Wann sind wir frei?
Freiheit und Verantwortung
Predigttext: Galater 5,25-6,10 (nach der Einheitsübersetzung und der Neuen Genfer Übersetzung)
Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist handeln! Lasst uns nicht prahlen, nicht einander herausfordern und nicht neidisch auf einander sein!
Brüder und Schwestern, wenn jemand etwas Falsches tut, so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanftmut zurechtweisen. Doch gib Acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst!
Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wer sich einbildet, etwas zu sein, obwohl er nichts ist, betrügt sich selbst. Jeder prüfe sein eigenes Werk. Dann kann er sich mit dem rühmen, was er selbst tut, und muss sich nicht mit anderen vergleichen. Jeder hat nämlich das zu tragen, wofür er selbst verantwortlich ist. Wer in der Lehre des Evangeliums unterrichtet wird, soll mit allem, was er besitzt, zum Lebensunterhalt seines Lehrers beitragen. Macht euch nichts vor! Gott lässt keinen Spott mit sich treiben.
Was der Mensch sät, wird er auch ernten. Denn wer auf sein eigenes Fleisch sät, wird vom Fleisch Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten. Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun; denn wenn wir darin nicht nachlassen, werden wir ernten, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Deshalb lasst uns, solange wir Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber denen, mit denen wir im Glauben verbunden sind!
Wann sind wir frei? Wenn wir tun können, was wir wollen? Wenn wir keine materiellen Sorgen haben? Wenn wir ohne Angst sagen können, was wir denken? Wenn die Regeln für uns genug Spielräume zulassen? Wenn wir ohne Sorgen oder Krankheiten leben?… Der Apostel Paulus war ein Apostel der Freiheit. In seinem kämpferischsten Brief, dem Galaterbrief, fasst er den ganzen christlichen Glauben so zusammen: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit« (Galater 5,1).
I.
Der Brief ging an Gemeinden in Galatien in der heutigen Türkei. Dort gab es einige, die für den Glauben an Jesus Bedingungen stellten: Wer nicht als Jude oder Jüdin geboren war, sollte zum Judentum übertreten. Nur dann könne man richtig zur Gemeinde gehören. Das bedeutete auch Nicht-Juden hätten alle Vorschriften der Tora genau so einhalten müssten, wie es die Juden taten. Vor allem hätten die Männer sich beschneiden lassen müssen. Paulus hält dagegen: Gottes Geist verbindet auch die Menschen mit Jesus, die nicht mit dem jüdischen Gesetz aufgewachsen sind. Der Glaube an Jesus bringt die Freiheit – keinen Zwang.
Die anderen warfen ihm vor: »Dein Freiheit, lieber Paulus, untergräbt das Gesetz. Dann könnte ja jeder tun, was er oder sie will, und es geht drunter und drüber. Dann würde sich niemand mehr an die Regeln halten und es gilt einfach das Recht des Stärkeren«. Paulus meinte mit Freiheit etwas anderes . Darum schreibt er darüber, wie er sich das Miteinander vorstellt, und zwar gerade dann, wenn es Probleme oder Konflikte gibt.
(Lesung des Predigttextes)
Freiheit heißt für Paulus gerade nicht: Jeder tut, was er will. Freiheit heißt, aufeinander Rücksicht nehmen und achtsam miteinader umgehen. Für mich ist der wichtigste und schönste Satz aus diesem Abschnitt »Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen«. Das Gesetz Christi ist kein anderes Gesetz als die Tora; das Gesetz, das Mose für das Volk Israel empfangen hatte. Aber es ist die Tora, so wie Jesus sie ausgelegt und mit Leben erfüllt hat. Als Jesus gefragt wurde: »Was ist das höchste Gebot?«, antwortete er mit Worten aus der Tora »Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst« (Markus 12,29 ff).
Paulus greift hier den zweiten Teil dieses Doppelgebots hier auf. Seine Kurzfassung für die Nächstenliebe lautet »Einer trage die Last des andern«. Wenn etwas zu schwer ist, muss jemand anders mit anfassen. Diese einfache Einsicht gilt überall, wo Menschen zusammen leben. Wir können das ganz wörtlich verstehen: Wo eine helfende Hand gefordert ist, wenn schweren Einkäufe nach Hause zu tragen sind. Oder wo wir gemeinsam etwas erledigen, was für einen zu schwer wäre.
II.
Aber es geht auch um die inneren Lasten, die Menschen viel zu of ganz allein mit sich herumtragen. »Einer trage des anderen Last«, heißt: Sei bereit, den Kummer zu hören und gemeinsam auszuhalten, zu trösten und einfach da zu bleiben. Du musst kein Profi darin sein, du brauchst keine psychologische Ausbildung und keine Fortbildung in Seelsorge dazu. Es braucht dein Herz und die Bereitschaft mit zu tragen, was einem anderen oder einer anderen schwer auf dem Herzen oder auf der Seele liegt.
