Unerwartete Wende
Menschliche Existenz in Gottes segensreichem Handeln
Predigttext: Johannes 6,1-15 (nach Martin Luther, Revision 2017)
1 Danach ging Jesus weg ans andere Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt.
2 Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
3 Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern.
4 Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.
5 Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?
6 Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte.
7 Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme.
8 Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus:
9 Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele?
10 Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
11 Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten.
12 Als sie aber satt waren, spricht er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt.
13 Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.
15 Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein.
Exegetische Bemerkungen
Johannes erzählt das Brotwunder in typischer Abweichung von der synoptischen Darstellung. Steht bei dieser das Wort Jesu „Gebt ihr ihnen zu essen“ als Überraschungseffekt im Zentrum, so bei Johannes das Mysterium, eingeläutet schon durch das Erscheinen eines „göttlichen Kindes“. Geht es in der synoptischen Fassung darum, dass die Jünger aufgefordert werden, das Werk Jesu fortzusetzen (vgl. Mk 6,7-13 / Lk 9,1-6), und zwar sozial, eucharistisch und kerygmatisch, so bei Johannes um das Geheimnis des Wundertäters, der, da er göttlicher Natur ist (übernatürliches Wissen und Können), mit menschlichen Kategorien nicht erfasst werden kann (6,14.15). Da die Wundertaten bei Johannes zugleich ausdrücklich „Zeichen“-Charakter haben (hier z.B. 6,2), weisen sie über sich selbst hinaus auf den Grund menschlicher Existenz in Gottes segensreichem Handeln.
Homiletische Bemerkungen
In Erkenntnis der Brotmetaphorik dieser Geschichte legt sich mir die Frage nahe: Wovon lebt der Mensch? Darauf, meine ich, will die Wundergeschichte antworten. Um die Antwort zu Gehör zu bringen, glaube ich, zunächst selbst nach einer Formulierung suchen zu müssen, die sowohl dem heutigen Menschen als auch der Intention der Geschichte adäquat ist. Christliche Existenz versteht sich als Gehalten-Sein, Geführt-Werden, Getragen-Werden, kurz: als Leben im Vertrauen. Eine Wundergeschichte betont darüber hinaus eine unerwartete Wende. Wovon also lebt der Mensch? Außer vom Brot aus dem Vertrauen – hier: aus dem Vertrauen auf eine unerwartete Wende. Dass diese in und mit Jesus jederzeit gegeben ist, darauf möchte ich hinaus.
Die Predigt könnte auch in eine andere Richtung gehen: Wir leben aus der Mahlgemeinschaft mit Jesus Christus, in der er selbst Geber und Gabe ist (Jh 6,35). Obwohl Johannes offensichtlich nicht das letzte Mahl als Vermächtnis darstellt, sondern stattdessen die Fußwaschung, sind kultisch-liturgische Anklänge in dieser Geschichte vorhanden (nahm, dankte, gab, desgleichen auch) (vgl. auch Jh 21,13). So könnte die Predigt in eine Doxologie der Mahlgemeinschaft münden mit anschließendem Vollzug derselben. So erreiche ich freilich nur den Binnenraum der Gemeinde.
Will ich auch die „Zaungäste“ ansprechen, sollte ich mich nicht zu sehr auf das Abendmahl konzentrieren. Wer es dennoch tun will, sollte authentische Erfahrungen beibringen. Verwiesen sei auf einen Gemeindebriefartikel der Kirchengemeinden Jork und Borstel (Glockenschlag 44/2022 Nr. 2) von Pastor Paul Henke: „Abendmahl – Das Mahl der Hoffnung und Freude“ (https://www.kirche-borstel.de/damfiles/default/kg_borstel/Gemeindeleben/09-Glockenschlag/Web-Glockenschlag/GL_2022_02_06_DRUCK_WEB.pdf-70c6c3f40a10638569f6288773fbb818.pdf) (Zugriff: 20.06.2022)
- Stolpersteine
auf dem Fußweg in die Stadt sind Stolpersteine eingelassen, quadratische Messingblöcke mit Namen von Verfolgten des NS-Regimes, die in dieser Stadt beheimatet waren. Sie kennen diese Stolpersteine. An den Ecken und Kanten etwas abgerundet; fast, aber nicht ganz auf Gehwegniveau, damit man beim „Stolpern“ nicht zu Schaden kommt. Aber ein bisschen „stolpern“ soll man schon, wenigstens stutzen und zum Nachdenken kommen.
