Der blaue Himmel steht uns offen …

Traum von der Beendigung alles Bösen und alles Leides nicht aufgeben

Predigttext: Daniel 7,1-3.9-14
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 26.05.2022
Kirchenjahr: Christi Himmelfahrt
Autor/in: PD Pfarrer Dr. theol. Wolfgang Vögele

Predigttext: Daniel 7,1-3.9-14 (Übersetzung nach Martin Luther)
Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesichte auf seinem Bett; und er schrieb den Traum auf: Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf. Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere.
Da sah ich: Throne wurden aufgestellt, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt wie reine Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer. Da ergoss sich ein langer feuriger Strom und brach vor ihm hervor. Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht wurde gehalten und die Bücher wurden aufgetan. Ich sah auf um der großen Reden willen, die das Horn redete, und ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und in die Feuerflammen geworfen wurde. Und mit der Macht der andern Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte. Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.

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Der unbarmherzige Wecker zerstört den Traum. Er klingelt jeden Morgen um Sechs oder um Sieben. Gegen Morgen wird der Schlaf leichter. Mit der Morgendämmerung gleiten Träume vor das innere Auge. Manchmal bin ich halb wach und weiß nicht, ob ich schlafe oder träume. Traumgeschichten sind flüchtig wie Seifenblasen. Mir geht es so, daß der Wecker den Schläfern ein Signal läutet, Träume zu vergessen. Sofort nach dem Aufstehen muß ich mir ein prägnantes Stichwort merken, sonst ist die Geschichte unmittelbar nach dem Aufstehen aus dem Gedächtnis verschwunden. Keine Erinnerung holt den Traum zurück. Das eine Stichwort allerdings genügt mir, um mich später am Morgen an einen besonders auffälligen Traum zu erinnern.

I.

Träume sind flüchtige Gebilde, sie können verstören oder beruhigen. Man kann sie einfach als Unsinn abtun oder sie ernstnehmen, sie aufschreiben und darüber nachdenken. Träume erzählen Geschichten über das träumende Ich und seine Welt. Sie weisen auf Tieferes, auf das, was das nüchterne, planende Ich nicht wahrhaben will. Träume erzählen Wahrheiten um viele Ecken herum. Sie müssen darum erst entschlüsselt werden. Träume erzählen auch von Glaubenswahrheiten.

Zwei träumende Figuren in der Bibel sind mir besonders lieb und wichtig geworden: Joseph, der kleine Bruder, der den Neid seiner Brüder auf sich zieht. Er amtiert danach in Ägypten als kluger Premierminister des Pharao, den er mit Sieben-Jahres-Plänen zum Wohlstand führt. Joseph gelingt das, weil er in der Lage ist, Pharaos Träume richtig zu deuten. Die zweite Figur ist Daniel, der Fast-Prophet. Er steigt am Hof des babylonischen Königs Belsazar zum Ministerialdirektor auf. Mit Hilfe seiner Träume weiß er sich gegen die Intrigen der bürokratischen Kollegen zu wehren.

Joseph und Daniel sind beide so sehr von ihrem Gottesglauben durchdrungen, daß sie bescheiden gar nicht viele Worte davon machen. Beide wirken als erfolgreiche Politiker bei einer fremden politischen Großmacht. Beide können mit Weitsicht, Glaube und Hoffnung große Erfolge feiern. Beide finden in eigenen oder anderer Träume Hinweise auf Gottes Pläne mit der Welt, und sie setzen diese Pläne in vorausschauende Politik um. Nicht jeder Traum läßt sich unmittelbar auf die Wirklichkeit übertragen. Träume müssen gedeutet werden. Beide wissen darum Träume zu deuten. Im Fall von Daniel sehen das die biblischen Autoren ausdrücklich als eine Gottesgabe (Dan 1,17), die zusammen mit einer Gemüsediät, also vegetarischer Ernährung, politische Einsicht und Klugheit fördert.

II.

Bei der Zusammenstellung der hebräischen Bibel rutschte Daniel trotzdem nach hinten in den Prophetenbüchern, weil ihm im Gegensatz zu Jesaja, Jeremia und Ezechiel die unmittelbare Gottesbegegnung fehlte. An ihn ist kein direkter Auftrag Gottes ergangen, so wie bei den anderen Propheten: Und Gottes Wort erging an Hosea, Joel, Amos und so weiter. Gottes Wort an Daniel erging im Traum.

