“… wenn wir uns mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen”
Zukunft gestalten ohne Missmut und Missgunst
Predigttext: 1. Korinther 4,1-5 (Übersetzung nach
Martin Luther, Revision 2017)
Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als daß sie für treu befunden werden. Mir aber ist's ein Geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar nichts bewußt, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.
Mit Daumen und Zeigefingern wurde sie gebildet, und sie zeigte stets nach vorne auf das Gegenüber. An der Geste der Raute haben die Zuschauer sie erkannt – neben den pfirsichfarbenen, frühlingsgrünen oder fuchsienroten Blazern.
I.
Sie zeigte, daß sie in sich selbst ruhte und sich vor keinem bohrenden Journalisten, hinterhältigen Parteifreund oder steifem Staatsgast fürchtete. Sie gewann durch Ruhe, Geduld und Abwarten. Die Fernsehkameras fingen die Geste oft ein, bevor sie das Gesicht zeigten. Jetzt ist sie an der Reihe; ihren Namen mußte der Moderator nicht nennen. Ich meine die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in der letzten Woche mit einem Großen Zapfenstreich im Bendlerblock in Berlin verabschiedet wurde. Merkel ist evangelische Christin und Pfarrerstochter, woraus sie aber nie großes Aufhebens gemacht hat. Beim Zapfenstreich spielte das Heeresmusikkorps den Choral „Großer Gott wir loben dich“: „Auf dich hoffen wir allein, laß uns nicht verloren sein.“ Schöner als die Farbfilme von Nina Hagen und die roten Rosen von Hildegard Knef.
„Ich bin überzeugt,“, sagte die scheidende Bundeskanzlerin in ihrer Ansprache, „dass wir die Zukunft auch weiterhin dann gut gestalten können, wenn wir uns nicht mit Missmut, mit Missgunst, mit Pessimismus, sondern (…) mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen. So jedenfalls habe ich es immer für mich gehalten, in meinem Leben in der DDR und erst recht und umso mehr unter den Bedingungen der Freiheit. Es ist diese Fröhlichkeit im Herzen, die ich uns allen und im übertragenen Sinne unserem Land auch für die Zukunft wünsche.“ Diese Sätze galten den Bürgerinnen und Bürgern eines Landes, in dem heftig gestritten wird, über geschlossene Weihnachtsmärkte und nicht explodierte Silvesterböller, über globale Erwärmung, den Standort von Windkrafträdern und die Steckdosen für Elektro-Autos, über Flüchtlinge, die aus Weißrußland nach Westeuropa kommen wollen.
Ich möchte aber keine politischen Streitigkeiten kommentieren, sondern zwei Anmerkungen machen, die uns am Ende zu Paulus‘ eindringlichen Bemerkungen über das Gericht Gottes führen. Niemand steht so sehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie eine Bundeskanzlerin. Und das gilt auch für ihren Nachfolger, der in dieser Woche gewählt wurde. Keine andere Person in einem öffentlichen Amt ist so sehr der Beobachtung und dann auch der Kritik ausgesetzt wie die Kanzlerin oder der Kanzler.
Wer den Kanzler kritisiert, der urteilt über die Zu- und Mißstände in diesem Land, und nicht selten verbindet sich solche Kritik– wie die Kanzlerin sagte – mit Mißmut, Mißgunst und Pessimismus, manchmal in den fettgedruckten großen Buchstaben der Boulevardzeitungen, aber auch im zufälligen Gespräch mit der Bekannten in der Straßenbahn: So schlimm wie heute ist es noch nie gewesen. Wer als Kanzler amtiert, muß solche Kritik ertragen, egal ob er Adenauer, Brandt, Merkel oder Scholz heißt, es sei denn sie überschreitet die Grenze zu Beleidigung oder Gewalt. Die – nun vorletzte – Bundeskanzlerin hat auf viele solcher Kritiken gar nicht reagiert und darin Gleichmut und ein dickes Fell bewiesen. Sie bewies Klugheit dadurch, daß sie sich nicht auf jeden Streit einließ. Das ist die erste Bemerkung.