So empfinde ich auch die Geschichte von der Speisung der 5000 Menschen, die der Evangelist Johannes erzählt. Zunächst verläuft alles ganz unspektakulär. Nach vielen Krankenheilungen sucht Jesus mit seinen Jüngern Abgeschiedenheit und Ruhe auf der anderen Seite des Sees Genezareth auf einem hohen Berg; aber er kann es nicht verhindern: Das Volk zieht ihm nach, will ihn hören, will ihn sehen, erwartet Wunder von ihm. Bei einem ungewöhnlichen Menschen wie Jesus ist das normal. Ich sehe mich auch in diesem Zug der Menschenmenge hinter Jesus her. Menschenmassen brauchen auch etwas zu essen und zu trinken. Aber nichts ist organisiert. Warum denn auch? Diese Massen waren jetzt nicht gewollt. Aber nun sind sie da!
Und jetzt komme ich ein erstes Mal ins Stolpern. Philippus stellt fest: Hier kann man auf die Schnelle nichts auf die Beine stellen. Andreas aber entdeckt hellsichtig einen Knaben, „der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele?“ fragt er besorgt. – Ich frage mich: Woher kommt der Knabe plötzlich? Wer ist der Knabe? Ihn umgibt ein Mysterium, ein Geheimnis, ebenso auch seine fünf Brote und zwei Fische, von denen dann, aus Jesu Hand gereicht, 5000 Leute satt werden. Darüber kann ich nicht glatt hinweggehen. – Zum Mysterium des Knaben kommt noch der zweite Stolperstein: Wie können fünf Brote und zwei Fische, aus Jesu Hand gereicht, 5000 Leute sättigen? Stolpersteine wollen mich zum Nachdenken bringen. Wenn ich nächstes Mal diesen Weg gehe, komme ich besser drüber hinweg. Vielleicht geht mir das ja auch mit dieser Geschichte so.
- Wovon lebe ich?
Da ist das wundersame Kind mit seinen fünf Broten und zwei Fischen, da ist Jesus, der sie nimmt, dankt und sie der Menge gibt – ganz wie beim Abendmahl – und alle werden satt. Ich auch. Denn ich bin ja mitgezogen mit der Menge. Und am Ende frage ich mich: Wovon lebe ich? Vom Brot, d.h. von der täglichen Nahrungszufuhr, vom Wasser vielleicht allein, wenn es ums Fasten geht? Ja natürlich, davon lebe ich, und darum bitten wir ja auch: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“ Wir wollen das nicht gering achten, zumal in Zeiten, in denen es nicht selbstverständlich ist, dass die Brotregale beim Bäcker voll sind, und in denen Hungersnöte in Afrika auszubrechen drohen aufgrund ausbleibender Getreidelieferungen aus der Ukraine.
– Wovon lebe ich? Die Römer antworteten: Von Brot und Spielen! Diese Einstellung hat sich durchgezogen bis heute: Spaß haben bis zum Abwinken. Davon kann man leben, aber ist das alles? Jesus selbst hat einmal gesagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht“ (Mt 4,4 / Lk 4,4). Das Wort gefällt mir. Insbesondere deshalb, weil er das Brot nicht schmäht. Wir brauchen das Brot zum Leben, allerdings nicht allein!
