In den Sand geschrieben
Entwaffnede Logik
Predigttext: Johannes 8.3-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
3 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
Vorbemerkung
„Einander ins Bild setzen“ heißt das Leitbild der dramaturgischen Homiletik. In sechs sogenannten Moves / Sequenzen (Martin Nicol/Alexander Deeg) geschieht eine Annäherung bzw. Auseinandersetzung mit der Perikope in Johannes 8,3-11. Moves, das sind einzelne Szenen, Filmsequenzen, Bildschnitte, Akte (Theaterstück), Sätze (Symphonien). Darin liegt eine bewusste Sprunghaftigkeit zwischen den einzelnen Moves. In unterschiedliche Perspektive (Structure) wird Johannes 8,3-11 beleuchtet. Zusammengefasst unter der Überschrift, dem Titel: „Befreiende Vergebung“. Diese Annäherung in Perspektiven ist der Komplexität des Lebens geschuldet. So will Gottes Wirklichkeit in der differenten Weltwirklich zur Sprache kommen. Die vorliegende Predigt ist so keine lineare, logisch fortschreitende Erörterung. Dem Hörer/der Hörerin bleibt die Freiheit, verschiedene Blickrichtungen einzunehmen und sich sein/ihr Urteil zu bilden.
Predigt
Befreiende Vergebung
- Alltägliche Angriffe
In der Schule kommt vor Beginn der Stunde ein Kind auf mich zu, heulend und aufgebracht und klagt an: „Die Sofie hat mir ans Bein getreten und mich weggeschuppst! – Offensichtlich erwartet sie von mir, dass ich die von ihr erwartete Bestrafung vollziehe, um ihr Gefühl von Gerechtigkeit wieder herzustellen. “Mal ganz langsam”, sage ich. „Erzähl mir, was passiert ist.” Ich höre geduldig zu und erfahre aus dem Mund des anklagenden Kindes, was aus seiner Sicht der Dinge vorgefallen ist. “Okay”, sage ich und frage schließlich: “Und was hast du der Sofie für einen Anlass geliefert, dass sie so reagiert hat?” Darauf zunächst betretenes Schweigen. Dann bricht es aus dem Kind heraus: “Aber das andere Kind hat mir doch …!”
“Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein…”
- Gnadenlose Konfrontation
In dem Buch Mirjam von Luise Rinser heißt es:
>Die Ehebrecherin erzählte: Die welche mich dem Rabbi vorgeführt hatten, standen im Halbkreis um mich und ihn, und jeder hatte seinen Stein in der Hand und einen Steinhaufen neben sich. Warum warfen sie nicht? Sie warteten auf das Wort des Rabbi. Der aber saß da und zeichnete mit dem Finger im Sand. Große Stille. Es fehlte nicht viel, und ich wäre auch ohne Steinigung vor Angst gestorben. Das Warten, es war furchtbar. Und dann die Stimme des Rabbi: Derjenige unter euch, ihr Männer, der ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Jetzt also. Ich duckte mich. Das würde nichts helfen, aber eben, ich duckte mich und schloss die Augen. Aber es kam kein Stein. Stell dir vor: einer nach dem anderen ließ seinen Stein fallen und ging davon. Das war schon großartig, wie der Rabbi sie so weit brachte. Sie hätten sich ja für Gerechte halten können, verglichen mit mir. Aber freilich, unter uns, Mirjam: es war einer dabei, der schon in meinen Armen gelegen hatte, der konnte nicht gut auf mich werfen. Und die andern: lauter Sünder. Ehebrecher auch sie, oder Betrüger, oder sonst was. Und dann war ich mit dem Rabbi allein. Jetzt würde er mir Scharfes sagen und mich verachten. Was denkst du, was er sagte …< [Aus Luise Rinser, Mirjam, S. 102-104]
“Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie”
- Liebe stärker als der Tod
Der Schriftsteller Werner Bergengruen erzählt in seiner Novelle „Das Netz“ folgende Begebenheit: Auf einer Insel im Mittelmeer gilt noch ein altes Gesetz, dass jede des Ehebruchs überführte Frau von einem Meeresfelsen zu Tode gestürzt werde. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Gatte die Bestrafung will oder ob er zu einer Aussöhnung bereit ist.
Der Ehemann der Frau, an der das Urteil vollstreckt werden soll, hatte sich einige Tage zum Fischfang von der Insel entfernt. Nachbarn hatten die erheblich jüngere Frau des Fischers zur Anzeige gebracht. Die Beweise waren eindeutig, die Frau leugnete nicht lange. Sie schien verstört. Nach dem Liebhaber gefragt, antwortete sie: „Er hat mich umgarnt. Wie in einem Netz hat er mich gefangen.“ In einem Turmgefängnis wartete die Frau auf ihre Urteilsvollstreckung.
Inzwischen war der Gatte heimgekehrt, ein hochgewachsener Mann von ungewöhnlicher Leibesstärke und Gewandtheit, aber ernst und schweigsam. Die Leute empfingen ihn am Hafen mit Bedauern. Schnell erfuhr er, was geschehen war und geschehen sollte.
Die Frau hatte nur den einen Wunsch, die Vergebung ihres Mannes zu erlangen. „Ich denke, da Gott dir vergeben hat, wird es dir auch an seiner Vergebung nicht fehlen“, sagte der Priester, nachdem er ihr die Sakramente ausgeteilt hatte.
