„Sei gnädig mit dir und Anderen …“
Wir haben alle die Möglichkeit, uns und unser Verhalten immer besser kennen zu lernen
Predigt zu Mt 13, 24-30 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017) Kürnberg und Gersbach
24 Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte.
25 Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon.
26 Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut.
27 Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut?
28 Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten?
29 Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet.
30 Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.
Exegetische und homiletische Einführung
Das Gleichnis steht innerhalb einer größeren Sammlung von „Himmelreich“-Gleichnissen, wird also ursprünglich einen anderen Kontext gehabt haben. Das inspiriert mich dazu, mir einen solchen Kontext auszudenken.
Der Mensch, der die gute Saat aussät, ist am Anfang des Gleichnisses einfach nur ein „Mensch“ (anthropos) – der auch noch selber hingeht, um die Arbeit zu verrichten. Drei Verse später ist es ein Hausherr, sogar ein Despot (oikodespotes), der seine Sklaven (douloi) auf das Feld schickt. Der Feind, der das Unkraut sät, ist am Anfang sein Feind – also vielleicht ein ihm nicht wohlgesonnener Nachbar – dann aber abstrakter „ein Feind“. In der später folgenden Auslegung (V. 36-43) wird gar der Teufel daraus. Ich verstehe das als einerseits Distanzierung, andererseits Aufblähung des Geschehenen: wie sich Gerüchte verbreiten, oder Verschwörungstheorien. Der Feind „geht weg“ - dass er überhaupt da war, bleibt eine Vermutung.
Bei dem Unkraut handelt es sich nach Ulrich Luz um den „Taumel-Lolch“, auch Schwindelweizen und im Volksmund u.a. Teufelskraut (!) genannt, der zu Jesu Zeit im Mittelmeer-Raum häufiger vorkam – auch und gerade in Getreideäckern. Er führte zu Bewusstseins- und Sehstörungen (vgl. Wikipedia-Artikel). Was macht uns heute taumelnd und blind?! Vielleicht Menschen in unserem allernächsten Umfeld, die auf die Corona-Situation anders reagieren, als wir es erwartet hätten?
Das Unkraut und der Umgang damit nehmen im Gleichnis den größten Raum ein. Aber pointiert steht am Anfang und am Ende die gute Saat bzw. der gute Weizen. Er füllt trotzdem die Scheune. Das kann Hoffnung machen!
Den Gottesdienst feiere ich in zwei Dörfern. In diesem Jahr wird die Stimmung nicht silvestrig-fröhlich und hoffnungsstark sein. Ich will mit der Predigt keine „schwere Kost“ zumuten, sondern das Gleichnis weitererzählen in unsere Zeit.
Silvester ist zwar nach einem Papst benannt. Aber nicht nur Christinnen und Christen feiern die Jahreswende. Jüdinnen und Juden tun es ebenso. Aber zu einem anderen Zeitpunkt. Dieses Jahr wurde das jüdische Neujahrsfest am 7. und 8. September gefeiert. Es liegt immer im Herbst, genau 163 Tage nach dem Passafest. Im Herbst, kurz vor Beginn der Erntezeit. In dieser Zeit spielt auch meine Geschichte, die ich Ihnen heute erzähle.
Es war am Abend des jüdischen Neujahrsfestes. Nachdem sie in der Synagoge gewesen und dem traditionellen Klang des Schofar-Horns gelauscht hatten, setzten sich Jesus und seine Jünger in den Schatten eines Granatapfelbaums nieder, um zu essen. Wir haben den richtigen Baum gewählt, sagte Petrus zu seinem Bruder Andreas. Granatäpfel gehören zu unserem Neujahrsfest einfach dazu. Andreas nickte. Ich höre noch unseren Vater den alten Spruch dazu sagen: “Möge es dein Wille sein, dass unsere Rechte sich wie der Granatapfel mehren.” Möge es Gottes Wille sein, dass die Rechte, die uns Jesus verkündet, sich wie der Granatapfel mehren, führte Johannes den Gedanken fort und sah Jesus dabei an. Was denkst du, Herr – wird uns das kommende Jahr dem Reich, das du uns verkündest, ein Stück näher bringen? Wird es wahr werden, was wir erhoffen?