Vielleicht ist es auch umgekehrt, dass ich selbst belastet bin. Vielleicht denke ich, ich komme allein mit allem alleine klar und brauche keine Hilfe. Tatsächlich fällt es vielen von uns schwer, andere um Hilfe zu bitten. Aber fast immer entlastet es mich, wenn ich meine Last mit jemandem anders teile, so wie Paulus es schreibt. Dazu müssen wir bereit sein, uns für andere zu öffnen.
Gemeinsam-Tragen, davon spricht Paulus auch, wenn es um’s Materielle geht. Als konkretes Beispiel nennt er seine eigene Situation. Er reist von Ort zu Ort, um die Frohe Botschaft von Jesus Christus zu verkündigen. So ist er ja auch mit den Galatern in Kontakt gekommen. Deshalb kann er seinen eigentlichen Beruf als Zeltmacher nicht ausüben. Er ist darauf angewiesen, dass er von den Gemeinden bekommt, was er zum Leben braucht. Aber Paulus meint das auch grundsätzlich: Wer viel Geld hat, soll denjenigen helfen, die wenig haben. Ganz praktisch sammelt er überall Spenden für die Gemeinde in Jerusalem. Heute nennen wir das Solidarität, wie ein roter Faden zieht sich dieser Gedanke schon durch die ganze Bibel.
Die großen Lasten gemeinsam zu tragen, ist auch heute nötig, im Herbst und Winter 2022. Nur wenn wir dazu bereit sind, werden sie überhaupt zu tragen sein. Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen belastet viele Menschen schwer. Die Ukrainerinnen und Ukrainer, deren Leib und Leben täglich bedroht ist und deren normales Leben durch den Angriffskrieg zerstört ist. Die Soldaten und Soldatinnen, die kämpfen müssen – auf beiden Seiten. Die Millionen Geflüchteten, deren Familien zerrissen sind, die in der Fremde neu anfangen müssen.
Auch wenn wir nicht direkt von der Gewalt des Krieges betroffen sind, spüren wir seine Last. Wir erleben wir alle die steigenden Preise. Viele Menschen geraten in Schwierigkeiten, weil die Energiepreise und die Lebenshaltungskosten so stark ansteigen. Manche Betriebe oder ganze Branche sind bedroht. Viele sorgen sich, was in den nächsten Monaten kommen wird. Nicht wenige haben Angst, vor dem, was kommt.
III.
»Einer trage des anderen Last«. Als Christinnen und Christen haben wir die Aufgabe, das immer wieder in Erinnerung zu rufen. Und es ist unsere Aufgabe, das umzusetzen, so gut wir können. Als der Ukrainekrieg begann, haben wir viele Sachspenden gesammelt, Ehrenamtliche haben Geflüchtete am Bahnhof empfangen. Manche haben Geflüchtete bei sich aufgenommen. In den Medien ist es still darum geworden, aber Geflüchtete brauchen weiter unsere Unterstützung – und nicht nur die aus der Ukraine. Gut, dass Menschen sich weiter dafür einsetzen, zum Beispiel bei uns im Café Talk.
Für den Zusammenhalt in unserem Land und in Europa ist es wichtig, dass die Lasten auf viele Schultern verteilt werden. Für die Verantwortlichen in der Politik ist das eine große und fast unlösbare Aufgabe. Paulus würde auch von uns heute fordern, dass wir genau darauf achten, wer belastet ist oder überlastet. Und zu schauen, was wir tun können, um die Last zu erleichtern. Wir jeder und jede einzeln und wir alle gemeinsam.
Wann sind wir frei? Wenn wir in wichtigen Fragen selbst entscheiden können, was wir tun oder lassen. Im Glauben müssen wir frei sein. Wenn wir nur glauben würden, weil andere es uns sagen, oder weil die Tradition es vorschreibt – es wäre kein Glaube.
Aber diese Freiheit heißt nicht, dass wir nur für uns alleine sind und nur für uns selbst entscheiden. Weil wir frei sind, können und sollen wir uns anderen zuwenden. Gerade die Menschen, die schwer zu tragen haben, erleben ja das Gegenteil von Freiheit. Sie fühlen sich gebunden und eingeschränkt von ihren Sorgen, von ihren Problemen oder Krankheiten. Dann brauchen sie Menschen, die mittragen. Vielleicht können wir sagen: Je freier wir selbst sind, um so größer ist die Verantwortung, die wir für andere haben. Schauen wir, wo Gott uns die Freiheit und die Aufgabe gibt, die Lasten von anderen mitzutragen.