„Hat uns die Kanten vom Brot abgeschnitten …“

Empfangenes weitergeben - Gemeinschaft leben

Predigttext: Johannes 7,37-39
Kirche / Ort: St. Thomas / Lübeck
Datum: 16.05.2021
Kirchenjahr: Exaudi (6. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Vikarin Claudia Kress (Auferstehungskirche Lübeck)

Predigttext: Johannes 7,37-39 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

37Aber am letzten, dem höchsten Tag des Festes trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! 38Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. 39Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.

(Neuere Übersetzung, BigS, 2006, 3. Aufl. 2007)

Am letzten, dem Haupttag des Sukkotfestes, stand Jesus da und rief aus: Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Alle, die an mich glauben, über die heißt es in der Schrift: Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen. Dies sagte er über die Geistkraft, die alle empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn es gab noch keine Geistkraft, weil Jesus noch nicht in göttlichem Glanz war.

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Ich sitze auf dem Sofa und schalte die Nachrichten ein. Bei all den Bildern von Gewalt, Egoismus und Intensivstationen verspüre ich große Sehnsucht nach Frieden, nach Gerechtigkeit und nach Heilung. Ich schalte den Fernseher aus, sitze in meinem Wohnzimmer und mich dürstet nach gegenseitigem Verständnis, nach gelebter Gemeinschaft und Vergebung. Weltweit und ganz privat für mich selbst.

Jesus spricht: Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen.

Kling, kling, kling… mit der Gabel schlägt sie gegen das halbvolle Sektglas in ihrer Hand. “Eine kleine Rede”, ruft sie. Es wird leise im Saal. “Als Trauzeugin habe ich das Recht, ein bisschen zu palavern. Ich finde, es ist sogar meine Aufgabe. Eine muss euch ja sagen, was jetzt auf euch zukommt!” Sie lacht und die Pailletten auf ihrem Kleid glitzern. “Ben und Oliver. Wow, jetzt seid ihr so richtig verheiratet! Ein Leben zu zweit steht euch bevor. Oder zu dritt oder zu viert…wir werden sehen! Ab jetzt nur noch Friede, Freude, Eierkuchen, Eheleben. Liebe und Eintracht. Gemeinsame Entscheidungen, Planungen, Zukunft. Alles in Einklang und mit rosaroter Brille. Pustekuchen. Ich kenne euch!

Ihr beiden habt Sehnsüchte, Pläne und Hoffnungen, ihr steckt voller Ideen, und ich wünsche euch, dass ihr das Beste auseinander rausholen könnt. Dass aus eurer Kreativität, euren Auseinandersetzungen und eurer Liebe Gutes für euch und andere entsteht und ihr einander Kraft geben könnt in schwierigen Situationen. Ich wünsche für euch beide, dass ihr den liebevollen Blick aufeinander behaltet und euch sicher beieinander fühlen könnt. Dass ihr die Sehnsüchte des anderen ernst nehmt und miteinander im Gespräch bleibt, um in einer lebendigen Beziehung zu sein. Ihr könnt diese Welt zusammen ein ganzes Stück besser machen. Das ist meine Hoffnung. Enttäuscht mich nicht!

Jesus spricht: Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen.

Tock, tock, tock… mit der Gabel schlägt sie dreimal gegen ihren Plastikbecher und steigt auf den Stuhl. Mehrere Stimmen vereinen sich: “Eine Rede, eine Rede!”, rufen sie. Sie hebt beschwichtigend die Arme: “Ladies. Morgen ist es soweit und ich bin raus. Für immer! Ihr werdet mich hier nie wieder sehen!”. Manche der Frauen im Essensraum klatschen, eine ruft laut: “Das sagen sie alle!” Sie schaut in die Runde: “Nein im Ernst. Ich pack`s. Zuerst komm ich bei meiner Schwester unter und arbeite in der Reinigungsfirma vom Arbeitsamt. Ich zieh´s durch! Wird hart, aber ich krieg das hin! Klar hab ich Muffen, ist anders da draußen als hier drin. Aber ich bin so durstig nach Freiheit, nach Selbstbestimmung und nach richtig gutem Kaffee “. Sie lacht.

“Und die Kerle?”, fragt die Frau am Kopfende des Tisches und schaut sie durchdringend an. “Die können mir gestohlen bleiben! Ich zieh mein Ding durch und lass mir nicht reinquatschen. Diesmal nicht! Ich bin eine andere, als die, die´s vor drei Jahren verbockt hat. Ich will von vorn anfangen, mein Leben auf die Reihe kriegen. Keine krummen Dinger, auch wenns´s hart wird und das Geld knapp ist. Ich will entscheiden, was ich zum Mittag esse und welche Schuhe ich anziehe. Ich will meine Familie treffen und ich will joggen gehen und mir vielleicht einen Hund anschaffen. Ich will nicht allein sein und es einfach mal richtig machen, wisst ihr?”.

“Und was machst du als erstes, wenn du draußen bist?”, fragt eine der Frauen direkt neben ihr. Sie überlegt einen Moment: “Hmmm…eine Freundin holt mich morgen ab und ich hoffe, wir können in ein Freibad gehen. Rutschen und in der Sonne liegen. Die Seele baumeln lassen. Nochmal durchatmen vor dem Sturm. Vielleicht esse ich ein Eis oder Pommes… oder beides! Ich entscheide! Und denke hoffentlich an die Zeit hier drinnen und mein Vorhaben, nie wieder herzukommen.”

