Wann?
„Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk…“
Predigttext: Lukas 17,20-30 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein. Zuvor aber muss er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht. Und wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird’s auch sein in den Tagen des Menschensohns: Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie ließen sich heiraten bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um. Ebenso, wie es geschah in den Tagen Lots: Sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten; an dem Tage aber, als Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um. Auf diese Weise wird’s auch gehen an dem Tage, wenn der Menschensohn wird offenbar werden.
Wann?
Nein, nicht nur die Pharisäer fragen: Wann?
Papa, wann sind wir da? Kinderfragen im Auto. Sie häufen sich, je länger es dauert. Irgendwann nerven sie. Papa, wann sind wir da? Ich sage, wie lange es noch dauern wird. Aber was sind eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden? Weiß ich, was das heißt? Ehrlich gesagt: Ich kann auch schon nicht mehr sitzen. Nur noch ankommen!
Wann hören Kriege auf? Die neue Ausgabe der DIE ZEIT, die gerade erschienen ist, Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Wissen und Kultur, druckt die Frage dick auf die Titelseite. Ohne die Ausgabe schon zu kennen: Neben vielen Informationen und Fragen wird gerätselt: Rätseln heißt: drum rum reden, nicht mehr zu wissen als andere, Zweifel auszutauschen. Wenigstens gibt es Honorare. Nur nicht auffliegen!
Wann wandelt das Klima die Menschen? Vom 6.-18.11. findet in Scharm El Scheich / Ägypten die 27. Klimakonferenz statt. Tausende Delegierte reisen an. Es wird viel geredet werden, zu viel. Der Geist kommt mit den Treibhausgasen nicht mit. Seit Jahr und Tag, gefühlt gar seit Ewigkeiten, sind alle Probleme hin und her gewendet, in kluge Formulierungen gegossen, in Grafiken visualisiert. Nur nicht schon wieder leere Hände!
Nein, nicht nur die Pharisäer fragen: Wann? Wir auch.
Zwielicht
Die Pharisäer sind kluge Leute. Sie heucheln auch nicht. Sie stellen Jesus keine Falle. Ihre Rückfragen sind echt. Wenn Jesus doch das Reich Gottes ankündigt – „Es ist nahe!“ -, wann kommt es dann? Wie? Wo? Mit dem Reich Gottes sind die größten Hoffnungen der Menschen verbunden. Wir können sie nicht einmal alle aufzählen. Der Frieden gehört dazu, ein echter Frieden! Die Versöhnung zwischen den Menschen und auch mit der ganzen Schöpfung! Die Hoffnung, dass selbst das Böseste überwunden wird. Ohne neues Unheil, neue Gewalt, neuen Hass.
Menschen wollten immer schon das Reich Gottes – oder was sie von ihm dachten – machen: als klassenlose Gesellschaft für die einen, als rassereine Gesellschaft für die anderen. Sozialismus wie Nationalsozialismus verstanden sich als Heilslehren. Sie haben ihren Hass zelebriert, Fahnen geweiht und die Welt in Gut und Böse aufgeteilt. Ihre Saat geht immer noch auf. Vergangen sind die Ideen nicht. Menschenopfer werden nicht nur in Kauf genommen, Menschenopfer werden gerechtfertigt. Wer nicht mitmacht, wird eliminiert – für ein größeres, erhabenes, ewiges Ziel. Wer hätte gedacht, dass wir das morgens in der Zeitung lesen und am Abend im Fernsehen sehen? Notfalls kann, notfalls muss mit Gewalt durchgesetzt werden, was wir für Gottes Reich halten. Am Ende wird der Mensch Gott und sein Reich die Hölle. Stundenlang könnten wir jetzt zusammentragen, was uns in den Sinn kommt, was wir wissen, was wir längst verdrängt haben.
Nein, die Pharisäer fragen nicht nur „wann“ – Sie kennen die Hl. Schrift, sie kennen den Willen Gottes, sie kennen auch die Menschen. Sie kennen auch die – Zeloten. Die Zeloten glaubten, mit Gewalt, auch um den Preis ihres eigenen Lebens, die Römer zu vertreiben, aus ihrem Heiligen Land. Terrorakte reihen sich an Terrorakte. Was wie Nadelstiche aussieht, wird zu einem Kampf auf Leben und Tod. Doch: wenn die Römer geschlagen würden – das Reich Gottes ist dann noch immer nicht da. Wenn der Hass Früchte trägt – das Reich Gottes ist dann noch immer nicht da. Wenn Israel nur noch Israel gehört – das Reich Gottes ist dann noch immer nicht da.
