Unsicher
Durch alle Unsicherheiten und Traurigkeiten hindurch gehen wir auf die Freude zu
Predigttext: Johannes 16, 16-23a (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
16 Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.
17 Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater?
18 Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet.
19 Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen?
20 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden.
21 Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.
22 Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.
23 Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen. (Lutherbibel 2017)
Exegetische und homiletische Einführung
Bei diesem rätselhaften Text habe ich mich gefragt: Was ist eigentlich das Problem? Warum verstehen die Jünger diese doch vergleichsweise „einfachen“ Worte Jesu nicht? Warum reagieren sie gerade an dieser Stelle so heftig? Ich habe mir die Rolle der Jünger in den gesamten Abschiedsreden angeschaut. Und ich wollte versuchen, den Abstand zwischen den Jüngern und uns zu überbrücken, der mir sehr groß erschien.
Unsicher
Unsicherheit ist ein Gefühl, das wir nicht gern mögen. Dem wir lieber ausweichen. Das wir so schnell wie möglich zu beseitigen versuchen. Ich denke mir, die Freunde Jesu müssen sich extrem unsicher gefühlt haben. Das Vertrauen, das ihre Gemeinschaft so lange getragen hatte, war nicht mehr da.
Das Johannesevangelium ist so aufgebaut, dass Jesus zum Schluss, bevor er sterben muss, noch ganz viel mit den Seinen redet. Zum Glück kann er noch reden; viele Menschen, die bald sterben müssen, können das nicht mehr. Jesus redet und redet; man könnte den Eindruck haben: Er redet seine Freunde zu. Am Anfang ergreifen vereinzelt noch manche Jünger das Wort: Spricht zu ihm Thomas … spricht zu ihm Philippus … spricht zu ihm Judas, nicht der Iskariot. Aber dann verstummen auch sie.
Jesus redet und redet weiter. Von den Jüngern hört und sieht man nichts mehr. Irgendwann kommt der Beginn unseres Predigtabschnitts: Jesus sagt etwas, und endlich rücken seine Freunde wieder ins Blickfeld. Aber Jesus direkt anzusprechen, riskieren sie nicht mehr. Dazu ist er wohl schon zu weit entfernt. Sie fragen sich untereinander: Was meint er denn? “Eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen, und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Was heißt denn das?” Keiner weiß die Antwort. Wir wissen nicht, was er redet, sagen sie.
Unsicherheit schafft Distanz
Die Jünger fühlen sich alleingelassen mit ihrer Frage, mit ihrem Unverständnis. Alleingelassen auch von Jesus. Der Gesprächsfaden ist abgerissen. Es steht nicht so gut um eine Beziehung, wenn man nicht mehr miteinander redet. Wenn man sich nicht traut, ein Thema direkt anzusprechen oder auch nur eine Frage zu stellen. Wenn man nicht mehr miteinander, sondern übereinander redet. So weit ist es jetzt schon gekommen. Distanz ist da. Jesus muss selbst das Wort ergreifen, um von sich aus die Distanz zu überwinden. Etwas anderes ist nicht mehr möglich.
Solche Unsicherheit schwächt jede Beziehung. Manchmal geht sie von mir aus: Wenn ich etwas gemacht habe und denke, andere könnten nicht begeistert darüber sein. Ich weiß nicht, wie groß der Ärger ist, den mein Verhalten provoziert. Mein Kopf-Kino spult die heftigsten Reaktionen ab. Hinterher ist es dann vielleicht gar nicht so schlimm. Aber nur vielleicht. Es lohnt sich darüber nachzudenken: Welche Situationen machen mich unsicher? Und warum eigentlich? Hinter meinen Unsicherheiten steckt eine Geschichte, meine Geschichte.