Ist es denn noch nicht wahr, fragte Jesus zurück? Schon ist es wahr, was du sagst, Jesus, warf jetzt Philippus ein. Wir bezweifeln es nicht. Nur – andere Menschen haben andere Wahrheiten. Wahrheiten, die zum Teil sehr mächtig sind. Jesus dachte eine Weile nach. Erinnert ihr euch an das Feld, an dem wir vorhin entlang gelaufen sind, fragte er? Es wuchs nicht nur Weizen darauf. Oh ja, sagte Thaddäus, der ein paar Äcker bewirtschaftet hatte, bevor er sich entschieden hatte, mit Jesus mit zu gehen. Lauter Teufelskraut unter dem Weizen. Den Bauern beneide ich nicht, der den Acker bald ernten wird. Teufelskraut – seinen Namen hat es zurecht. Sieht dem Weizen zum Verwechseln ähnlich – aber wehe, wenn es sich unter die Ernte mischt! Schon manche sind davon schwer erkrankt. So ist es, nickte Jesus, darum hört meine Geschichte.
(Lesung des Predigtextes ab „Das Himmelreich gleicht“)
Alle schwiegen eine Weile, nachdem Jesus geendet hatte. Unkraut sät man doch nicht, Jesus, begann dann wieder Thaddäus, der sich wie gesagt auskannte. Es kommt einfach so, mischt sich unter den Weizen, ohne dass man es ahnt. Der Same fliegt durch die Luft, dann ist es da. – Du hast viel verstanden, sagte Jesus freundlich.
Ich denke über mein Leben nach, kam jetzt von Petrus. Ich tue das meistens am letzten Abend des Jahres. Was ist mir gelungen, was nicht? Wo sind Dinge geschehen, die ich nicht so wollte? Mir rutschen so viele unbedachte Worte heraus, ihr kennt mich ja. Manchmal beginnt alles ganz harmlos und endet dann im größten Chaos. Ich hätte so gerne nur Weizen auf dem Feld meines Lebens. Aber ich muss ziemlich viel Kraft aufwenden, all das Unkraut auszurupfen, dessen ich einfach nicht Herr werden kann. – Sei gnädig mit dir, sagte Jesus. Dann bist du auch gnädiger mit anderen. Es kann nicht alles gelingen. Die Menschen werden schon merken, dass du eigentlich Weizen säen willst.
Ich habe, als du erzähltest, an meine Familie gedacht, sprach jetzt Jakobus, der Sohn des Alpäus. Sie ist groß. Im Allgemeinen verstehen wir uns gut. Aber ein paar wenige – mit denen ist es immer schwierig. Du kannst dir nie sicher sein, versteht ihr? Sie brauchen nur wenige Worte sagen, und schon bist du irgendwie getroffen. Sie kennen deine wunden Punkte und kommen immer wieder darauf zurück. Und wenn du mit ihnen diskutierst, hast du gleich das Gefühl, der Dumme zu sein. Schon manche Familienfeste sind wegen ihnen in schlechte Stimmung umgeschlagen. Aber einladen musst du sie trotzdem. Sie gehören dazu.
Andere aus dem Kreis nickten verständnisvoll. In meinem Dorf ist es nicht anders, meinte Simon. Manche gibt es, vor denen musst du einfach immer ein bisschen auf der Hut sein. –
Kinder, sagte Jesus – so redete er sie nur an, wenn eine Sache wirklich nicht leicht zu sagen war. Wisst ihr denn, wie ihr selber auf andere wirkt? Warum empfiehlt der Hausherr in meiner Geschichte, das Unkraut noch wachsen zu lassen? Weil man manchmal wirklich nicht erkennt, wer wer ist. Manche Menschen sind Unkraut füreinander und sind dabei der festen Überzeugung, sie wären Weizen. Manche benehmen sich auch wie Unkraut und tragen in Wirklichkeit gute Früchte in sich. Schaut auf euch selbst. Prüft euren eigenen Blick. Aber bleibt auch aufrecht wie der Weizen, wenn ihr ein reines Gewissen habt. Gott wird mit Euch sein.
