Wohin sehen, worauf hören?
Tief im Inneren schmerzt eine Wunde
Predigttext: Jesaja 42,1-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.
So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen:
Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.
Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.
Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Wir predigen an diesem 1. Sonntag nach Epiphanias ein „Knecht Gottes Lied“. Die Predigt, wie sie hier vorgelegt wird, beschränkt sich auf die VV 1-4. Thema des Sonntags ist die Taufe Jesu. Die Taufe Jesu mit Jes. 42,1-4 zu verknüpfen, ist theologisch überaus reizvoll, auch angezeigt, homiletisch aber eine Herausforderung.
Als glücklich lässt sich bezeichnen, dass wir an diesem Sonntag ökumenisch gemeinsam unterwegs sind. Katholisch heißt es der Festtag „Taufe Jesu“. Gelesen werden (LesejahrC) Jes 42,5a. 1-4. 6-7, Apg 10,34-38 und Lk 3,15-16. 21-22. Die Zusammenstellung ist fein abgestimmt und erlaubt vielfältige Beziehungen, nicht nur intertextuell.
Ich empfehle deshalb, im Gottesdienst am 1. Sonntag nach Epiphanias als Evangelium Lk 3,15-16.21-22 vorzulesen.
Luthers „Christ unser Herr, zum Jordan kam“ (EG 202) steht ziemlich verloren im Gesangbuch, könnte / sollte aber wieder entdeckt werden. In der Predigt soll das Lied wenigstens anklingen.
http://www.zeno.org/Literatur/M/Luther,%20Martin/Gedichte/Geistliche%20Lieder/33.%20%5BChrist%20unser%20Herr%20zum%20Jordan%20kam%5D. - Wolfgang Herbst, Ilsabe Seibt (Hrsg.): Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Göttingen 2013, S. 22–29
Siehe, mein Knecht
Siehe! Woher kommt die Stimme? Wohin soll ich sehen? „Siehe, das ist mein Knecht.“ Ich schaue mich um. Eigentlich kenne ich alles, um mich herum. Mit dem Blick nach draußen. Meine kleine Welt. Menschen, Dinge, Licht und Schatten. Siehe?
Aber dann ist es, als ob ein Scheinwerfer zu strahlen beginnt. Spot an! Im Lichtkegel sehe ich – einen Knecht. Verwundert schaue ich noch einmal. Ein Knecht? Herrenmenschen werden beleuchtet, Stars sowieso, alles, was schön ist und glimmert – und alles Bizarre und Besondere zudem. Hohe Kunst. Für die Beleuchter und für die Regisseure. Manche sind alles in einem. Darsteller, Beleuchter und Regisseur. Siehe, mein Knecht!
Ein Lied
Es ist ein Lied. Es fängt so an: Siehe, mein Knecht! Die Melodie kennen wir nicht. Sie ist irgendwann verloren gegangen. Ob sich noch einmal ein Komponist an die Noten wagt? Es ist ein trotziges Lied! Aber ein Lied voller Vertrauen – und mit so viel Zukunft, dass die Vergangenheit blass wird. Aber hören wir doch einmal hinein.
(Lesung des Predigttextes)
Woran erkenne ich einen Knecht? An seinen verschwitzten Klamotten? An dem Dreck an den Schuhen? An den Schmutzrändern und Fingerspuren am Hut? Vielleicht auch, aber zuerst an seiner „Stille“. Ob das Wort passt? Stille? Doch – hier ist einfach einer da. Die großen Reden sind verstummt, sie dürfen zur Ruhe kommen. Die großen Reden der Herren, die das Blaue vom Himmel versprechen, ohne je einen Stern bewundert zu haben. Auch die Gewalt schweigt. Sie löst kein Problem mehr. In den Gassen spielen die Kinder. Menschen kommen aus ihren Löchern. Eine neue Zeit bricht an.
Wenn Gott seine Vorstellung beginnt, beginnt er sie mit „siehe“. Wir sollen etwas sehen! Augen auf! Gott zeigt uns seinen Knecht, den er festhält, der ihm gefällt, dem er seinen Geist gegeben hat. Er zeigt uns seinen Vertrauten. Ohne den Glanz eines Königs. Wer er ist? Er wird nicht beschrieben, auch nicht mit Namen genannt. Einfach: Knecht.