Unsicherheit kann Missverständnis um Missverständnis produzieren. Manchmal liegt sie aber auch an meinem Gegenüber: Wenn er oder sie sich anders verhält als gewohnt. So viele Angehörige von Demenz-erkrankten Menschen haben es mir schon erzählt: Wie allmählich etwas anders wurde. Wie keiner es wahrhaben wollte, sich darum herum lavierte. Wie der oder die Betroffene Sicherheiten festhalten wollte und es doch nicht konnte.
Oder ich spüre bei einem Menschen, dass in seiner Ehe oder Partnerschaft etwas nicht in Ordnung ist. Der Mensch ist mir wichtig, ich würde ihm gerne helfen. Aber ich traue mich nicht, das Thema anzusprechen. Ich kann ja doch nicht helfen, denke ich. Obwohl das von mir gar nicht erwartet wird. Einfach mal reden zu können, würde die Situation schon erleichtern. Natürlich nur im Vertrauen, wenn ich sicher sein kann, dass es nicht weitergetragen wird. Auch das schafft Unsicherheiten: Was wissen die anderen schon? Was könnten sie wissen? Dann schweige ich lieber. Unsere Gesprächsbasis verkleinert sich wie eine schmelzende Eisscholle, auf der ich erfolglos einen sicheren Platz einzuzäunen versuche. Und der Abstand vergrößert sich noch.
Alleingelassen
Die Jünger von Jesus werden schon verstanden haben, dass es um Abschied ging. Davon hat Jesus bereits ausführlich gesprochen. Ich gehe zum Vater, hat er gesagt. Und hat sogar noch hinzu gefügt: Es ist gut für euch, dass ich gehe. Denn sonst würde der Tröster nicht zu euch kommen. Darauf reagieren die Jünger gar nicht. Mit dem Tröster können sie noch nichts anfangen. Völlig abstrakt. Und das andere, ich gehe zum Vater: Ehrlich gesagt, ich rätsele darüber, was diese Aussage in den Jüngern ausgelöst hat. Jesus redet ja keinen Klartext. Er sagt nicht: Ich sterbe. Auch scheint er nicht besonders traurig zu sein. Im Gegenteil: Er redet darüber, was für eine große Nähe ihn mit seinem Vater verbindet.
Ich glaube, das ist der eigentliche Punkt: Dass diese Nähe zum Vater für Jesus auf einmal so eine große Rolle spielt. Ich glaube die Jünger denken: Ach, dann sind wir Jesus wohl nicht mehr so wichtig? Wenn er jetzt zu seinem Vater geht, sein Werk erfüllt hat auf der Erde, dann hat er uns bald vergessen. Dieser Tröster, der dann zu uns kommen soll, ist ja nicht Jesus selbst. Ja, ich glaube, dass die Jünger in diesem Augenblick eine heftige Kränkung erfahren. Sie fühlen sich stehen gelassen. Wie das Mädchen, dessen beste Freundin umzieht, und die Freundin erzählt davon und freut sich auf das neue Haus, und das Mädchen denkt: Und ich? Tut es ihr denn gar nicht leid, dass wir uns jetzt nicht mehr sehen? Und ihre Freundin hat gar keinen Blick für ihre Gefühle, weil bei ihr eben schon etwas anderes dran ist. Ein neuer Lebensabschnitt hat begonnen. Für Jesus beginnt auch ein neuer Lebensabschnitt. Seine Zeit auf Erden ist erfüllt. Und die Jünger stehen im Regen.
Worauf hoffen?
Aber im Regen stehen sie dann ja doch nicht. Das verwirrt sie noch mehr. Jesus sagt: Eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen, und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. Eine kleine Weile – was soll denn das? Das ist genauso abstrakt. Die Jünger wissen ja schon, dass Jesus in anderen Kategorien denkt als sie selbst. Eine kleine Weile, ist das kurz oder lang? Und wie kurz und wie lang? Und was heißt: Ihr werdet mich sehen? Kommt Jesus wieder zu uns, oder gehen wir dorthin wo er ist? Sterben wir etwa auch? Die Jünger schwanken zwischen Hoffnung und Verlassenheit. Sie wissen nicht ob sie sich Hoffnung machen dürfen. Sie würden es gerne, aber sie misstrauen der Sache. Ihre Unsicherheit bleibt.