Sie hat dem – das ist die zweite Bemerkung – in ihrer Ansprache eine nicht zu beirrende Fröhlichkeit im Herzen entgegengestellt. Sie sagte mit keinem Wort, woraus sie diese Fröhlichkeit im Herzen gewinnt. Aber nach meiner Meinung ist es nicht völlig abwegig, einer theologisch gebildeten Pfarrerstochter zu unterstellen, daß diese Fröhlichkeit im Herzen aus ihrem christlichen Glauben herkommt. Und ich wage mich noch einen weiteren Schritt aus der Deckung des Predigers heraus und sage spekulierend: Glaube und Fröhlichkeit des Herzens kommen aus der Taufe, aus dem Bewußtsein, daß nicht Menschen über andere Menschen richten, sondern Gott selbst: Ich bin, was ich bin, durch die Gnade Gottes. Gott selbst urteilt mit Gnade und Barmherzigkeit statt mit Vorurteilen, Mißgunst und Selbstgerechtigkeit. Die Taufe verschiebt das Urteil über einen Menschen.
Gott erkennt schon das kleine Baby im weißen Strampelanzug vor der Schale mit Taufwasser als gleichberechtigten Menschen mit seiner eigenen Würde und seinem eigenen Namen an. Leider entspricht der Anerkennung durch Gott oft eine Aberkennung der Menschen. Aber keine solche Kritik kann der Würde des getauften Menschen etwas anhaben. Die Würde der Taufe bleibt: die Würde des schreienden Babys, die Würde der viel geschmähten Kanzlerin, die Würde des Obdachlosen in der Fußgängerzone. Und damit komme ich langsam zu Paulus, dem nicht die Machtspielchen zwischen Brandenburger Tor, Reichstag und Gendarmenmarkt, sondern die antike Großstadt Korinth vor Augen stehen.
II.
Paulus ist zu Ohren gekommen, daß sich die Gemeindeglieder dort gegenseitig ihre Anerkennung absprechen. Menschen beurteilen sich gegenseitig, und das bedeutet leider meistens: Sie verurteilen sich, sie schmähen, sie sprechen sich gute Absichten ab. Das ganze Menschenleben, von der Apgar-Untersuchung des Neugeborenen über Schulnoten bis zu Arbeitszeugnissen nach Stellenwechsel, wird begleitet von Urteilen, die andere fällen. Manche fließen in ausführliche Texte ein, andere – meist die schlimmeren – verbreiten sich nur mündlich. Das ganze Leben wird begleitet von Urteilen, die andere über uns fällen. Noch schlimmer wirken sich die Urteile aus, die Menschen über sich selbst sprechen, weil sie sich selbst gegenüber keine Gnade kennen. Zu oft sind diese Eigenurteile rein negativ und können schlimme chronische Krankheiten erzeugen. Das verunsichert und lähmt.
Paulus scheint so etwas gespürt zu haben. Er wehrt sich gegen heftige Angriffe und Verurteilungen der Korinther. Die Gemeindeglieder stellten sich einen Apostel als Partner und Ratgeber vor, der es ihnen schön und recht macht. Die Korinther hielten den Paulus für einen Angestellten der Gemeinde, der ihnen Wünsche vom Mund abliest. Aber das ist ein Fehlurteil: Paulus versteht sich wie jeder Getaufte als ein Haushalter Gottes. Und diesen Status kann niemand verlieren, Freund und Feind können ihn nicht ihrem Nächsten wegnehmen.
Paulus nimmt sich die Zeit, über das Richten nachzudenken. Ganz gewiß ist es, daß kein Mensch ohne Richten auskommt. Der Richter verurteilt einen Straftäter zu einer Bewährungsstrafe, die Lehrerin notiert nach einer Klassenarbeit Noten in ihrem Notizbuch, und deren Mittelwert steht dann im Zeugnis: sehr gut oder ausreichend. Studierende bestehen die Masterprüfung mit einer guten Note. Arbeitslose bewerben sich um eine Stelle und müssen dann beim Bewerbungsgespräch vor dem Personalchef glänzen. Der Fahrschüler besteht die Führerscheinprüfung. Der Arzt stellt die Diagnose und empfiehlt eine Therapie.
Jeder Mensch ist einer Fülle von Beurteilungen und Verurteilungen ausgesetzt. Wichtig ist, daß alle diese Urteile nur Teilaspekte in den Blick nehmen. Der Richter verurteilt den Ladendiebstahl und nicht den ganzen Menschen. Der Fahrlehrer beurteilt die Fähigkeit des Menschen, ein Auto steuern zu können. Der Lehrer beurteilt die Fähigkeit, Rechenaufgaben zu lösen. Der Personalchef beurteilt, ob sich der Bewerber für die ausgeschriebene Stelle eignet. Wenn sie es gut machen, dann können Personalchefs, Fahrlehrer und Richter vermitteln: Uns geht es um Teilaspekte deiner Persönlichkeit, aber nicht um dich als ganzen Menschen. Deine Würde beurteilen wir nicht, sie steht außer Frage. Deine Würde respektieren wir. In dieser Hinsicht kann man sich Beurteiltwerden und Urteile gefallen lassen. Leider ist es nur so, daß viele Urteile eben doch über diesen Einzelaspekt hinausgehen oder die Betroffenen es zumindest so empfinden, daß das Urteil über den Einzelaspekt hinausgeht. Das Urteil zielt dann auf die Herabwürdigung der ganzen Person.
