Ende und Anfang
Mit Gottvertrauen ins neue Jahr
Predigttext: Römer 8, 31-39 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
(31) Was wollen wir nun hierzu sagen?
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
(32) Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
(33) Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht.
(34) Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja mehr noch, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und für uns eintritt.
(35) Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
(36) Wie geschrieben steht: »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.«
(37) Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.
(38) Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
(39) weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Exegetisch-systematische Anmerkungen
In Römer 8,31 signalisiert die Frage Τί οὖν ἐροῦμεν πρὸς ταῦτα? (Was nun sollen wir dazu sagen?) eine klar erkennbare Zäsur. Paulus fasst die Gedankengänge über die Gotteskindschaft der Gläubigen ab Kap. 5,1 zusammen und resümiert: Gott selbst hat im Kreuzesgeschehen die Menschheit ins Recht gesetzt, weil der Mensch von sich aus dazu nicht fähig ist. Deshalb kann nichts den Gläubigen trennen von der Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus offenbart.
Dabei akzentuiert Paulus das Christusgeschehen auf originelle Weise. Es geht ihm nicht so sehr darum, das Christusgeschehen nach seinen Auswirkungen zu deuten. Er führt den Begriff des Geistes als Leitbegriff ein. Das neue Leben des Christen ist nicht nur eine Folge des Jesusgeschehens, sondern vor allem eine Wirkung des göttlichen Geistes. Dabei ist der Geist nicht nur erkennbar an einer Reihe übernatürlicher Erfahrungen. Paulus beschreibt die Chiffre Heiliger Geist als den Raum der Nähe und Gegenwart Gottes. Diese Macht schafft Leben, schenkt Freiheit und gibt Gewissheit, ist also Glaubenszustand. Dies befähigt zu einer Glaubenshaltung, in der Vertrauen und Liebe unangefochten aufblühen können.
Lieder:
„Die Nacht ist vorgedrungen“ (EG 16, 1+3+4, bes. Str. 4)
„Von guten Mächten“ (EG 65, 1+6+7 oder EGW 541, 1+6, Str. 7 ist hier der Refrain)
„Der Tag ist seiner Höhe nah“ (EG 457, bes. Str. 11)
Psalm: 121
Evangelium: Matthäus 13, 24-30
Spruch: Meine Zeit steht in deinen Händen (Psalm 31,6a)
Jahreslosung 2023:
Du bist ein Gott, der mich sieht. Jes. 16,13
Literatur:
Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer, Teilbd. 2. Röm 6-11; EKK Bd. 6; Neukirchener Verlag 1980, S. 172-180.
Gerhard Iber, Hermann Timm (Hg.), Das Buch der Bücher – Neues Testament; Neuauflage 1984. Serie Piper, München 51987, S. 314 f.
Predigtmeditationen in christlich-jüdischem Kontext, Studium in Israel e.V., S. 46-53, hier bes. der Hinweis auf das Shema jisrael (S. 48), auch der Gedanke, dass Gottes Geist einen unanfechtbaren Raum der Freiheit ermöglicht (S. 49).
Wikipedia zum Schma Jisrael: Schma Jisrael – Wikipedia.
RGG3 Bd. V, Sp. 1454; Artikel „Schma“.
Novum Testamentum Graece, ΠΡΟΣ ΡΩΜΑΙΟΥΣ 8, 31-39, 28. Revidierte Auflage, Stuttgart2012, S. 497f.
„Was wollen wir nun hierzu sagen?“ – Vor einem Jahr hofften wir, dass der Spuk mit der Pandemie sich endlich beruhigen werde. Und das ist ja auch so. Aber neue Bedrohungen überschatten unser Leben und bedrohen den Frieden in der Welt. Wir wissen es und schauen darauf. Und mit dem Apostel Paulus frage ich: Was wollen wir nun hierzu sagen? Und mit Paulus möchte ich antworten.
Da sitzt Paulus und schreibt an eine Gemeinde, die er nicht kennt. Sein Ziel ist Rom, aber er sitzt in römischer Haft. Und so hat er Zeit, seine Theologie und seine Überzeugungen aufzuschreiben. Die Worte, die wir heute Abend hören, fassen die ersten großen Gedanken zusammen und münden in ein Bekenntnis. Wir können sehen, wie sich Paulus gegen seine Kritiker und Ankläger verteidigen muss. Um Glaube muss man immer ringen. Manchmal gegen den eigenen Zweifel, manchmal gegen eine Welt, die einen (ver)zweifeln lässt.