Können wir das nachvollziehen? Wir sind nicht in der Situation der Jünger. Wir hatten Jesus nicht so dicht bei uns. Wir können uns in ihren Abschiedsschmerz nicht hineinfühlen. Wir wissen auch nicht, was der Abschied von Jesus mit unseren eigenen Abschiedssituationen zu tun haben könnte. Und sehnen wir uns überhaupt danach, Jesus wiederzusehen? Wir können uns das doch überhaupt nicht vorstellen, wie das sein könnte!
Das Gefühl der Freude
Die Unsicherheit der Jünger wirkt sich also auf uns aus. So meilenweit, wie die Jünger Jesus von sich entfernt fühlen, so meilenweit fühlen wir uns von der ganzen Situation entfernt. Wir wissen nicht, was er redet, könnten wir genauso wie die Jünger sagen. Da wendet sich das Blatt. Auf einmal redet Jesus Worte, die auch wir verstehen: Ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Traurigkeit und Freude, das kennen wir. Oder wir könnten es kennen. Wann haben Sie sich zum letzten Mal so richtig traurig gefühlt? Nicht ärgerlich oder verzweifelt, sondern einfach traurig? Und wann haben Sie sich zum letzten Mal so richtig gefreut? Und was geschieht Ihnen öfters? Nicht wahr, solche starken reinen Gefühle erleben wir gar nicht so oft. Und doch wissen wir, was damit gemeint ist. Und wenn wir es nicht wissen, dann spüren wir es.
Jesus schiebt ein Beispiel hinterher, eines, das uns ganz spontan und unmittelbar spüren lässt, was er meint: Eine Frau, die in Wehen liegt, hat Schmerzen. Aber wenn das Kind da ist, dann sind alle Schmerzen vergessen. Sie ist voller Freude darüber, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Das können wir uns sofort vorstellen! Diese Freude können wir nachempfinden. Dass ein Mensch zur Welt gekommen ist – Jesus sagt nicht: dass ihr Kind endlich da ist, oder: dass sie Mutter geworden ist. Sondern ganz schlicht: Dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Dass Leben erwacht. Und dass Leben etwas ist, über das man sich unbändig freut. Jesus sagt: Dieser Zeitpunkt wird für euch kommen. Fragt nicht wie. Ihr werdet es nicht verstehen. Aber ihr werdet sie spüren: Die reine Freude des Herzens. Ihr werdet sie spüren nach der Traurigkeit.
An diesem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen, sagt Jesus. Weil es nichts mehr zu fragen gibt. Wenn ich Unglück erleide, frage ich: Warum. Wenn ich Freude erlebe, frage ich nicht: warum? Ich freue mich einfach. Vertraut mir, will Jesus uns sagen. Vertraut mir in allem, was euch traurig macht, und in allem, was Ihr nicht begreift. Konnten die Jünger ihm trauen? Können wir ihm trauen? Jesus sagt zur Begründung nur zwei Worte: Ich will. Ich will euch wiedersehen. Jesus lässt seine Freunde nicht allein, und er lässt auch uns nicht allein in unseren Traurigkeiten. Dass er zum Vater geht, ist keine Abkehr von uns. Jesus lässt keinen stehen. Seine Nähe zum Vater schließt uns nicht aus, sondern ein. Ihr werdet euch freuen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen. Wo und wie und auch wann, darüber brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Durch alle Traurigkeiten hindurch gehen wir auf die Freude zu. Eine gute Vorbereitung dafür wäre, das Gefühl der Freude jeden Tag in sich aufblühen zu lassen. Es gibt viel mehr Gelegenheiten, als man denkt.