Alles anders
Nein, das Reich Gottes muss anderes, muss mehr sein. Das Reich Gottes muss Reich Gottes sein – nicht Ausgeburt menschlichen Größenwahns, das Resultat von Hassspiralen, der Anfang ewiger Verlorenheit. Unheimliche Schatten liegen über Menschen, die zu Opfern geworden sind, über den Gräbern, die nur von Tod wissen. Unheimliche Schatten liegen auch über den Menschen, die zu Opfern ihrer eigenen Ideologien werden, zu Mördern und Verfluchten.
Die Pharisäer sind kluge Leute. Sie fragen: Wann. Wann kommt das Reich Gottes? Sie wissen, dass das Reich Gottes von keinem Menschen gemacht wird. Egal, wie fromm, gut, weitsichtig, gebildet, wissenschaftlich, erfahren, draufgängerisch oder leistetreterisch Menschen sind. Das Reich Gottes kommt! Es kommt von Gott!
Ich frage auch. Wie ein Kind im Auto. Wie ein Experte, Schriftsteller oder Journalist im Angesicht von schrecklichen Ereignissen. Wie ein Mensch, der darum kämpft, dass die Erde nicht verbrennt, auch nicht in Fluten untergeht. Wird sonst die Warum-Frage gestellt, in den vielen Variationen, die wir kennen, stellen wir heute die Wann-Frage. Beide Fragen machen ratlos, beide Fragen halten aber auch die Hoffnung offen. Wer nicht mehr fragt, wer aufgibt zu fragen, wer keinen Sinn mehr darin sieht, überhaupt zu fragen, muss sich ergeben. Glücklicherweise gibt es viele Termine, die uns glücklich machen und verlässlich sind. Dass uns aber viele Termine über den Kopf wachsen, uns an unsere Grenzen führen, gar an die Grundfesten unseres Lebens – das verleiht der Frage „wann“ den Charakter einer Bitte: Komm! Da sind die Kinderfragen im Auto eine schöne Erinnerung an die eigene Kindheit. Wann, Papa, ist Weihnachten?
Blickwechsel
Dass die Pharisäer fragen „wann“, ist ein Glücksfall! Sie stellen unsere Frage. Schon lange vor uns. Sie stellen die Frage stellvertretend auch für die, die nach uns leben. Jesus sagt ihnen: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Keine äußeren Zeichen, die verlässlich interpretiert werden könnten? Überrascht bin ich zwar nicht, aber die Zeichen der Zeit lesen – und öffnen! – können, das würde ich gerne. Natürlich am besten eindeutig, allen Zweifeln enthoben. Ich wäre wie ein Zauberer, ein Zampano, ein Geheimniskrämer.
Schauen wir genauer hin, was grundsätzlich immer von Nutzen ist, hat Jesus aber tatsächlich ein Zeichen gegeben. Nicht mit „guck da hin“, auch nicht, „dreh dich um“ – das Reich Gottes ist mitten unter euch. Die Überraschung ist perfekt. Wie das? Wo? Die Frage „wann“ ist unter der Hand, einfach so, verwandelt: Frag nicht „wann“, sieh: unter euch. Es muss also etwas geschehen sein, womit ich nicht gerechnet habe. Nein, nicht nur die Pharisäer sind jetzt perplex.
In einer älteren Lutherübersetzung heißt es: Das Reich Gottes ist in euch. In euch! Das ist nicht schlecht übersetzt, aber einseitig auf ein Innenleben bezogen, auf eine Seele, auf ein Empfinden. Es ist sicher schön, das Reich Gottes in sich zu spüren, Glücksgefühle zu haben, mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Aber Gottes Reich überwindet individuelle Träume – Gottes Reich hat die ganze Schöpfung im Blick. Da ist die Übersetzung „mitten unter euch“ schon genauer, größer und auch großartiger. Ist Gottes Reich klein? Auf ein Leben beschränkt? Nein – Gottes Reich verbindet alle Menschen, verbindet die vielen Geschichten, verbindet die Welt. Wobei das Wort „verbindet“ hier selbst mehrdeutig bleiben will: Verbindet heißt zusammenführen, verbindet heißt aber auch heilen. Gott bringt Menschen zusammen, Gott bringt die Geschichten zusammen, Gott bringt die Welt zusammen – Gott heilt Menschen, Gott heilt Geschichten, Gott heilt die Welt.