Jesus spricht: Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen.

Klang, klang, klang… er hat sich erhoben und schlägt den kleinen Löffel mit zittrigen Fingern gegen die geblümte Kaffeetasse. Alle drehen sich zu ihm um. Er atmet einmal durch und beginnt zu sprechen: „Wir Enkelkinder haben entschieden, dass wir noch was sagen wollen. Ich soll das jetzt tun.“ Er räuspert sich und streicht den knittrigen Zettel in der Hand nochmal glatt.

„Wir werden sie nicht vergessen, unsere Oma. Ich glaube, es war okay für sie, jetzt zu gehen. Schon länger sagte sie ja, dass sie die einzige ist, die noch lebt von ihren Brüdern und alten Freundinnen. Wann der liebe Herr Jesus sie endlich zu sich holt, das hat sie sich gefragt und sogar mit uns darüber gesprochen. Ich habe das nie so richtig verstanden, aber jetzt tut es mir gut zu wissen, dass sie keine Angst vor dem Sterben hatte. Obwohl sie das Leben mochte. Sie hat immer sehr dankbar darüber gesprochen, auch wenn es bestimmt nicht durchgehend leicht gewesen ist.

Oma betonte, wie sehr sie sich über unsere Lebendigkeit freute. Wir waren ihr nie zu viel, zumindest hoffe ich das. Als wir klein waren, hat sie uns die Kanten vom Brot abgeschnitten und extra den Erdbeerkuchen ohne Glibber drauf gebacken. Wir als Enkelkinder haben abgemacht, dass wir das für unsere Kinder und Enkelkinder auch so machen wollen. Wir werden uns gegenseitig daran erinnern, falls wir es vergessen oder irgendwann finden, dass es zu aufwändig ist. Sie hat uns gern gehabt, so wie wir sind.

Sorry liebe Eltern, aber wenn ihr schon längst an die Decke gegangen wärt, hat sie an Geduld noch eins oben drauf gesetzt. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mal laut wurde. Nicht, dass das nicht ihr Recht gewesen wäre, als Jan die Vase zerdeppert hat oder Ive und ich aus Wut mit Steinen das Auto zerkratzt haben. Ich weiß es nicht mehr genau, aber es würde mich nicht wundern, wenn wir zu unserer Beruhigung noch einen warmen Kakao bekommen hätten. Naja auf jeden Fall sind wir dankbar, dass sie unsere Oma war. Sie und ihre wundervolle Art leben in unseren Herzen weiter.“

Jesus spricht: Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen.

Es ist die Zeit des Laubhüttenfests. Jüdische Menschen feiern gemeinsam und danken Gott. Die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Viele Menschen pilgern zum Tempel in Jerusalem, um dort der 40 Jahre andauernden Wanderung des Volkes Israels mit seinem Gott durch die Wüste zu gedenken. Jesus weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit in seinem irdischen Leben bei seinen Jünger:innen bleibt. Vielleicht sorgt er sich darum, wie es ihnen in der Zeit ergehen wird, in der er fort ist. Sie sind so voller Sehnsucht auf Veränderung, so voll von Hoffnung, dass er diese Veränderung bringen wird. Wie sie es wohl verkraften werden, dass er nicht mehr da ist? Wird ihre Hoffnung ihnen erhalten bleiben? Sie vielleicht sogar über diese Dürrezeit tragen? Am letzten, dem Haupttag des Sukkotfestes, stand Jesus da und rief aus:

Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Alle, die an mich glauben, über die heißt es in der Schrift: Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen. Dies sagte er über die Geistkraft, die alle empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn es gab noch keine Geistkraft, weil Jesus noch nicht in göttlichem Glanz war.

Jesus spricht: Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen.

Ich sitze auf dem Sofa in meinem Wohnzimmer vor dem ausgeschalteten Fernseher. Ich sitze hier, wie viele andere auch. Mitten im Leben mit all meinen Sehnsüchten, mit all meinen kläglichen Versuchen zur Veränderung, mit meinen kleinen Erfolgen und meinen Scheitererfahrungen.

Und einer, der sieht das. Der versteht das, und er bietet mir an, meinen Durst zu stillen und aus mir heraus, Flüsse lebendigen Wassers fließen zu lassen, um es an andere weiterzugeben, die genauso mit ihrer Sehnsucht mitten im Leben hängen und sich fragen, ob ihr Durst jemals gestillt werden kann.

Jesus spricht: Alle, die durstig sind, sollen zu mir kommen und trinken. Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren fließen.

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Ein Kommentar zu “„Hat uns die Kanten vom Brot abgeschnitten …“

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Sehr originell und empathisch schildert Vikarin Kress,ausgehend vom Predigttext, mehrere Sehnsuchtssituationen zum seelischen Einstimmen. Zum Schluss zieht sie eine Beziehung zur eigenen Sehnsucht und der vieler Zeitgenossen. Jesus bietet uns allen an, unseren Lebensdurst zu stillen. Damit endet die interessante Predigt kurz und prägnant.

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