I.
Das erste, was Paulus uns sehen lässt, ist sein ungebrochenes Gottvertrauen – und das trotz seiner bedrängten Lage: „Ist Gott für uns, wer kann dann noch gegen uns sein?“, fragt er. Den Einwand, er sitze doch gerade in Haft und lebe gerade nicht auf der Sonnenseite des Lebens, den lässt Paulus nicht gelten. Gott verstehe doch auch diese Not, er habe sie doch in seinem Sohn selbst erlebt und durchlitten. Gerade in der Not werde der Gott Jesu so wichtig. Denn er ist der einzige, der nicht über den Dingen thront, sondern das Schicksal der Menschen teilt, ganz und gar teilt. Immer.
Gott ist da. Davon lebt Paulus. Dieses Credo ist unverzichtbar. An ihm hängt alles. Und so schreibt Paulus an die Gemeinde in Rom, was ihn trägt und ermutigt: Du wirst angegriffen oder kritisiert wegen deiner Fehler? Niemand kann und muss perfekt sein. „Gott ist hier, der gerecht macht.“
Du wirst verflucht, weil du angeblich den falschen Glauben lebst und verbreitest: Christus tritt vor Gott für uns ein. Denn es gibt größeres als Perfektion.
Paulus ist unglaublich klar und sicher. Er gründet sich auf starke Glaubenszeugen und auf eine lange Lebenserfahrung. Schauen wir da einen Moment lang genau hin:
Leid und Not, Neid und Missgunst hat Paulus reichlich erlebt. Das deutet er auch den Römern an, als er die Bedrohung in Worte fasst: „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Die Reihe der Erfahrungen ist lang. Es sind Erfahrungen, die unsere Kraft zu lieben verkümmern lassen:
Trauer gehört dazu, Trübsal. Wer seine Zuversicht ins Leben verliert, der verliert seine Energie, seine Gestaltungskraft. Wer vor allem das Fehlende, das Negative im Leben sieht, begeistert niemanden und verbreitet kein Leben, sondern Stillstand. Trübsal ist ein mächtiger Gegner des Lebens.
Angst gehört dazu. Sie ist das beliebteste Mittel mächtiger Populisten und Diktatoren. Denn die Angst fürchtet sich nicht vor dem, was kommt, sondern vor dem, was kommen könnte. Damit ist sie grenzenlos und beherrscht Menschen ganz und gar, wenn man ihr Raum gibt.
Verfolgung und Hunger und Blöße gehören dazu: Es hört sich fast so an, als hätte Paulus unsere Gegenwart gesehen. Wir schauen auf die Menschen in der Ukraine, in Somalia, in Syrien. Wir sehen die Panzer und die Soldaten, sehen die grauenvollen Bilder, die menschengemachte Drohnenbomben und Raketen verursachten. Fliehende Menschen gehören zu den täglichen Bildern unserer Welt.
Gefahr und Schwert gehören dazu:
Paulus kennt das Leben. Das ganze Leben. Und er setzt Christus gegen die dunkle Seite der Menschen. Mit Christus an der Seite halten wir die bitteren Zeiten aus, wissen Jesus ganz nah bei uns und blicken weiter auf Gott, der treu ist.
II.
„Was wollen wir nun hierzu sagen?“
Paulus ist sich seines Glaubens gewiss. Er lebt aus vielem, was ihm im Glauben beigebracht wurde. Geblieben ist ihm aber das, was sich im Leben bewährt hatte. Er prüfte, was ihn gelehrt worden war und er lebte es. Er verdrängte seine Fehler nicht. Er konnte sich radikal ändern, wenn es nötig war. Und er vergaß seine Wurzeln nicht. So bin ich ziemlich sicher, dass er auch im Gefängnis eines der wichtigsten Gebete aus der Tora sprach: „schma jisrael adonai elohenu adonai echad“ – „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig. Liebe also Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft“.