Dass im Namen Gottes Trennungen vollzogen und Verletzungen zugeführt werden, gehört zu den dunkelsten Seiten menschlicher Geschichte. Gott wird missbraucht. Er wird zum Teufel gemacht. Gottes Reich, unter uns, mitten unter uns, ist aber wie ein Licht in der Dunkelheit – eine Liebe, die sich ausbreitet. Jesus redet von sich. ER ist mitten unter uns. ER redet mitten unter uns. ER leidet mitten unter uns.
Wenn wir fragen, wo das Reich Gottes gerade ist, verweist er auf sich. In seinem Wort geht das Reich Gottes auf. Wie ein Licht. Wie eine Blume. Wie ein Himmel.. In seinen Heilungen geht das Reich Gottes auf. Wie eine neue Hoffnung, wie ein neuer Anfang, wie ein neues Glück. In seinem Sterben geht das Reich Gottes auf. Wie Gott alles geschaffen hat, wie er allen Dingen einen Namen geben ließ, wie er alles mit Ruhe, mit Frieden krönte. In seiner Auferstehung geht das Reich Gottes auf. Wenn Menschen einander vergeben, sich aus alten Geschichten entlassen, über ihren Abgründen Brücken bauen. Dann hören wir: Kommt!
Mitten unter uns
Etwas bedauere ich: die Pharisäer verschwinden aus der Geschichte. Ich hätte gerne gewusst, wie sie auf das reagierten, was Jeus sagte. Was Jesus von sich sagte! Im Evangelium kommen jetzt nur noch die Menschen ins Spiel, die Jesus seit Langem begleiten. Jesus sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.
Hier ist es wieder: Siehe, da! Siehe, dort! Die Sehnsucht, etwas zu sehen, etwas festzumachen, etwas abzuschließen, kennen wir. Diese Sehnsucht wächst sogar. Aber Jesus warnt seine Jünger und Jüngerinnen davor, in geschichtlichen Ereignissen, in himmlischen Erscheinungen und außerirdischen Konstellationen Gottes Kommen zu erblicken, womöglich in ihnen Gottes Willen entschlüsseln zu können. Es gibt keine Zeichen, keine Hinweise, keine Markierungen für Gottes Gegenwart – außer die, dass er mitten uns redet, heilt und Zukunft schenkt.
Jesus spricht davon, dass sein Tag kommt. Unvorhergesehen. Unerwartet. Unberechnet. Wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum anderen, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein. Dieser Tag liegt nicht in unserer Hand. Dieser Tag ist nicht machbar. Aber während uns das Bild eines Blitzes durch Kopf und Herz geht, spricht Jesus von seinem Leiden. Es ist, als ob auch die größten Bilder Gottes Weg nicht ausleuchten können.
Mitten unter uns wird ein Kreuz aufgerichtet.
Mitten unter uns leidet Jesus.
Mitten unter uns stirbt Jesus.
Mitten unter uns geht Gott unter.
Mitten unter uns geht uns sein Reich auf.
Mitten unter uns sind Menschen auf der Flucht.
Mitten unter uns werden Menschen umgebracht.
Mitten unter uns wächst der Hass.
Mitten unter uns finden Menschen zueinander.
Mitten unter uns geht uns Gottes Reich auf.
Wir feiern das auch heute in unserem Gottesdienst. Wir hören Gottes Wort. Wir können das jeden Tag tun. Neugierig, aber auch liebevoll. Wenn in unserer Mitte ein Kind oder auch ein Erwachsener getauft wird, können wir Gottes Liebe bezeugen. Wenn wir Abendmahl feiern, wird unter den kleinen Zeichen von Brot und Wein Gott gegenwärtig. Wir können ihn teilen. In unserer Mitte.
Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
auf dass sie nicht in Torheit geraten.
Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch der Herr Gutes tue
und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
und seinen Schritten folge. (Ps 85,9–14)
Nein, nicht nur die Pharisäer fragen: Wann? Jesus sagt: “Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.” | Mt 5,9 Das ist heute unser Wochenspruch. Aus Jesu Seligpreisungen. Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.