Paulus findet es besonders schlimm, wenn so etwas in einer Gemeinde wie Korinth geschieht, weil er doch selbst diese Gemeinde gegründet hat. Gerade eine christliche Gemeinde sollte es besser wissen. Besonders schlimm ist es, wenn das Urteilen in einer Gemeinde aus üblen Nachreden, Lügen und Denunziationen besteht. Dagegen setzt Paulus energisch und mit aller Kraft diesen einen Satz: Richtet nicht, ihr seid nicht die letzten Richter. Euch kommt es nicht zu, die Würde, die Fülle einer Persönlichkeit, die Stärke oder die Schwäche von Glaubenskraft und Gewißheit zu beurteilen. Laßt das einfach bleiben! Verschwendet nicht eure Zeit damit!
III.
Dieses letzte Urteil über Würde und Persönlichkeit eines Menschen kommt nur einem zu: dem, den Gott zum Richter über die Menschen ernannt hat, nämlich Jesus Christus. Dieser Jesus Christus wird sein Urteil auf eine ganz andere Weise fällen, als wir Menschen das gegenseitig und vor uns selbst zu tun pflegen. Denn dieser von Gott ernannte Richter, Jesus Christus war selbst ein Mensch. Er lag als frierendes Baby in der zugigen Krippe. Er diskutierte als Zwölfjähriger im Tempel mit den Schriftgelehrten. Er predigte und heilte. Er hatte Angst und er zweifelte, besonders vor seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane. Er wurde gekreuzigt und Gott hat ihn auferweckt. Diesem Richter ist alles Menschliche vertraut. Er war selbst ein unschuldig Verurteilter.
Und damit ändert sich der Charakter des Gerichts: Dieses Gericht setzt die Angeklagten nicht herab, es demütigt sie nicht und es will niemanden vorführen. Es ist ein Gericht, das Aufklärung, nicht Bloßstellung bedeutet. Es geht nicht darum, das Versagen der Angeklagten an den Pranger zu stellen. Wer aufklärt, will etwas erhellen, ans Licht bringen. Es ist ein Gericht, das in den Menschen die Taufe erkennt. Und Taufe bedeutet, es sei wiederholt: Gott erkennt mich an, er respektiert meine Würde, die Würde jedes Menschen.
Und das Wissen darum verhilft den Getauften schon im Leben vor dem letzten Gericht zum aufrechten Gang, in der Gemeinde, in der Fußgängerzone, beim Friseur und beim Finanzamt. Der Getaufte muß kein Urteil anderer fürchten, weil er weiß: Das letzte Urteil über mein Leben wird der Christus sprechen, der an Weihnachten als Kind in der Krippe lag. Er wird ein Urteil sprechen, das gnädiger ist als alle die herabsetzenden und bloßstellenden Urteile von Menschen. Es ist ein Urteil, das die Würde des getauften Menschen respektiert. Es bleibt ein Urteil – aber es ist ein Urteil der Gnade.
So müssen wir uns, wenn wir Paulus folgen, die Gerechtigkeit Gottes vorstellen. Sie hebt uns gnädig über alle menschlichen Vorurteile hinweg. Das schließt ein die Vorurteile, die wir im Leben ertragen mußten und müssen. Das schließt ein die Vorurteile, die wir selbst ausgesprochen oder von anderen übernommen haben. Das schließt ein die Fehlurteile, die jeder über sich selbst gesprochen hat. Niemand muß urteilen. Wir leben statt dessen von der Urteilskraft des Kindes in der Krippe. Seine Leitsätze lauten: Würde bewahren. Gnade gewähren. Das Urteil Christi immunisiert gegen alle ungerechten Verurteilungen und Schmähungen durch andere. Und das weiß die Bürgerin Merkel, die als Bundeskanzlerin stets an der Raute zu erkennen war: Aus solcher Urteilsgnade kommt eine besondere Fröhlichkeit des Herzens.