Lebensklugheit
Ehrlicher und barmherziger Blick auf unser Leben
Predigttext: Jeremia 9,22-23 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Das falsche und das rechte Rühmen
22 So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.
23 Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.
Exegetische und homiletische Anmerkungen
Kirchenjahreszeitlich bewegen wir uns am Sonntag Septuagesimae in der festlosen Vorpassionszeit mit der liturgischen Hoffnungsfarbe „grün“, der Farbe des Wachsens und Reifens. Herz und Ohr werden aufgeweckt von Jochen Kleppers melodischen Morgenlied, einem der beiden Wochenlieder: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen; führt mir den Tag empor.“ (EG 452,1) Alsdann kann mit dem eingängigen, kurzen prophetischen Predigttext aus dem Jeremia-Buch in diesem Gottesdienst wahre Lebens- und Gotteserkenntnis in uns wachsen. Selbsterkenntnis und Selbstkorrektur können ins uns reifen, wenn wir uns die Lebensklugheit zu Herzen nehmen, von der wir in den prophetischen Worten „vom rechten und vom falschen Rühmen“ im Jeremia-Buch hören.
Ohne einer biographischen Erklärung der biblischen Prophetie das Wort zu reden, so wird hinter den selbstbescheidenden Worten des Jeremia doch etwas transparent von der prophetischen Existenz und dem Selbstverständnis dieses Propheten, einer sehr komplexen biblischen Gestalt und Persönlichkeit. Alle Erzählungen über seine rätselhaften symbolischen Zeichenhandlungen, seine Konfessionen, seine Leidensgeschichte, aber auch seine Orakel und Unheilsverheißungen entwerfen das Szenario einer prophetischen Existenz, das einen verfolgten, in aller Demut leidenden Menschen zeigt.
Um der Gerechtigkeit Gottes willen hat Jeremia mutig und tapfer Konflikte und Auseinandersetzungen mit den Mächtigen seiner Zeit nicht gescheut: nicht mit den Königen Israels und Judas in der Zeit vor der Deportation Jerusalems; nicht mit den ihnen hörigen Hofbeamten und auch nicht mit den willfährigen Hofpropheten, die ihr Fähnchen allzeit in den royalen Wind der herrschenden Oberschicht hingen. Kurzum: nicht mit all den fehlgeleiteten Hirten und falschen Propheten an der Spitze von Staat und Volk.
Der heilende Gott bleibt dabei für Jeremia der Hüter der Menschlichkeit, der das Humanum des Menschen bewahrt. Anrührend lesen wir davon in den tröstenden Passagen des Jeremia-Buches. Weder in seiner Unheils- noch in seiner Heilsverkündigung lassen sich im Jeremia-Buch ethisches und theologisches Urteil voneinander trennen. So auch im Predigttext, der sozialkritische Anteile hat, die aber explizit theologisch rückgebunden werden.
Seine öffentlich-politische und seine religiös-kultische Kritik wurzeln bei Jeremia eindrücklich in seiner unmittelbaren Gotteserfahrung. Auch in Jeremia 9 gehen wahre Lebensklugheit und wahre Gotteserkenntnis Hand in Hand, wenn es am Ende heißt: „Wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sein und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden.“ Klug lebt und handelt also, wer Gott kennt und sich in seinem Leben an ihm, seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit orientiert.
Literatur
Ebach, Jürgen, Septuagesimae: Jer 9,22-23 „Gerühmt muss werden, in: Studium in Israel e.V. (Hg.): Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe IV, Berlin 2017, S.99-104. - Zenger, Erich, u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart, 2. Auflage 1996.
Lieder
„Er weckt mich alle Morgen“ (EG 452, Wochenlied)
„Ein reines Herz, Herr, schaff‘ in mir“ (389)
„Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist“ (277)
„Erneure mich, o ewigs Licht“ (390)
Wochenspruch
Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Daniel 9,18)
Ist es Ihnen auch schon sauer ausgestoßen, dass manche ZeitgenossInnen sich permanent selbst loben und in den Mittelpunkt stellen? Sich ins rechte Licht rücken, ihre Erfolge und Leistung in den Vordergrund stellen und dafür allgemeines Lob und Schulterklopfen erwarten? Gerade in den sozialen Medien mit all den YouTubern und Influencern und auf der politischen Bühne sind geschickte Selbstinszenierung, Selbstdarstellung und Selbstverliebtheit überall zu finden. Ich finde all das Gehabe bisweilen regelrecht peinlich. Daran kann sich doch niemand ernsthaft messen! Das Prahlen mit eigener Schönheit und Makellosigkeit, eigenen Leistungen, materiellem Erfolg oder brillanter Intelligenz ist mir als „Otto-Normal-Verbraucher“ und Durchschnittsmensch irgendwie zuwider.
