Suchen, fragen, bitten …
Kein Hilferuf ist vergeblich
Predigttext: Jesus Sirach 35, 16-22a (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
16 Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. 17 Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. 18 Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, 19 und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? 20 Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. 21 Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt 22 und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.
Zu den schönsten Liedern in unserem Gesangbuch gehört „Nun danket alle Gott mit Herzen Mund und Händen“. Der Text stammt aus dem Buch Jesus Sirach, das zu den sog. „apokryphen“ Schriften gehört, die manchen Bibelausgaben beigefügt sind, so auch der Übersetzung Martin Luthers, und Martin Luther erklärt dazu: „Das sind Bücher, so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind“. Aus dem Buch Jesus Sirach[1] stammt der heutige Predigttext, ganz neu in der revidierten Perikopenordnung, der die Predigttexte seit einigen Jahren folgen. Der Verfasser ist ein jüdischer hochgebildeter Schriftgelehrter und Pädagoge im 2. Jh. v. Chr., er strebte ein im guten Sinn modernes Judentum an, ohne dabei die religiöse Tradition zu vernachlässigen. Zentrales Thema seiner Schrift ist die „Weisheit“. Das hebräische Wort dafür bedeutet Einsicht in die Wohlgeordnetheit der Schöpfung. Solche Weisheit ist identisch mit der Tora, und sie mündet in den Lobpreis Gottes – „Nun danket alle Gott“. Hören wir den Predigttext aus dem 1. Teil des Buches, Kap. 35, 16-22a. Ich lese nach einer neueren Übersetzung, die nahe am überlieferten Text bleibt:
16 GOTT ist den Allerärmsten gegenüber nicht voreingenommen / und hört auf die Bitte von Menschen, denen Unrecht geschieht. 17 Niemals überhört GOTT den Hilferuf der Waisen und Witwen, wenn sie ihre Klagen ausschütten. 18 Fließen die Tränen der Witwe nicht über ihre Wangen, 19 und klagt ihr Hilfeschrei nicht die an, die ihre Tränen verursacht haben? 20 Menschen, die Gott dienen, werden mit Freude angenommen, / und ihre Bitte dringt bis zu den Wolken. 21 Das Gebet erniedrigter und entwürdigter Menschen dringt durch die Wolken, / und es lässt nicht nach, bis es sein Ziel erreicht hat; / es gibt nicht auf, bis der Höchste es wahrnimmt, 22 sich für die Gerechten vor Gericht einsetzt und ihnen Recht verschafft.
Wie wunderbar spricht hier Jesus Sirach von Gott! Egal was auch immer uns widerfährt, Gott überhört keinen Menschen. Aber wir sollen reden, reden mit Gott. Der heute Sonntag Rogate ruft uns dazu ausdrücklich auf und ganz speziell. „Rogate“ heißt: Fragt, bittet! Das können die Tränen sein, welche über unser Herz laufen, oder das Ringen um einen richtigen Weg, und ebenso die Freude, die uns singen lässt.
Gott umfasst uns ganz in unserem unvollkommenen und oft leidvollem Leben und kommt uns entgegen, geht auf uns zur. Nie bist du allein. Die 51 Kapitel des Jesus Sirach-Buches sind eine einzige Einladung, diesem Gott zu vertrauen, „der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an unzählig viel zugut bis hierher hat getan“. Auch wenn Alles wie im Nebel scheint, der unser Suchen, Fragen und Bitten nicht durchlässt. Es dringt zu Gott hindurch. Der Ewige hört darauf, kein Hilferuf ist vergeblich. Das Gebet dringt durch die Wolken, das dichteste Gewölk, hindurch.