- Die Antwort des Philippus
Philippus, einer der Jünger Jesu, ist noch nicht so weit. Er glaubt, wenn alle genug zu essen hätten, wären alle glücklich und zufrieden. Leider reicht das Geld nicht, aber wenn … Ich finde eine solche Einstellung manchmal auch bei uns vor. Ich kenne Menschen, die das Gefühl haben, es gibt Defizite in unserer Gesellschaft, die einem verantwortungsbewussten und ausgeglichenen Miteinander nicht gut tun. Sie können diese Defizite nur schwer benennen, aber sie liegen im geistigen Bereich. Diesen Kritikern begegnet man mit Unverständnis, und man sagt: „Es geht dir doch gut, was willst du noch mehr?“ Glück und Zufriedenheit werden mit Wohlstand gleichgesetzt. Wo Wohlstand herrscht, kann es doch eigentlich an nichts fehlen, meint man.
- Die Antwort des Andreas
Andreas, der andere Jünger Jesu, sieht, dass es da mehr gibt. Etwas Reales und doch Unfassbares. Ein Kind mit fünf Broten und zwei Fischen. Wie aus einer anderen Welt. Leben wir auch davon? Leben wir auch vom Unfassbaren? Leben wir auch vom Geheimnis? Einen kurzen Moment hat Andreas den Durchblick durch die graue Wolkendecke auf das Blau des Himmels, einen kurzen Moment allerdings nur; dann zieht der Himmel sich wieder zu: „Aber davon wird ja niemand satt, was sind fünf Brote und zwei Fische für so viele?“ Die Frage: „Wovon leben wir?“ bleibt offen. Oder hat Andreas uns schon die Richtung gewiesen? Leben wir vom Unfassbaren, vom Geheimnis?
- Die Antwort Jesu
Ja, ich glaube, wir können auf diesem Weg bleiben. Wir leben vom Unfassbaren, vom Geheimnis, das sich am Ende der Erzählung in Jesus Christus offenbart. Denn er ist es, der auch da, wo nur wenig ist, die Fülle spendet. Die Bibel malt das in krassen Farben aus. Da werden 5000 Leute satt von fünf Broten und zwei Fischen, die irgendwoher gekommen und durch Jesu Hände gegangen sind. Brotwunder nennt man diesen Stolperstein. Aber er weist auch den Weg. Er führt zur Antwort auf die Frage, wovon wir leben. Man kann auch von Hoffnungswunder oder Vertrauenswunder reden.
Denn wo nur noch wenig Hoffnung ist, da schenkt Jesus ungeahnte Fülle, wo nur wenig Vertrauen ist, da gibt Jesus jede Menge. Und daraus leben wir. Ich will nicht behaupten, dass das bei jedem von uns immer so ist. Aber diese wundersame und zugleich wunderbare Geschichte weist uns den Weg dahin. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern – und das soll uns gesagt sein – vom Vertrauen, vom Vertrauen auf eine unerwartete Wende, vom Vertrauen auf ein Wunder. Zugegeben: Manchmal kommt es anders als erhofft. Das Wunder ist nicht planbar. Aber es ist erfahrbar, wenn in scheinbar Hoffnungslosem sich unerwartet ein Ausweg findet.
Wir können nicht ohne Brot leben, aber auch nicht ohne Hoffnung und Vertrauen. Vertrauen aber braucht Nahrung. Und diese Nahrung gibt Jesus selbst. Er hat sie damals gegeben, und er gibt sie bis heute. Er gibt sich uns selbst in Brot und Wein, Zeichen dafür, dass unser Vertrauen nicht ins Leere geht. So lässt er durch den Evangelisten Johannes durch alle Zeiten hindurch ausrichten: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“
Mit dem Bild von den Stolpersteinen beginnt die sehr vertändliche und tiefsinnige Predigt vom Brotwunder. Dass Jesus für Christen das Brot des Lebens ist und uns Hoffnung und Gottvertrauen schenkt wir so klar gesagt , dass ich als Kommentar nicht hinzufügen kann ohne die liebevolle Botschaft zu zerreden.