Wachsam sein…
Leben im angemietetes Welthaus
Predigttext: Markus 13, 28-37 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
28 An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis:
Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.
29 Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist.
30 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht.
31 Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.
32 Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.
33 Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.
34 Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen:
35 So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt,
ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen,
36 damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt.
37 Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!
Exegetische und homiletische Einführung
An diesem Sonntag habe ich zu wählen zwischen dem Predigttext zum Toten- und dem zum Ewigkeitssonntag. Im Rahmen meiner Vorüberlegungen fand ich die Aussage, dass in unserer jetzigen Lebens- und Weltsituation apokalyptische Texte wieder eine neue Aktualität und damit Zugänglichkeit gewinnen. Die Klimakonferenz in Ägypten bewegt seit Wochen die Nachrichten. Dennoch sitzen im Gottesdienst Menschen, die an diesem Sonntag den Namen ihrer verstorbenen Angehörigen noch einmal hören. Bei manchen sitzen „apokalyptische“ Erfahrungen noch in den Knochen.
Die Konfrontation mit der Grenze lässt mein Auge auf die Mahnung zur Wachsamkeit fallen. Was bedeutet Jesu ruf zur Wachsamkeit für mein persönliches Leben? Wie können die beiden verschiedenen, aber je in sich starken Bilder vom Feigenbaum und vom Türhüter ihre Aussagekraft entfalten? Und warum weiß an dieser Stelle wirklich nur Gott, wann das Ende kommt?
Auf dem Rückweg von meinem Schulunterricht radele ich an einem Bauzaun vorbei. Mehrere Graffitis sind darauf zu sehen, aber auch, ziemlich weit rechts in der Ecke, der Satz: „Before I die“ – bevor ich sterbe. Was darunter steht, kann ich nicht erkennen. Ich radele vorbei.
Aber der Satz geht an mir nicht spurlos vorüber. Natürlich kenne ich den Gedanken. Er findet sich in Unterrichtsbüchern für den Schul- und Konfirmandenunterricht: Wenn ich nur noch ein Jahr zu leben hätte … und die Jugendlichen sollen ergänzen: Was würde ich dann tun? So ähnlich wie dieser Satz auf dem Bauzaun: Before I die. So ähnlich, aber doch nicht genauso. Wenn ich nur noch ein Jahr zu leben hätte – das klingt irgendwie spekulativ. Weit weg. Hätte und würde… Es ist ja nicht so. Ich habe ja noch mehr Zeit zu leben. Denke ich jedenfalls.
Der Satz „Before I die“ dagegen, der kommt näher. Der rückt mir stärker auf die Haut. Er wirkt so alltäglich. So als ob eine sagt: Bevor ich in Urlaub fahre, erledige ich noch schnell dies oder das. Die Grenze rückt näher. Und der Satz hat mehr Kraft. Nicht: Wenn ich noch ein Jahr zu leben hätte, würde ich …, sondern: Bevor ich sterbe, möchte ich … Da ist mein Wille gefragt. Was nehme ich mir noch vor? Was will ich noch für mich organisieren? Für das Gelingen oder Scheitern welcher Vorhaben übernehme ich die Verantwortung?
Before I die
Before I die – bevor ich sterbe. Die Künstlerin Candy Chang startete mit diesem Satz vor einigen Jahren (2011) ein Aufsehen erregendes Kunstprojekt. Aufgewühlt durch den Tod eines ihr nahestehenden Menschen begann sie für sich selbst nachzudenken, was sie vor ihrem Tod noch gerne tun würde. Sie schrieb den Satz ohne großes Nachdenken mit Kreide auf die Außenwand eines leerstehenden Industriegebäudes in ihrer Heimatstadt New Orleans. Sie schrieb auch eigene Gedanken dazu. Und über Nacht füllte sich die Wand. Füllte sich mit weiteren Gedanken von weiteren Menschen. Der Satz schien in Vielen etwas auszulösen. Candy Chang machte ein offizielles Kunstprojekt daraus. Für sie nicht das einzige dieser Art, aber vielleicht das persönlichste. Inzwischen wurden schon Tausende von Wänden in über 75 Ländern mit diesem Satz beschrieben und werden es noch. Before I die: Der Satz konfrontiert mit dem eigenen Ende, aber er lähmt nicht. Er aktiviert. Er will ergänzt werden.
