Frucht hervorzubringen. So kann neues Saatkorn entstehen und eine große Menge Getreide, das zu Brot, zum Mittler des Lebens wird.
II.
Der Wochenspruch aus dem Johannesevangelium verrät uns eigentlich nichts Neues. Neu ist hingegen, dass Jesus uns diese gut nachvollziehbare Selbstverständlichkeit anbietet, mit der wir lernen können, die Abschiede, die Trauer, den Tod zu verstehen, schließlich auch anzunehmen und womöglich sogar einen tieferen Sinn zu erkennen.
Wenn wir die Augen dafür öffnen, was in der Corona-Pandemie tatsächlich alles neu aufgeblüht ist und Frucht getragen hat – wer hätte gedacht, dass sich junge Menschen so engagiert zeigen, Einkäufe für die Älteren zu übernehmen. Auch die Notwendigkeit, öfters wieder selbst den Kochlöffel zu schwingen, ein Verhältnis zu den Nahrungsmitteln zu bekommen, hat seine guten Seiten. Und schon wird überlegt, ob wirklich jedes zweistündige Geschäftsmeeting mit einer Flugreise verbunden werden muss, wenn man sich doch über Videokonferenzen sehr gut verständigen kann.
Mit Onlinegottesdiensten und Sprechstunden werden Menschen erreicht, die den Weg gescheut hätten. Wenn es dann hoffentlich irgendwann wirklich wieder einen Neustart geben kann für unsere Gesellschaft, wird es darauf ankommen, dass wir wachsen lassen, was Frucht bringt. Die Vergangenheit einfach wieder herzustellen, ist nicht der Weg, den Jesus uns hier nahelegt. Er ist – wohl botanisch nicht ganz korrekt – ziemlich radikal in seiner Aussage:
Das Weizenkorn fällt in die Erde und erstirbt. Da ist kein Zurück ins gestern mehr vorgesehen. Es ist eine Entwicklung hin ins morgen, die zwar auf dem aufbaut, was gestern war, dies aber nicht wiederherstellt. Übertragen auf unsere Innenstädte und Kirchengemeinden – es ist sehr wohl möglich, dass Restaurants für immer geschlossen bleiben, Läden verschwinden, Chöre aufhören zu singen und Gemeindekreise sich nicht wieder aufbauen. Und wem tatsächlich ein Mensch gestorben ist, der weiß auch: Er oder sie kommt nicht mehr zurück. Die Wirklichkeit des Sterbens zu verharmlosen, ist die Sache Jesu nicht. Und auch wir Christen tun es nicht. Jesus hat ja seinen Jüngern, Andreas und Philippus dieses Bildwort mit auf den Weg gegeben. Es soll durch sie in aller Welt verstanden werden: Sterben und Fruchtbringengehören zusammen.
III.
Mit dem so verblüffend naheliegenden Bild vom Weizenkorn deutet hier im Johannesevangelium Jesus seinen Tod selbst. Wer in den frühen Gemeinden diese Worte hörte, verstand sofort: Das Weizenkorn ist Jesus selbst. Der in die Niedrigkeit der Welt gesandte Sohn, der zum göttlichen Vater zurückkehren wird. Aber eben nicht ohne die entscheidende Veränderung. Bis dahin hatte es immer geheißen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Jetzt aber ist es soweit: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde“, verrät er Philippus und Andreas.
Die Griechen, die aus den Heidenvölkern stammenden Leute, die anfingen, sich für ihn zu interessieren, warum sind sie eigentlich nicht direkt zu Jesus hin? Warum der Umweg über die Jünger? Das hängt wohl damit zusammen, dass die Griechen vor Karfreitag und Ostern das Wesentliche noch nicht hätten erkennen können. Sie hätten einen Wundertäter gekannt und vielleicht verehrt, der so schnell vergessen wäre wie ein Popstar des 21. Jahrhunderts. Sie hätten ein Korn gefunden, das sie nicht satt gemacht hätte.
Erst die Erfahrung, für die Philippus und Andreas später – nach Ostern – in ihrer Missionstätigkeit einstehen konnten, lässt in dem Weizenkorn das Brot des Lebens erkennen, in dem Jesus von Nazaret den Christus, den Sohn Gottes. Nun aber, seit Jesus die Stadt Jerusalem betreten hat, ist es unumkehrbar. Sein Weg steht fest. Das Sterben Jesu ist Bestandteil seiner Sendung. Es ist gewissermaßen der notwendige Umkehrpunkt. So tief musste er fallen, damit es wieder aufwärts gehen konnte. Darum wohl am Kreuz auch der Ausruf Jesu: „Es ist vollbracht!“
Wie das Weizenkorn die Dunkelheit des Bodens braucht, so braucht es eben den Tod und die Dunkelheit des Grabes Jesu, bevor er erhöht wird, genauer: bevor er verherrlicht, in Gemeinschaft mit seinem Vater für uns zum Herrn und Retter wird. Das Weizenkorn trägt vielfach Frucht, wird zum Brot des Lebens, von dem alle Welt satt werden kann.