Jesus Sirach bittet uns um Geduld und darum, nicht nachzulassen im Gebet, im Reden mit dem Höchsten, indem ich mein Herz vor Ihm ausschütte, „bis es sein Ziel erreicht hat“. So verstehe ich auch den Aufruf des späteren jüdischen Theologen: „Betet ohne Unterlass!“ (1.Thess. 5,17), und: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet!“ (Röm 12,12)
Die biblischen Psalmen sind wunderbare Gebetshilfen, sie sprechen unsere menschlichen Nöte und Freuden aus und bringen sie vor Gott. Einer der beliebtesten Psalmen ist der Psalm 23. Solch ein Gebet kann wie ein Rettungsanker sein, der HERR ist mein Hirte, er behütet mich, versorgt mich mit allem, was ich brauche, beschützt mich und führt mich aus dem „finsteren Tal“ heraus. Ist ein Mensch in tiefster Not und Verzweiflung und ihm fehlen die eigenen Worte, braucht er solche Gebete. Wer kennt sie nicht, die stumme Zwiesprache im Alltag, der Wunsch „Lieber Gott, lass es gutgehen“ oder „hilf mir Gott“. Sie, glaube ich, nimmt Gott durchaus ernst. Und ein Eingestehen, wenn ich schuldig geworden bin. Gott wird zuhören, und es werden sich Wege aus der Schuld öffnen. Das ist im biblischen Sinn Gnade.
Es gibt ein Gebet, die Fürbitte, da bitte ich für andere Menschen. Wie wohltuend, wenn jemand zu mir sagt, ich bete für Dich. Heute am Muttertag, ein Gebet für die eigene Mutter oder ein überraschender Besuch!
Zu unserem Beten im biblischen Sinn gehört unser Handeln zusammen – „ora et labora“, im weiten Sinn verstanden. Handeln im Sinne Gottes, handeln so, wie Jesus uns zu beten gelehrt hat, verantwortungsvoll und möglichst liebevoll meinem Nächsten und pfleglich mit der Natur, Gottes Schöpfung. Dem Anliegen des Jesus Sirach entspricht der Monatsspruch für diesen Monat Mai: „Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen!“ (Proverbien 31,8). Bleiben wir im Gespräch mit Gott, daraus ergibt sich dann alles Weitere: meine Lebensführung, meine Sicht auf die Welt, mein Handeln in den großen und kleinen Dingen und mein Umgang mit Mensch und Natur. Ein betender Mensch darf auf Antwort von Gott hoffen.
Unsere menschlichen Erfahrungen mit dem Beten sind unterschiedlich, und es ist gut, wenn wir auch darüber miteinander sprechen und im Gespräch bleiben. Eltern oder Großeltern beten mit ihren Kindern oder Enkelkindern. Sie zeigen ihnen damit einen Weg, das was sie ängstigt, freut, ihnen Sorgen macht oder sie beschäftigt, Gott zu sagen, ihm anzuvertrauen. Dass ein Kind weiß, es gibt noch etwas über die Fürsorge und Macht der Eltern hinaus etwas, worauf auch die Eltern vertrauen und es Gott nennen, gibt dem Kind eine große Sicherheit im Leben, ich denke dabei an das, was wir als Urvertrauen bezeichnen. Ein Gott, der hört, zuhört, hilft, tröstet in Angst, mit mir lacht und weint. „Ich bin da“, so lässt sich der israelitisch-jüdischen Gottesnamen umschreiben. Daran klingt der Zuspruch des jüdischen Rabbi an: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“.
Jesus von Nazareth hat das „Vater unser“ gelehrt. Es ist das Gebet, welches wirklich jeder Christ, jede Christin, egal welcher Konfession, auswendig kann und was in jedem Gottesdienst gesprochen wird. Warum ist es so zeit- und weltumspannend? Es fast Ehrerbietung gegenüber Gott und die Bitten um das, was wir im Leben wirklich brauchen, in wenigen genialen Sätzen zusammen, jüdischer und christlicher Glaube sind darin verbunden: Gott, unser Vater im Himmel“; Gott, der wie eine Mutter tröstet, hören wir bei Jesaja (66,13). Diesem Gott die Ehre zu erweisen, ihm zu „dienen“, das – so lehrt Jesus Sirach in seinem Buch – ist „Weisheit“, „Wohl dem“, sagt er, „der sich darin übt!“ (50,30).
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[1] Das Original des Buches war in hebräisch verfasst. Teile des Originals, um die 60%, fand man Mitte des vorigen Jhs. bei Ausgrabungen in Qumran, Massada und Kairo. Der noch erhaltene Name des Verfassers ist: „Simon, Sohn des Jesus, Sohn des Eleasar des Sohnes des Sira“. Ein Enkel des Verf. hat das hebräische Original gegen Ende des 2.Jhs. v. Chr. (nach 132) in Alexandrien ins Griechische übersetzt.