I.
Ich bin zwar ein „nobody“, so wie die meisten Menschen, aber trotzdem glücklich und zufrieden. Und wie oft entspricht die ganze Selbstinszenierung wohl nicht der Wahrheit… Da werden Fotos retuschiert, Lebensläufe korrigiert, Bilanzen aufgebessert, geschummelt, getrickst oder im Sport schon mal mit Doping nachgeholfen um des Erfolgs willen. Noch schlimmer: Setzt all diese Makellosigkeit, der zur Schau gestellte Reichtum oder die intellektuelle Überheblichkeit mancher ZeitgenossInnennicht völlig falsche Maßstäbe, gerade für Kinder und Jugendliche, die noch auf der Suche nach Vorbildern und Orientierungspunkten für ihr Leben sind? Finden sie diese etwa in solcher Art Eitelkeiten und bei narzisstischen Persönlichkeiten, die sich selbst für die Schönsten, die Klügsten, Begabtesten und Besten halten?
Keine Frage: Ehre, wem Ehre gebührt! Will heißen: Auch ich bewundere Menschen, die es mit Mut und Tatkraft, Energie und festem Willen und oft mit harter Arbeit im Leben zu etwas gebracht haben, die etwas aufgebaut haben. So wie viele Firmengründer, Unternehmer-Persönlichkeiten und Wirtschaftslenker, die dann auch tatsächlich materiell ausgesorgt haben. Meine Hochachtung gilt allen Menschen, die einen weitgespannten, geistigen Horizont oder ein spezielles, herausragendes Expertenwissen haben, ein messerscharfes logisches Verständnis, eine singuläre Intelligenz oder seltene Inselbegabung. Und Menschen, die ganz viel praktische Lebenserfahrung, philosophische Weisheit und Klugheit ausstrahlen, unabhängig von deren Religion oder philosophischem Hintergrund. Und ich ziehe den Hut vor Menschen, die Nächstenliebe ausstrahlen und emotionalen Reichtum in sich tragen und durch ihr soziales und diakonisches Engagement ein Segen für andere werden.
Aber das sind gerade nicht die üblichen Selbstdarstellerinnen und Wichtigtuer, die in den sozialen Medien omnipräsent sind. Auf diesem „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ tummeln sich leider viele Typen mit Promi- oder Krawallfaktor, die weitergereicht werden von Talkshow zu Talkshow oder im TV-Nachmittagstrash landen. Auf der politischen Bühne sind mir solche Typen noch suspekter: Aufschneider, eitle, arrogante und selbstverliebte Prahlhänse, Vielredner und narzisstische Selbstdarsteller, die sich zwar in ihrer Vermessenheit und Überheblichkeit für Heilsfiguren und Überflieger halten, aber nichts davon sind. Der Volksmund hat recht, wenn er sagt: „Eigenlob stinkt!“ Dazu muss man nicht nur zurückschauen ins Amerika der Ära Trump …
Da ist mir bescheidenes Auftreten, Sachlichkeit, Kompetenz und das solide Beherrschen der eigenen Materie wesentlich sympathischer. Hier ist Selbstsicherheit auch am rechten Platz, denn da inszeniert sich jemand nicht nur, um sich in ein besseres Licht zu rücken, sondern da schöpft sie oder er aus seinem inneren Reichtum, seinem Wissen, seiner Klugheit, seiner Kompetenz und weiß, was er kann – und im Zweifelsfall auch, was er nicht kann; was er hat und was ihm fehlt. Solche Menschen suchen selten die große Bühne oder den Applaus der Menge. Sie machen kein Aufhebens um ihre Person, treten aber sehr wohl mit Selbstvertrauen und überzeugend für ihre Sache ein, zeigen Durchhaltewillen und Leistungsbereitschaft, aber geben auch Schwächen und Fehler zu statt sie zu kaschieren.
