Heilsame Nacht
Ein Geschenk für alle Menschen
Predigttext: Titus 2,11-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
11 Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen 12 und erzieht uns, dass wir absagen dem gottlosen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben 13 und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands, Jesus Christus, 14 der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.
Lieben sie Geheimnisse? Als Kind habe ich sie geliebt. Advent war eine Zeit voller Geheimnisse, voller Vorfreude auf den Heiligen Abend. Denn ein Geheimnis zeichnet sich da dadurch aus, dass es ein wenig von sich preisgibt. Ein wenig, aber eben nie alles. Mit dem Erwachsenwerden verliert sich das, denn nicht alles Unerwartete ist gut. Und was unangekündigt erscheint, kann sehr ungelegen kommen.
Die heutige Nacht aber bleibt für mich ein wunderbares Geheimnis. In solch einer Nacht ist erschienen die heilsame Gnade Gottes. Damit beginnt unsere Geschichte. Ja, damit beginnt sie im wahrsten Sinne des Wortes: Ohne diese Heilige Nacht gäbe es diese Kirche nicht, unseren Glauben nicht. Eine besondere Nacht. Ich liebe sie immer noch, diese Nacht, und das Wort aus dem Titusbrief erklärt mir, warum dieses Geheimnis so schön ist und ewig bleibt.
Erinnerung
Mit diesem Wort schauen wir zurück auf den Anfang: Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes. Damit beginnt die Geschichte – auch die der Bibel. Noah fand Gnade vor Gott. Und Abraham. Und Jakob. Und Mose, der große Mose, der wichtigste Prophet und Führer des Gottesvolkes. Er war der erste, von dem man erzählen konnte, die Gnade Gottes sei ihm erschienen. Ein Ding der Unmöglichkeit eigentlich, man konnte Gott nicht sehen, ohne von ihm geblendet zu sein und vor dieser Energie und Macht zu vergehen. Also verhüllte Mose sein Angesicht und Gott „ging vorüber“, an ihm vorbei, so dass Mose ihn spüren konnte. Eine Liebeserklärung Gottes an Mose. Wie kann ich mir das vorstellen?
Vielleicht so, wie wenn zwei Liebende sich in unserer Stadt verabredet haben. Da steht der Junge und seine Augen suchen nach der Liebsten. Und plötzlich, ohne dass er es kommen sah, fühlt er zwei Hände sanft und klar auf seinen Augen und er hört hinter sich die Stimme, die er so liebt: „Wer bin ich?“ Auf solche Art ist erschienen die heilsame Gnade Gottes. Immer wieder. In dieser Heiligen Nacht erschien sie den Hirten auf dem Felde: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Sie erschien Maria und Josef im Stall: vor ihnen „breiteten die Hirten das Wort aus, das zu ihnen [durch die Engel] von diesem Kinde gesagt war“; Sie erschien den Weisen aus dem Morgenland, die dank ihrer Klugheit einem besonderen Stern folgten und das Kind in der Krippe fanden. Allen Menschen ist diese Gnade Gottes gezeigt. Ein Geschenk für die Menschheit, aus der sie etwas machen könnte.
Gnade
Woran kann man diese Gnade nun erkennen? Sie tut uns gut. Daran erkennt man sie. Sie tut uns gut wie die gnädigen Worte eines geliebten Menschen. Sie tut uns gut wie die kritischen Worte eines liebenden Menschen. So wird die Gnade beschrieben. Sie erzieht uns: Sie warnt vor Gottlosigkeit und Gier. Wenn du als Mensch vergisst, wer um dich herum dein Leben erst möglich macht, dann wird es schiefgehen. Gnade lehrt uns das Gegenteil – und zwar mit allem, was wir als Mensch je brauchen: Sie erzieht uns, dass wir besonnen, gerecht und fromm leben.
Besonnen sein: Das behütet dich selbst und bewahrt dich vor Gefahren und Dummheit. Gerecht sein: Das behütet die Menschen um dich herum und alles, was dich sonst umgibt.
Fromm sein: Das behütet deinen Glauben, damit du die Hoffnung und die Liebe nie verlierst.
So macht uns diese Nacht nicht nur fröhlich, sondern auch klug und weise. Unsere Geschichte beginnt in dieser Nacht und sie hält uns am Leben. Es geht noch weiter mit der Gnade: Sie erzieht uns auch dazu, dass wir auf die Erscheinung Gottes, die Erscheinung unseres Heilands Jesu Christi warten. Das ist wichtig. Wer wartet, der erwartet noch etwas vom Leben. Wer wartet, gibt nicht auf, sondern erwartet den Geliebten, erwartet Leben; und Glück; und Liebe; und Hoffnung; und Gnade. Er erwartet, dass wohltuend zwei Hände sich auf seine Augen legen; erwartet, dass eine Stimme glücklich macht: „Hier bin ich. Und ich will dir guttun.“
Zukunft
Dieses Warten ändert alles. Es lässt uns nach vorne, in die Zukunft schauen. Und da sehe ich die Welt im Licht Jesu und nicht nur unter der Bedrohung von Corona; da blitzt die Gnade Gottes immer wieder auf, auch in einer Welt, die mir nicht gefällt: Mitten in Neid und Streit, in Hass und Krieg, in Flucht und Vertreibung. Genau dort scheint Gottes Gnade immer wieder auf und gibt Hoffnung. Es ist das Geheimnis der heilsamen Gnade, dass unsere Kraft reicht, um mit Hoffnung zu leben, auch unter Bedrohung und Flucht – wie bei Maria und Josef. Es ist das Geheimnis der heilsamen Gnade, dass unsere Hoffnung stärker ist als unsere Angst – wie bei den Hirten auf dem Feld. Es ist das Geheimnis der heilsamen Gnade, dass all unsere Klugheit mit dem Unerwarteten rechnen lässt und uns zu Gott führt – wie die Weisen aus dem Morgenland.
Die heutige Nacht ist ein wunderbares Geheimnis. In ihr erscheint die heilsame Gnade Gottes. Sie gibt uns Hoffnung – mitten in Corona.
Sie lehrt uns besonnen zu sein und erst zu denken und zu hören, bevor wir reden;
sie lehrt uns, gerecht zu sein und erst einmal niemanden zu verurteilen – sei er geimpft oder nicht; arm oder reich; krank oder gesund;
sie lehrt uns, fromm zu sein und auf Jesus Christus zu vertrauen statt nur auf unser eigenes Verstehen. Diese Gnade kommt von Gott selbst und gründet sich im Kind in der Krippe.
So bin ich nicht verzagt und ängstlich, nicht frustriert und wütend, wenn ich das Leben betrachte. Ich habe ja Gott als Geheimnis der Welt, wie er sich in Christus zeigt und mir so nicht die Sprache verschlägt, sondern die Sinne öffnet und mich zum Singen bringt. Jeden Tag neu. Und ganz besonders in dieser Nacht!