Was ihr da alle redet, fuhr jetzt Judas dazwischen. Ich habe beim Hören deiner Geschichte, Jesus, an ganz etwas anderes gedacht. Der Feind, von dem du uns erzählt hast, das sind doch eindeutig die Römer. Sie vergiften unsere Gesellschaft. Dein Teufelskraut, Thaddäus, wird auch Schwindelkorn genannt. Die Römer schwindeln uns an mit ihrem Gerede vom Römischen Frieden und von all dem Fortschritt, den sie bringen. Sie sind wie ein Krankheitserreger, den man einatmet, wenn man sich nicht schützt. Ich glaube nicht, dass du recht hast, Jesus. Wir hätten dieses Römer-Unkraut ausjäten sollen, als es noch nicht den gesamten Acker unserer Gesellschaft übersät hatte. Jetzt sind wir hilflos. Und nicht wenige von uns sind schon ins Taumeln gekommen, kleiden sich römisch, essen römisch und vergessen ihre eigene heilige Tradition!
Träum weiter, sagte Jakobus, Johannes älterer Bruder, der schon ein paar weiße Haare in seinem Bart zählte. Wären die Römer nicht gekommen, wären es andere gewesen. Neues bringt Fortschritt, aber Fortschritt hat seinen Preis, so ist es nun mal. Ich glaube eher, Jesus, du willst uns sagen: Die Wahrheit, die du bezeugst, gibt es nicht in Reinformat. Unser Abstand von ihr ist vielleicht immer gleich groß.
Also wird nichts besser im neuen Jahr, fragte Johannes? Aller Augen wandten sich jetzt Jesus zu. Der blieb ruhig. Natürlich wird es besser, sagte er. Es wird doch größer. Als er merkte, dass keiner ihn verstand, richtete er seine Worte zuerst an Petrus: Ich finde es gut, dass du am letzten Abend des Jahres über dich nachdenkst, sagte er. Wir haben alle die Möglichkeit, uns und unser Verhalten immer besser kennen zu lernen. Wir lernen durch unser Erleben. Selten ändert man sich ganz. Aber für sich selber kann man immer Hoffnung haben, der Wahrheit des eigenen Lebens ein Stück näher zu kommen.
Dann sagte Jesus zu Jakobus und Simon: Ich verstehe euch schon. Ihr wisst, in meiner Familie und in meinem Dorf halten mich auch manche für das Unkraut, dessen Verhalten alle herausfordert. Aber bitte versucht, miteinander zu leben so lange wie möglich. Wenn nicht ihr in der Familie und im Ort – wer dann? Aber schaut genau hin. Der Mensch in meiner Geschichte hat auch hingeschaut, während Unkraut und Weizen wuchsen. Sprecht über das was euch stört, nicht über den, der euch stört. Wo Menschen eng zusammenleben, kann es immer besser werden.
Und Judas und Jakobus, sagte Jesus, bitte streitet nicht. Auch ich habe manchmal dunkle Stunden und verzweifle über der Welt, in die mich mein Vater gesandt hat. Kaum habe ich einen Menschen geheilt, wird ein anderer wieder krank, und mit der Gesellschaft ist es wohl ebenso. Am schlimmsten ist: Was die einen für Weizen halten, halten die anderen für Unkraut. Aber wenn diese Dinge mich plagen, denke ich immer: Mein himmlischer Vater hat Weizen gesät mit der Kraft seiner ganzen Liebe. Ich und wir alle dürfen dafür sorgen, dass der Weizen wächst und an Kraft gewinnt.
Auch wenn manchmal der Blick vor den Augen verschwimmt – Gott weiß, was er gesät hat und was er ernten will. Er baut Scheunen, weil er mit einer guten Ernte rechnet. Was das neue Jahr anbetrifft, will und kann ich euch nicht das Blaue vom Himmel versprechen. Aber Gottes Segen kann ich euch versprechen. Geht in das neue Jahr mit Hoffnung, und mit einem Herz voller Liebe. Versucht es bitte. Hoffnung und vor allem Liebe sind die besten Winde, die dem Weizen zum Wachsen verhelfen. Hoffnung und Liebe will Gott immer wieder auf die Felder eures Lebens regnen lassen. – Die Jünger glaubten, ein wenig verstanden zu haben. Amen, sagten sie.