Daniel redet auch nicht über Israels Gegenwart. Er lebte zu einer Zeit, in der das Volk Israel in Babylon interniert war und nicht in seine israelische Heimat zurückkehren durfte. Daniel redete über die Zukunft. Und das unterschied ihn in der Sicht jüdischer Theologen von den anderen Propheten, die stets über die politische und geistliche Gegenwart sprachen. Für uns klingt das heute überraschend.

Daniel, der Träumer und Prophet, machte am Hof des übermächtigen politischen Gegners Karriere, was ihm die einheimischen Bürokraten, Generäle und Oligarchen  stets neideten. Nicht nur eine Intrige mußte er überstehen. Daniels Träume gewannen schnell politische Kraft und überzeugten theologisch die Glaubenden.

Dabei gelten Träume als unsichere, zweifelhafte Botschaften, die den schlafenden Menschen bedrängen, verwirren, belästigen können. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, schrieb der Maler Francisco Goya als Titel über eine seiner berühmtesten Aquatinta-Graphiken. Und er zeigt einen Mann, der am Tisch eingeschlafen ist, während hinter ihm ein flatternder Schwarm von unheimlichen Eulen und bedrohlichen Fledermäusen auf ihn niederstürzt. Träume geben ihre Geheimnisse, auch wenn es solche des Glaubens sind, nicht einfach so preis.

Um Daniels Traum zu verstehen, ist seine politische Tätigkeit am babylonischen Hof zu berücksichtigen. Denn Daniel arbeitete für den Feind, der das Land Israel verwüstet und seine Bewohner deportiert und zur Zwangsarbeit verpflichtet hatte. Und das sah man theologisch als Zeichen des Zornes Gottes. Gott hat sich von seinem Volk abgewandt, obwohl er mit ihm einen ewigen Bund geschlossen hatte. Gott wollte mit den Menschen nichts mehr zu tun haben.

III.

Träume geben ihr Geheimnis nicht so einfach preis. Daniel war ein Experte der theologischen Traumarbeit. Daß er überhaupt von Gott träumte, sieht er schon als ein erstes Zeichen. Der elende Zustand der damals aktuellen Deportation, der Gefangenschaft und der Bedrängnis, war nicht das Ende. Die babylonische Übermacht hatte gesiegt, aber dieser Sieg sollte nicht anhalten. Dieser elende Zustand wird vorübergehen.  Die Gegenwart ist nicht das Ende. Ich komme darauf sofort zurück.

In Daniels Traum erscheint Gott als uralter Mann im weißen Gewand. Er sitzt auf einem Feuerthron. Daniels Traum – wie alle anderen Träume – bildet nicht die Wirklichkeit ab, sondern verdichtet sie zu Symbolen. Gott bleibt unsichtbar – und gewinnt dennoch Gestalt in einem alten Mann, der viel vom Leben gesehen hat und abwägen kann, was andere ihm an Lebensgeschichten erzählen.

Denn die Traumvision ist als ein letztes, endgültiges Gericht gestaltet. Es heißt, daß die Bücher geöffnet werden – wie Tagebücher oder Ordner mit persönlichen Urkunden oder – noch schlimmer – mit Personalakten. Und in den Büchern, das ist nicht anders zu verstehen, steht aufgeschrieben, was Menschen in ihrem Leben getan und nicht getan haben.

Aber in diesem Gericht über das Leben der Menschen geht die Endzeit nicht auf. Der Traum ist viel komplexer. Nun treten vier Tiere aus Daniels Vision auf, allesamt böse, schrecklich, riesenhaft. Die ersten drei gleichen einem Löwen, einem Bären und einem Panther. Als viertes erscheint ein Phantasietier, ein unförmiger Drache mit schrecklichen Hörnern und vielen geweiteten Augen. Die Monstertiere wüten auf der Erde, sie töten willkürlich viele Menschen und verursachen großes Leid. Die Menschen sind ihnen hilflos ausgeliefert, sie können sich nicht wehren, nicht einmal Schutz suchen. Man kann in diesen Tieren Katastrophen, Plagen und politische und militärische Niederlagen sehen. In den unberechenbaren Tieren spiegeln sich die Ängste der Menschen von damals – und eben von heute. Der Traum Daniels gewinnt ungeahnte symbolische Wirklichkeit in der Gegenwart. Klimakatastrophe, Kriege und Angriffe, Epidemien wie das Corona-Virus verdichten sich zu den schrecklichen Traumtieren, die uns alle gelegentlich in unseren Alpträumen in Angst versetzen.