Solche Menschen sind wichtig für unsere Gesellschaft; ZeitgenossInnen, die Großes und Herausragendes leisten, das den Menschen zum Segen wird, so wie z.B. die beiden GründerInnen und ImpfstoffentwicklerInnen der Mainzer Pharma-Finder Biontech, die als Personen gleichwohl sehr bescheiden auftreten. Nicht nur im Wirtschaftsleben oder in der wissenschaftlich-akademischen Welt, sondern auch auf der politischen Ebene gibt es Gott sei Dank solche respektablen Persönlichkeiten. Dort gilt für mich: Achtung und Ehre, wem Ehre gebührt!
II.
Wenn es um das Thema Selbsteinschätzung geht, hat auch unser heutiger Predigttext aus dem Jeremia-Buch ein Wort mitzureden. Es werden hier, in diesem kurzen Abschnitt über das falsche und das rechte Rühmen in Jeremia 9, allgemein-menschliche soziale Verhaltensweisen thematisiert, die zu allen Zeiten gleich sind. So heißt es im Jeremia-Buch mahnend: „Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.“ (Jer 9,22)
Auch der Prophet Jeremia hat seine Erfahrungen gemacht mit den Eliten seiner Zeit, bei denen es viel demonstrativ zur Schau gestellte Macht, Reichtum und Weisheit gab. Gerade bei der herrschenden Oberschicht war das der Fall, bei den Königen Judas und ihren willfährigen Hofbeamten, bei der religiösen Entourage aus Hofpropheten, die ihr Fähnchen allezeit in den royalen Wind hingen, „falsche“ Propheten, wie das Jeremia-Buch sie nennt. Mutig ist der Prophet gegen die höfische Oberklasse in Jerusalem, der Hauptstadt Judas, dem religiösen Zentrum des vorexilischen Volkes Israel aufgetreten.
Er, der eigentlich ein „Nobody“ war, ein einfacher Priester aus Anatot im Land Benjamin, ein Provinzler, ein „Landei.“ Der Prophet Jeremia war von seiner Herkunft ein einfacher Mann, aber alles anderes als einfältig. Er hat sehr viel auf sich genommen, ausgehalten und ertragen, viel einstecken und erleiden müssen für seine berechtigte politische und kultische Kritik an den Oberen! Eine wahre Leidensgeschichte, ein Martyrium schildert das Jeremia-Buch von seiner prophetischen Existenz, die ihm persönlich alles abverlangt hat und für die er einen hohen Preis bezahlt hat.
Trotzdem ist er mutig bei der Sache Gottes geblieben und sie zu seiner Sache gemacht; dabei Unrecht beim Namen genannt. Das konnte er, weil er Gottes Macht so viel mehr zutraute als der irdischen Macht von Königen, Fürsten, Herrschern oder dem religiösen Establishment. Der Prophet birgt sich in die Hand Gottes, des Schöpfers; er macht sich, sein Leben, seine Botschaft an die Menschen fest an Gott als seinem „Auftraggeber“, konkret an Gottes Barmherzigkeit, seinem Recht und seiner Gerechtigkeit.
Die soziale und politische Kritik von Jeremia war stets theologisch begründet und verankert; war nicht Kritik, um „denen da oben“ eins auszuwischen, sondern war begründet in der Sache, weil er manche politischen Entscheidungen für eine Katastrophe für das Volk hielt. Weil Jeremia nicht nur mit einer rein innerweltlichen Logik denkt, sondern mit Gott, dem ganz anderen rechnet, kommt eine neue Größe ins Spiel, die alle menschliche Überheblichkeit und das Pochen auf politische Macht, menschliche Leistung oder materiellen Reichtum relativiert. Jeremias Maßstab ist die Gerechtigkeit Gottes, die unbestechlich, nicht korrumpierbar und unverrückbar ist, die fest ist und für immer gilt. Und an der sich jeder Mensch orientieren kann.
Darum heißt es im Fortgang des Predigttextes aus dem Jeremia-Buch: „Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.“ (Jer 9,23)
III.