Er ist leise. Er schreit nicht. Er muss sich nicht bemerkbar machen. Er ist einfach da. Die geknickte Pflanze richtet er wieder auf. Ihr gibt er nicht den Rest. Sie streckt sich wieder der Sonne entgegen. Seht ihr? Den Docht der Kerze putzt der Knecht. Fein säuberlich. Wie das die Knechte (und Mägde) immer schon taten. Gleich wird die Kerze wieder ihr warmes Licht verbreiten. Seht ihr?
Wir sehen alles, was kaputt geht, kaputt gemacht wird, mit Füßen getreten. „Lass fallen, was fällt – gibt ihm noch einenTritt“ sagte der Dichter. Aber jetzt bewundern wir die Pflanze mit ihrem Knick – sie blüht, jetzt bewundern wir die Kerze mit ihrem Docht – sie brennt. Der Knecht nimmt behutsam in die Hand, was verletzt und zerschlagen ist. Er bringt die Dinge wieder in Ordnung. Er bringt sie zurecht. Wie sie sein sollen. Wie sie sind. „Ich habe ihm meinen Geist gegeben.“ Sagt Gott. „Siehe“!
Von Inseln und Enden
Ich spüre, wie das Lied selbst so etwas wird wie eine aufgerichtete Pflanze und eine leuchtende Kerze. Dieses Lied wird nicht verstummen. Egal, welche Melodie wir finden. Egal, welche Kunststücke unsere Zunge zuwege bringt. Gott selbst wagt es, mit der ganzen Welt noch einmal neu anzufangen. In einem Lied. Mit einem Lied. Sein Knecht wird das Recht unter die Heiden bringen, unter die Völker, unter die Menschen – auch unter die Menschen, die immer schon draußen waren, ungeliebt und verworfen. Sein Recht, seine Weisung, seine Wahrheit will Gott sogar bis zu den letzten Inseln bringen. Aller Welt Enden, heißt es in einem der alten Lieder Israels, sehen das Heil unseres Gottes!
Über Recht lässt sich streiten. Aber die Sehnsucht, dass Menschen Recht erfahren und nicht Willkür, Gerechtigkeit und nicht Unterdrückung, Verständnis und nicht Hass, ist in den ältesten Geschichten aufbewahrt. Auch, weil so viele traumatische Erfahrungen in die Erinnerungen von Menschen eingegangen sind. Unter der Decke der Jahrhunderte schlummern sie, um, einmal aufgewacht, Menschen wieder gegeneinander aufzubringen. Wie Furien. Wir kennen das Recht der Stärkeren, des Stärkeren, wir kennen das Recht der Macht, wir kennen das Recht der vereinnahmten Geschichte.Nur: Recht ist das alles nicht.
Dann wird die Pflanze geknickt. Dann wird der Docht gelöscht. Dann fällt, was fallen soll – ihm gilt ein letzter Tritt. Gott aber hat von Anfang an seiner Schöpfung zugedacht, was ihr gut tut – sein Recht. Dieses Recht trägt viele Namen: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und – in vollendete Form – Liebe. Es ist ein trotziges Lied! Das Lied von diesem Knecht.
Erinnerung
Wie das Lied entstanden ist? Es ist, als ob seine Herkunft dunkel sein muss, um ganz hell scheinen zu können. Jedenfalls hat der Zweite Jesaja eine große Freude dabei gehabt, dieses Lied – und andere – in sein Buch aufzunehmen. Oder sind es Predigten? Proklamationen? Mutmach-Reden? War es vielleicht auch jemand anders, der die Lieder dem Jesaja einverleibte? Jedenfalls befindet sich das Volk Israel in babylonischer Gefangenschaft und die alten Wurzeln sind ausgerissen. Sechstes vorchristliches Jahrhundert. Wenn sich die Geschichten nicht nur ständig wiederholen würden.