IV.
Ich stelle mir das so vor, dass wir selbst an dieser Getreidepflanze als kleines Weizenkorn mit emporwachsen, dass der gekreuzigte Christus uns – also aus unseren Gräbern mit in den Bereich des Göttlichen zieht.
Zu seiner Frucht zu gehören, ganz unverdient und aus seiner Gnade, das ist Erlösung. Karfreitag und Ostern gehören zur Grunderfahrung der Christen von Beginn an. Auch unsere Abschiede finden darin ihre Deutung, die kleinen Abschiede von Zeichen des Überflusses, aber auch die großen Abschiede von Menschen der Liebe. Diese Abschiede sind notwendig, damit am Ende entscheidend Neues stehen kann. Jesus musste sterben, um verherrlicht zu werden, um glaubwürdig die Macht des Todes zu brechen. Er musste unseren Weg konsequent bis ins Grab gehen, damit wir darauf vertrauen, dass wir mit ihm dem Himmel entgegenwachsen.
Wie ist es in unserer kleineren Münze des Alltags? – Da können wir die Erfahrung machen: Wo ich eine Sache beendet habe, findet sich Kraft für Neues, wo ich jetzt gebraucht werde. Wo ich bisher andere in den Schatten gestellt habe, können diese jetzt wachsen. Die Sachen, von denen ich mich trennen konnte, geben den Blick frei für etwas ganz Wichtiges, das ich sonst vielleicht gar nicht mehr entdeckt hätte. Und wenn nicht nur der Lockdown, sondern wirklich auch die Corona-Pandemie vorüber ist, kann vielfältig neues Leben sich entwickeln:
eine neue Wertschätzung des Miteinanders,
neue Themen für die Kunst,
bewusstere Formen des Reisens
und so vieles mehr.
Stellen wir nicht alte Weizenkörner ins Museum, sondern freuen wir uns auf Neues, das wachsen wird.
Und selbst der liebe Mensch, den ich vermisse: so viel von dem, was er mir bedeutet hat, kann nun in mir und durch mich wirken. Ich werde nach und nach frei und mutig, wieder mit Freude eigene Wege zu gehen. Ich lerne die Zeit, die ich vielleicht früher am Krankenbett verbracht habe, in ein Ehrenamt zu stecken. Ich entdecke meine Gaben neu, das Potenzial, das Gott in mich gelegt hat, damit es nun aufgehen kann.
Das Gleichnis vom Weizenkorn macht Mut, dass Gott Frucht wachsen lässt, wenn im Alltag und im Leben manches zu Bruch geht, wenn die Vergänglichkeit uns mitten im Leben einholt. Besonders aber zeigt sich uns darin der Weg von Jesu Hingabe. Seine Liebe, seine Hingabe bleibt nicht fruchtlos und leer, sondern wird fruchtbar und herrlich. An seinem Halm dürfen wir wachsen. Wir bleiben nicht allein, sondern werden Teil von Gottes Ernte, haben Teil am Brot des Lebens.
Die Einleitung der Predigt ist schon eine annehmend anrührende Einführung in das Thema Abschied von den Toten und von Teilen unseres bisher selbstverständlichen Lebens in Corona-Zeiten und stets, damit neues Leben gelingt. Das will ja die tiefsinnige Symbolik Jesu im Gleichnis vom Weizenkorn Aussagen. Es geht um Loslassen … Nicht nur in ferner Zukunft. Heute schon ist viel Hilfe für Hilfsbedürftige aufgeblüht und das Selber- Kochen als gesündere Ernährung. Jesus deutet mit dem Symbol Korn seinen Tod. Die griechischen Zeitgenossen gingen zu den Jüngern. Jesus antwortet: Abschiede sind nötig, damit neues Leben entstehen kann. Das Gleichnis macht Mut. Jesu Liebe und Opfer bleibt nicht fruchtlos. Wir werden Teil von Gottes Ernte. – Die Predigt von Pfarrer Dr. Maaßen ist aussergewöhnlich tröstlich und macht uns Mut und ist sehr aktuell. Mein Vikarsleiter sagte mir immer, es komme auf das Gefühl an, mit dem die am Gottesdienst Teilnehmenden aus der Kirche gehen. Ermutigt gehen wir nach dieser Predigt weiter.