Biblisch gesehen kann man an die „Schrift an der Wand“ denken, das Menetekel in der Geschichte von Daniel und Belsazar. Diese Wand, auf der ich den Satzanfang ergänzt habe: Before I die – sie wirkt wie ein Spiegel der eigenen Seele. Stimmt das, was ich da drauf geschrieben habe? Nehme ich es mir selber ab? Bin ich bereit, das auch umzusetzen, was ich gern tun würde – bevor ich sterbe?
Wann, wielange noch?
Um das „bevor“ geht es auch Jesus. Interessanterweise nur Jesus, nicht seinen Freunden. Seine Freunde fragen ihn: Wann kommt das Ende der Zeit? Wann hält Gott Gericht über uns alle? Wann wird das Verborgene aufgedeckt? Jesus antwortet: Ich weiß es nicht. Er enttäuscht seine Jünger. Warum, werden sie zurück gefragt haben, du bist doch Jesus, du musst das doch wissen. Jesus sagt: Das weiß Gott allein. Zu uns würde Jesus auch sagen: Ich weiß es nicht. Fragt mich nicht, wie lange ihr noch zu leben habt. Schwerkranke fragen manchmal die Ärztin, den Arzt: Wie lange geben Sie mir noch? Als ob Ärzte etwas zu geben hätten.
Jesus wählt einen interessanten und nicht ganz einfachen Weg. Er sagt: Das Ende kommt ganz plötzlich. Ohne Vorwarnung. Keiner weiß wann. Glaubt denen nicht, die euch sagen: Es kommt bald. Lasst euch nicht einschüchtern. Denkt aber auch nicht, ihr könnt das Thema auf die lange Bank schieben. Tut nicht so, als ob euch das Thema nichts angeht. Auch wenn ihr den Zeitpunkt nicht kennt, sagt Jesus: Der Gedanke, dass es irgendwann zu Ende ist, soll jetzt schon euer Leben bestimmen. Ohne Angst. Aber etwas ausmachen soll es euch schon. Oder: Etwas aus euch machen.
Die Blätter am Feigenbaum
Das Wort, das Jesus wählt, dass er hinein setzt zwischen Angst und Gedankenlosigkeit, heißt: Wachet. Seid wachsam, sagt Jesus. Er gebraucht zwei starke Bilder dafür. Er sagt: Wenn es einmal kommt, das Ende, dann werdet ihr es merken. So wie ihr an den austreibenden Zweigen des Feigenbaums merkt, dass der Sommer naht. Und er sagt: Seid wie der Türhüter des Hauses, das der Herr für eine Zeitlang verlassen hat. Seid wachsam und schaut nach ihm aus. Damit ihr vorbereitet seid, wenn er kommt.
Manche von Ihnen haben es erfahren: Es gibt Menschen, die die Zeichen in ihrem Leben erkennen. Irgendwann hören sie auf zu essen und zu trinken. Der Körper sagt der Seele, dass er das jetzt nicht mehr braucht. Vielleicht sagt er auch: Pass auf, jetzt ist Anderes wichtig. Vielleicht die Bilder, die in dir hochsteigen, denen du Raum gewähren sollst. Vielleicht auch die Gesten und Worte, die du noch gern weitergeben möchtest an die, die dir lieb sind. Vielleicht auch einfach das innere Abschied nehmen von deinem Leben. Lass dir Zeit dazu. Ich, dein Körper, störe dich nicht mehr.
Jesus gebraucht ja ein sehr schönes Bild. Das Bild von einem Feigenbaum, an dessen Zweigen sich winzig klein erste Blätter zeigen. Er setzt dieses schöne Bild gegen den Schrecken, den der Gedanke an das Ende in den allermeisten auslöst – sei es an das Ende der Welt oder an das Ende des eigenen Lebens. Manche Angehörige erzählen: Er oder sie ist genau dann gestorben, als ich gerade nicht im Zimmer war. Vielleicht möchte sich da ein Mensch auf diese ersten kleinen grünen Blätter konzentrieren können, die seine Seele dann sieht. Andere warten, bis ihre Angehörigen versammelt sind, und können dann gehen. Sie brauchen diesen Abschied, bevor sie selbst Abschied nehmen können.
Das starke Bild der austreibenden Zweige, das Jesus gebraucht, macht mir Mut zu hoffen. Mut zu hoffen, dass wir dann nicht Angst haben müssen vor dem letzten Schritt. Mut auch zu hoffen, dass die Kraft, die in diesen winzig kleinen grünen Blättern liegt, sich behauptet durch schmerzstillende Medikamente, durch Sauerstoffmasken und Infusionsschläuche hindurch. Ich will nicht romantisch sein. Ich will das Sterben nicht beschönigen – das Sterben, so wie es heute ist. Aber ich will der Kraft der Worte und Bilder trauen. Himmel und Erde werden vergehen, sagt Jesus. Aber meine Worte werden nicht vergehen.