Und es tun sich weitere Parallelen zur Gegenwart von heute auf: das Gefühl, in einer Zeit der Abwesenheit Gottes zu leben und genauso das Gefühl, in einer Zeit zu leben, in der wir Menschen von monsterhaften Tieren überfallen werden, gegen die sich die Menschen nicht wehren können. Man kann nun diesen Traum Daniels so deuten, als habe der biblische Gott hier seinen Plan für die Geschichte und die Zukunft offengelegt. Jahrhundertelang haben sich glaubende Menschen damit beschäftigt, den Zeitpunkt dieses Gerichts und des endgültigen Siegs Gottes, des bärtigen Mannes im weißen Gewand zu berechnen. Aber alle ausgerechneten Termine sind verstrichen, ohne daß etwas geschehen wäre. Das Handeln Gottes und das Leben der Menschen sind nicht so in eine mathematische Gleichung zu fassen, daß es sich einfach auf einer Linie ohne Unbekannte anordnen lassen würde.

IV.

Ich will deshalb eine vorsichtigere Deutung des Traumes vorschlagen, die unserer Gegenwart besser gerecht wird. Leben und Politik stellt Daniel nicht als ein frommes Wunschkonzert dar, in dem Pfarrer, Glaubende, Engel, dazu Löwen und Lämmer sich harmlos und idyllisch im himmlischen Schlaraffenland vergnügen. An zu Gott zu glauben, bedeutet nicht, sich im Schäferstündchen eines göttlichen Ziergartens aufzuhalten. Glaube wird vielmehr als ein Kampf dargestellt, ein Kampf zwischen politischen und militärischen Mächten, ein Kampf – wenn man das so will – zwischen Gut und Böse. Menschen leiden unter den Attacken der bösen Traumtiere. Es ist ein Kampf, der ist bestimmt von allen möglichen Leiden, dazu von ungerechten Kriegen wie dem in der Ukraine. Es ist schwer, sich gegen Epidemien zu wehren, die wie das Corona-Virus von Tieren auf die Menschen übergehen. Es ist schwer, etwas gegen die Hungersnöte zu tun, die nun drohen, weil wegen des Krieges die Getreidefelder in der Ukraine und Rußland nicht bestellt werden können.

Und Gott, der weiß gekleidete, bärtige Mann auf dem Traumthron, erkennt das in Daniels Geschichte auch an. Im Traum wird über die Katastrophen- und Kriegstiere etwas sehr Wichtiges gesagt: Die Macht dieser verheerenden Ungeheuer ist schrecklich, aber sie ist eben auch begrenzt. Es wird die Zeit kommen, da wird Gott diese Tiere töten. Im Traum heißt es: „[D]enn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.“

Gottes Zukunft, so läßt sich Daniels Traum vorsichtig auslegen, ist von drei Themen bestimmt: Zuerst wird ein Gericht über die Menschen stattfinden. Dann werden die katastrophalen Ungeheuer getötet. Und als drittes, davon habe ich bisher noch nicht gesprochen, tritt eine besondere Figur auf. In der Erzählung heißt es, es sei jemand „wie eines Menschen Sohn“. Dieser Menschensohn erhält von Gott Macht und Herrschaft über Himmel und Erde. Im himmlischen Paradies herrscht nicht Gott selbst, sondern jemand, der von einem Menschen, von einer Frau geboren wurde.  Daß Christen an einen Himmel glauben, bedeutet nicht, daß sie einfach an einen anderen Ort, weit über der Erde geschoben werden. Der Traum sagt: Im Himmel werden die Menschen einem menschlichen Herrscher begegnen.

Nur wegen dieses Menschensohns, wegen Jesus Christus, geht es im Himmel menschlich zu, um der Gnade und Barmherzigkeit Gottes willen. Himmelfahrt ist das Symbol dafür, daß die Herrschaft verheerender und zerstörerischer Mächte zeitlich begrenzt ist. Im Traum lernen wir, daß die Mächte, die im Alltag an uns zerren, begrenzt und vergänglich sind. Der Menschensohn siegt über die Alpträume. Glaubende sind Menschen, die ihren Traum von der Beendigung alles Bösen und alles Leides nicht aufgeben.

Der blaue Himmel steht uns offen. Den wirklichen Himmel beherrschen die Kondensstreifen der Flugzeuge und die Schäfchenwolken. Im Himmel Gottes, nach dem wir uns alle sehnen, herrscht der Menschensohn. Und das nicht nur im Traum, sondern auch im Glauben und im Leben. Es tut gut, sich an jedem Himmelfahrtstag daran zu erinnern.

 

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