Israel hat gerade die Gewalt eines Zwingherrn erlebt, der sich zum Herrscher der Welt aufgeschwungen hatte. Jerusalem ist zerstört, der Tempel in Schutt und Asche gelegt – und Menschen sind deportiert. Es musste fast so aussehen, als ob Gott selbst sich bezwingen und vertreiben lassen musste. Welchen Sinn hat es noch, überhaupt etwas zu glauben? Gott zu vertrauen? Seine Hoffnung auf ihn zu setzen?
So mancher – bis heute, unter uns – wird sein Leben mit dem geknickten Rohr und dem verlöschenden Docht beschrieben sehen. Es fehlt nur noch der letzte Tritt. Tief im Inneren schmerzt eine Wunde. Dass daraus die Geschichte einer großen Liebe wird, besingt das Lied. Das Lied von dem Knecht. Angesichts geknickter Lebenswege, angesichts heruntergebrannter Hoffnungen. Die Menschen sind voller Erwartungen. Dass sich der Himmel öffnet! Wo doch so Vieles auf der Erde verschlossen ist.
Taufe Jesu
Heute haben wir den 1. Sonntag nach Epiphanias. Auf Deutsch: Erscheinung des Herrn. Dass wir ein Lied vom Knecht Gottes besingen – darf ich das so sagen? – weist auf eine andere Geschichte hin, die mit diesem Sonntag fest verknüpft ist: die Geschichte von der Taufe Jesu. Das Evangelium haben wir gehört.
Es geschah aber, dass sich zusammen mit dem ganzen Volk auch Jesus taufen ließ. Und während er betete, öffnete sich der Himmel und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.
Wie verblüffend doch die Ähnlichkeiten sind! Es geht auch alles sehr schnell! Während die Menschen sich von Johannes, dem Bußprediger – und Propheten – taufen lassen, ist unerkannt auch Jesus unter ihnen. Wer er ist, woher er kommt, was er hier will? Er ist einfach unter ihnen! Einer von ihnen. Während er betet – der Himmel öffnet sich – der Hl. Geist kommt herab – und eine Stimme aus dem Himmel spricht: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.“ Es geschieht vor unseren Augen und Ohren. Und passt in einen Satz. Wir haben nicht einmal Zeit, von links nach rechts zu schauen. Jesus, der geliebte Sohn – unser Bruder. Überhaupt: der offene Himmel! Wo doch so Vieles auf der Erde verschlossen ist. Wir sind voller Erwartung.
Es galt ein neues Leben
Martin Luther hat zu dieser kleinen Geschichte, die doch voller Wunder ist, ein Lied geschrieben. 1541, ziemlich spät in seinem Leben. Immer wieder, besonders in schweren Stunden, hat er sich damit getröstet: Ich bin getauft.
Christ, unser Herr, zum Jordan kam nach seines Vaters Willen,
von Sankt Johann die Taufe nahm, sein Werk und Amt zu erfüllen.
Da wollt er stiften uns ein Bad, zu waschen uns von Sünden,
ersäufen auch den bittern Tod durch sein selbst Blut und Wunden,
es galt ein neues Leben.
Die Taufe Jesu, der geöffnete Himmel, Gottes Liebenserklärung – sie gelten uns. „Da wollt er stiften uns ein Bad, zu waschen uns von Sünden, ersäufen auch den bittern Tod“. Darin ist er dann ganz der Sohn des Vaters. In einer Liebe, die alle Dunkelheit, alle Angst, alle Verlorenheit überwindet. „Es galt ein neues Leben“!
Der Knecht, von Gott vorgestellt, ist jetzt der Sohn. Wir feiern die Erscheinung unseres Herrn. Er, der die geknickte Pflanze nicht bricht, den glimmenden Docht nicht auslöscht, stirbt für das Recht Gottes. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang, heißt es in einem alten Eucharistiegebet, wird ihm das Lob dargebracht.
Siehe! Woher kommt die Stimme? Wohin soll ich sehen? „Du bist mein geliebter Sohn.“ Ich schaue mich um. Eigentlich kenne ich alles, um mich herum. Mit dem Blick nach draußen. Meine kleine Welt. Menschen, Dinge, Licht und Schatten. Aber der Himmel hat sich aufgetan. Es gilt ein neues Leben.