Das Haus meines Lebens
Da ist noch das zweite Bild, das Jesus gebraucht, das von dem Türhüter an der Tür zum Hause seines Herrn. Der Herr ist gerade weggegangen, und man weiß nicht, wann er wiederkommt. Ich versuche, dieses Bild für mein eigenes Leben, für meinen eigenen Körper zu deuten – für unsere Körper und für unser Leben. Wir haben das Haus der Welt nur geliehen, von Gott quasi angemietet. Nach uns sollen auch noch andere Mieter darin wohnen können, unsere Kinder zum Beispiel und die Kinder in Nigeria genauso. Dass wir das angemietete Haus bis zur Auflösung unseres Mietvertrags nicht gänzlich herunter gewirtschaftet haben sollten: das ist ein Gedanke, der sich angesichts der klimatischen Schrecken, die auf uns und noch mehr auf unsere Kinder und Enkel warten, wirklich mit Schrecken aufdrängt.
Wachsamkeit ist mehr als geboten. Genauso können wir nun auch das Bild auf unser persönliches Leben beziehen. Was wäre, wenn Gott auch hier der Besitzer ist und wir uns sein Besitztum anmieten? Was wäre, wenn auch unser Körper und damit alles was uns fühl- und sichtbar ist, eigentlich Gott gehört – von ihm geschaffen und uns als Wohnung zur Verfügung gestellt? Müsste es uns dann nicht unendlich kostbar sein?
Wachsam sollen wir sein, sagt Jesus. Ich möchte es mit „aufmerksam“ übersetzen. Wann kommt er Hausherr? Irgendwann, sagt Jesus. Keiner weiß es. Aber in Jesus begegnet mir der Hausherr auch schon jetzt in meinem Leben. Was will er mir sagen? Was soll ich tun, worauf meine Kräfte konzentrieren? Kann ich überhaupt etwas ändern? Von innen ändern kann ich immer etwas, denke ich.
Der Türhüter in Jesu Bild schaut darauf, dass die Arbeiter nicht eingeschlafen sind, wenn der Hausherr kommt. Nein, das heißt nicht: Arbeit ohne Pause. Aber es heißt: Das Richtige tun. Tun meine Seelen-Arbeiter das Richtige? Auf jeden Fall macht mich das Bild darauf aufmerksam, dass es in mir arbeiten darf – und auch soll. Zu dieser Seelen-Arbeit gehört auch der Umgang mit Verlusten, der Umgang mit Abschied und Traurigkeit. Im Haus meiner Seele genauso wie im Haus meines Körpers hängen Bilder von Menschen, die mir nahe gekommen und nahe gegangen sind. Ich darf ihnen Aufmerksamkeit schenken. Ich darf um sie trauern. Ich darf mir sie zum Vorbild nehmen. Und ich darf aus ihrem Leben lernen.
Before I die, bevor ich sterbe: Was will ich tun? Ja, es können große Pläne und Unternehmungen dabei sein – wenn ich das Gefühl habe, dass es zu mir gehört. Es kann genauso die tägliche Sichtung der eigenen Seelenwände sein. Was hängt da dran? Was soll für mich dran sein? Wovon nehme ich Abschied, schon jetzt? Was will ich noch lernen, noch können? Ich will bereit sein, wenn der Hausherr kommt. Wenn er mich mitnimmt und zu denen trägt, die mir vorausgegangen sind.
Mit der bewegenden Frage nach unserer restlichen Lebenszeit für jeden von uns beginnt die Predigt, ein Text auch für eine Gebäudewand. Jesus sagt mehrfach, das Weltende kennt Gott allein. Es kommt plötzlich. Wie das Treiben des Feigenbaums im Frühling. Habt keine Angst. Aber seid wachsam. Das zweite Bild vom Türhüter, dessen Herr gegangen ist, verbreitet heute eher Schrecken wegen der Klimakatasstrophe. Wir sollen wachsam und getrost bleiben. Zum Schluss wieder die Eingangsfrage und der Trostsatz: Wenn Gott als der ewige Hausherr kommt, trägt er auch Dich in sein Reich.- Eine originelle und hoffnungsvolle Predigt.