Wahre Lebensklugheit und wahre Gotteserkenntnis gehen bei Jeremia also Hand in Hand. Klug lebt und handelt, wer Gott kennt und sich an ihm und seiner Gerechtigkeit orientiert. Der kommt dann auch nicht in die Gefahr, mehr von sich zu halten als es der Wahrheit entspricht. Das sind am Ende genau die Zeitgenossen, die prahlerisch, eitel, arrogant und selbstverliebt auftreten, die sich selbst für klug halten, sich in Szene setzen und nach außen mehr darstellen wollen als ihre Persönlichkeit in sich trägt; die sich selbst loben und ihre vermeintliche Intelligenz, Macht, Stärke oder ihren Reichtum zur Schau stellen.
Ein gottesfürchtiger Mensch schaut weniger auf sich selbst und seine Befindlichkeiten, sondern auf das, was dem Wohl aller dient. Er ist leistungs- und einsatzbereit, aber erwartet dafür kein Schulterklopfen. Rücksichtnahme auf Schwächere, Solidarität und ein gerechtes Miteinander statt Überheblichkeit und Arroganz, Hauen und Stechen, Rivalitäten und Verteilungskämpfen sind die Richtschnur eines gerechten Handelns.
Wir erleben leider zu unserer Zeit ein in Teilen ungerechtes und unbarmherziges Wirtschaftsleben, besonders weltweit gesehen. Wir ärgern uns vielleicht auch manchmal über die Ruppigkeit, die sich in unserem sozialen Miteinander eingestellt hat. Viele sind aus guten Gründen besorgt angesichts der spalterischen gesellschaftlich-politischen Tendenzen, die sich an der Corona-Politik festmachen. Darum: Gerade was das gesellschaftliche Miteinander in unserem Land betrifft, würde uns mehr Selbstkritik und hier und da auch eine Selbstkorrektur guttun – bei den Eliten, aber auch bei allen „Otto- Normal-Verbrauchern bzw. Verdienern“.
Möge unser eigenes Tun geleitet sein von einem ehrlichen und barmherzigen Blick auf unser eigenes Leben und das unserer Mitmenschen, ganz im Sinne Jeremias. Niemand sollte größer und wichtiger scheinen wollen als er ist. Das bedeutet für mich: Einübung in eine Lebenshaltung, die Fehler zugibt und Schwächen nicht ausblendet, die Versagen nicht schönfärbt oder dunkle Flecken kaschiert, sondern sich gibt, wie man ist. Und dann zu versuchen, im Vertrauen auf Gott meinen Teil an Arbeit und Leistung in dieser Welt beizutragen und ein gutes Miteinander zu fördern. Wenn wir uns in unserem Handeln orientieren an Recht und Gerechtigkeit und sich unser Herz bewegen lässt von Gottes Barmherzigkeit, dann sind wir mit unserem Leben und Glauben auf Gottes guter Segensspur.
Dann können wir auch mit Misslichem in unserem Leben, mit äußerer Anfechtung und Kritik gut umgehen und ihnen standhalten, so wie einst der Prophet Jeremia, getragen von Glauben und Gottvertrauen. Wer Gott kennt, ist innerlich reich, bleibt stark und entwickelt Lebensklugheit! Mit den Worten Jeremias gesagt: „So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sein und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden.“
Sehr ausführlich spricht Pfarrerin Rheinheimer über die narzistischen Angeber und unsympathischen Wichtigtuer und Selbstdarsteller. Sie werden von Jeremia hart kritisiert. Andererseits sind wichtige, sozial engagierte Persönlichkeiten sehr segensvoll für unsere Gesellschaft. Wenn diese zurückhaltent wirken, haben sie Ehre verdient. In meiner früheren Gemeinde hatten wir solch einen reichen Fabrikanten als Kirchenvorsteher, der auf diese Weise viele Millionen für soziale und kirchliche Zwecke gespendet hat. Wer Gott kennt, ist innerlich reich und entwickelt Lebensklugheit. –Aus persönlicher Erfahrung sehe ich aber das Problem, dass wir als Christen selbstbewußt UND bescheiden auftreten sollten. Als ich früher in meiner Gemeinde anfing, wollte ich sehr demokratisch und zurückhaltend auftreten und wirken. Nach einer Zeit kritisierte mich mein Kirchenvorstand, dass ich als Pastor eine Anführerpositon habe und diese selbstbewusst vertreten müsse. Auch als Reli-Lehrer vor Primanern gilt das.