Jahrhunderte existierten diese Worte schon und sie werden fast 2000 Jahre später immer noch gebetet. Regelmäßig, am Abend, in der Nacht, am Morgen, erinnern sich alle Gläubigen an die Treue Gottes. Und so, wie man einer Freundin treu bleibt, auch wenn sie eine Zeitlang nicht zu hören ist, so ist Gott treu und präsent in Zeiten, in denen ich ihn nicht höre. Diese Grundhaltung ist die erste Kraftquelle der Paulus. Eine weitere Quelle des Gottvertrauens wird uns sogar von heute an ein Jahr lang begleiten:
Im 1. Buch Mose spricht die ägyptische Magd des Abram zu einem Engel, der ihr eine Verheißung Gottes ausrichtet: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Dieser schlichte Satz gehört zu den wichtigsten Worten, nach denen Menschen sich sehnen. Nichts ist beängstigender als übersehen zu werden:
Ein Säugling, gerade geboren und aus der Urgeborgenheit der Mutter in diese Welt geraten, braucht unbedingt die Nähe der Mutter, des Vaters, die Nähe liebender Menschen. Ein Kind, das gerade Laufen gelernt hat, muss seinen Triumph mit anderen teilen können.
Die Bewohner im Ahrtal ließen im letzten Jahr ihre Arbeit ruhen, um ihre Geschichte erzählen zu können. Rettungskräfte, Helferinnen, Seelsorger:innen hörten unendlich viele Geschichten von Leid und Verlust, von Bewahrung und Wundern. Es war und ist so wichtig, nicht übersehen zu werden oder gar vergessen zu sein.
All die Menschen, die in Zeiten der Pandemie über ihre Kräfte gearbeitet haben, brauchten Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Anders hält man das nicht durch.
III.
Paulus lebte davon, dass er unvergessen war. Menschen besuchten ihn, nahmen Briefe mit und brachten Antworten. Und in der Nacht betete Paulus vermutlich das Shma Jisrael, er erinnerte sich an die Offenbarung Christi auf dem Weg nach Damaskus und wusste, dass er nicht alleine unterwegs war. Niemals. Und so schrieb er einen der schönsten Sätze des Neuen Testaments:
„Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“.
Ich bin gewiss, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes. Das ist das Credo des Paulus. Er saß immer noch im Gefängnis. Der Krieg ist immer noch im Gange. Doch seit Christus gibt es keinen Zweifel mehr für Paulus. Und in seiner Theologie stehen wir. Sie hielt Generation um Generation, Jahrhundert um Jahrhundert die Hoffnung wach, dass der Glaube zur Liebe führt, zur Liebe Gottes. Und die ist unendlich.
„Was wollen wir nun hierzu sagen?“
In diesem Jahr zum Beispiel die Worte Jochen Kleppers aus dem Jahr 1938, der ganz in der Linie des Paulus schrieb:
„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und – schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her“.
Und in einem weiteren Lied aus demselben Jahr sehen wir, was diese Hoffnung bewirkt: „Die Hände, die zum Beten ruhn, die Macht er (sc. Gott) stark zur Tat“. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes. Gott sieht uns. Und macht uns stark zur Tat.
Paulus im Gefängnis. Menschen im Ukrainekrieg. Paulus voller Hoffnung. Frauen auf den Straßen im Iran. Paulus voller Gewissheit. Christen in unserem Land im Jahr 2023. Nichts kann uns trennen uns von der Liebe, die in Jesus Christus ist. Gott ist ein Gott, der uns sieht!
Lieber Hans,
danke für die Predigt für Altjahr!
Den Satz des Paulus – auch für mich einer der schönsten Sätze des Neuen Testaments – habe ich in den letzten Tagen immer wieder erwähnt, in Andachten oder auch in Ansprachen.
Möge das Schöne uns alle immer wieder neu erfreuen. Mögen wir die Rettung, die von Gottes Angesichte kam, neu erkennen. Er ist ein Gott, der uns sieht!
Aus der Freude, die wir dabei entdecken, mögen wir auch andere froh machen und trösten. Trotz aller Dunkelheit wird also das Leben hell und lebenswert.
In der Hoffnung eines baldigen Wiedersehens wünsche ich Dir und Deinen Lieben
ein gesegnetes Jahr 2023!