Der Verurteilungstag war gekommen. Die Frau wurde am Morgen an den Abhang geführt, der viele hundert Fuß hinab reichte. Ein vom Priester erbetener Aufschub verstrich, da der Ehemann nicht kam. Die Fesseln wurden gelöst, der Richter wiederholte den Urteilsspruch, die Frau erhielt den Stoß in die Tiefe.
Es verbreitete sich am Nachmittag das Gerücht, man habe den Fischer mit seiner Ehefrau gesehen. In der Tat: Der Fischer hatte Netze geflickt und verstärkt, Seile geknüpft und Säcke und Bettzeug mit Heu und Stroh und Moos gestopft und neue Säcke von Segelleinwand angefertigt. In der Frühe hatte er alles in den Klippen gespannt und befestigt. So hat der Mann seiner Frau das Leben gerettet.
Die Markgräfin urteilte: „Du hast dich in einem Netz fangen lassen und bist durch ein Netz gerettet worden, denn wie zuvor dem Fremden, so bist du jetzt deinem Mann ins Netz gegangen. Zum Zeichen dass du eine Gefangene bleibst, nicht des Gesetzes und der Obrigkeit, sondern deines Mannes und seiner Liebe, trage ein Haarnetz.“
“Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie”
- Wahrheit im Sand
Die Schriftgelehrten und Pharisäer bringen eine beim Ehebruch ertappte Frau zu Jesus und fragen ihn nach seinem Urteil. „Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ Diese Reaktion Jesu hat mich schon immer erstaunt.
Ich frage mich, was hat Jesus damit sagen wollen: Ist Jesus das Urteil egal und er bückt sich, um sich unsichtbar zu machen? Will Jesus sagen: „Ach lasst mich doch in Ruhe mit Eurer Gesetzesfrömmigkeit“, und entzieht sich einer Antwort? Gibt Jesus auf eine ungewöhnliche Weise den Anklägern Zeit zum Nachdenken und die Möglichkeit der Selbstreflexion? Tut Jesus mit seiner Handlung kund, dass das Gesetz des Mose in Stein gemeißelt ist. Dass aber unsere Moralvorstellungen so vergänglich sind, wie Worte in Sand geschrieben, über die der Wind hinweg weht? Ist Jesu Schreiben in den Sand ein Zeichen der Gnade. Der vergebenden Gnade, die immer wieder neu – gegen den Sturm der Entrüstung, die die Schrift verweht – in den Sand geschrieben werden muss. Der vergebenden Gnade, die der Frau auf eine ihre Ankläger entlarvende Weise neu ihre Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit zuschreibt.
“Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie”
- Entwaffnende Logik
Einem Menschen verzeihen, befreit uns aus den Stricken der Vergangenheit, die uns dadurch lähmen, dass wir immer daran denken. Verzeihen nimmt uns die belastenden Gefühle von Groll, Wut und Hass und bewahrt uns davor, dass es uns auf Magen oder Herz schlägt. Verzeihen gibt uns unseren Seelenfrieden zurück und schafft Raum für positive Gedanken. Verzeihen öffnet uns für die Zukunft, lässt uns nach vorne gerichtet mit anderen Menschen frei handeln und kommunizieren. Welch eine Gnade!
„Verzeihenkönnen setzt eine gut entwickelte Selbstliebe, gesunden Narzissmus voraus. Nur, wenn wir uns mit allen Schwächen und Fehlern akzeptieren, entwickeln wir auch ein tieferes Verständnis für andere und werden nachsichtiger gegen deren Fehlern. Wir sind dann in der Lage, andere so zu akzeptieren, wie sie sind. Wir bekommen einen Sinn für die Verhältnismäßigkeit von Gefühlen und für die Proportionen von Gut und Böse.“ [PSYCHOLOGIE HEUTE, August 2002, Seite 23f]
“Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“
- Befreites Leben
Am Ende sind die Frau und Jesus allein. Die beiden könnten jetzt darüber reden, was die Frau bewogen hat. Die Geschichte ist wahrscheinlich vertrackt und kompliziert. Aber das geht uns nichts an. Das gehört in ein seelsorgerliches Gespräch, unter vier Augen, hinter verschlossener Tür. Eher in ein Gebet zu Gott. Zurück bleibt eine Ermutigung: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr!“ Mehr Mut zum Leben kann man einem Menschen nicht machen. Mehr Freiheit kann man einem Menschen nicht einräumen. Mehr Gottvertrauen kann man einem Menschen nicht zutrauen.
“Der innere Aufbau einer Predigt ist mit das Wichtigste “, das hat mein Vikarsleiter an St.Petri Hamburg , der Pastor und auch Pastoral-Psychologe Dr G.v. Schlippe mir eingeschärft. Pfarrer Klein hat in seiner Predigt diesen Grundsatz sehr überzeugend verwirklicht. Er findet zu den einzelnen Abschnitten des Predigttextes anrührende Beispiele. Sie bauen interessant aufeinander auf. So hat die Predigt auch eine neugierig machende Einleitung und einen mitreissenden, aufffordernden Schluss mit Freiheit und Gottvertrauen. – Eine Predigt zum Bedenken und Weiterzugeben !