“Am nächsten Tag”

"Komm und sieh!"

Predigttext: Johannes 1,35-51
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 09.07.2023
Kirchenjahr: 5. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigtttext: Johannes 1,35-51 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

35Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; 36und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! 37Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. 38Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wirst du bleiben? 39Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.
40Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus.
41Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte.
42Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.
43Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach!
44Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus.
45 Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth.
46Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh!
47Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist.
48Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen.
49Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!
50Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das.
51Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

 

 

 

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Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll!  So vieles ist in Bewegung. Alles ist in  Bewegung. Heute. Morgen. „Am nächsten Tag“ heißt es vielversprechend. „Am nächsten Tag“. Was ist denn am nächsten Tag?

I.

Ihre Gedanken haben sich jetzt auch schon auf den Weg gemacht. Wetten? Tatsächlich ist so viel Bewegung in der Welt (und auch in unserem Leben), dass wir kaum noch mitkommen. Neben der Schnelligkeit der Entwicklungen ist es die Unübersichtlichkeit, die uns zu schaffen macht. Die vielen Stichworte mag ich jetzt nicht einmal aufzählen – sie wiederholen sich ständig. Klima. Migration. Demokratie. Ihnen fallen noch andere Stichworte ein. Stich-Worte. Worte, die stechen. Doch in jedem Stichwort stecken Lebensgeschichten. Ängste auch. Und viele Hoffnungen. Wohin sollen wir denn gehen? Welche Richtung einschlagen? Welche Konsequenzen ziehen?

„Am nächsten Tag“ hört sich unheimlich an. Läuft nicht einfach alles weiter? Ich werde heute nicht fertig. Ich weiß. Was mir wie eine Entlastung vorkommt, könnte sich unversehens in ein Verhängnis verwandeln. „Am nächsten Tag“  könnte noch mehr untergehen, noch mehr Unheil in die Welt schwappen, noch mehr Sorge aus Tiefen steigen.

Sie haben natürlich gemerkt, dass Johannes, der uns heute mit seinem Evangelium begegnet, eine andere Geschichte – über Tage verteilt – erzählt. „Am nächsten Tag“ heißt für ihn, eine neue Erfahrung zu machen, auf ein Wunder zu stoßen, Gott zu begegnen. „Am nächsten Tag“ heißt auch, in eine Fortsetzungsgeschichte zu geraten, die heute noch an kein Ende kommen kann. „Am nächsten Tag“ – das ist eine Verheißung. Johannes hat nichts anderes im Sinn gehabt, als uns eine Geschichte zu erzählen, in der Jesus Menschen sucht – und findet, sich ihm anzuschließen.

Das Wort ist Fleisch geworden.
Es hat unter uns gezeltet.
Wir haben die Herrlichkeit gesehen,
die ihn umgeben hat.
Jesus.
Sohn des Vaters.
Voller Gnade und Wahrheit

Wir kennen die Worte „Nachfolge“  und Jüngerschaft“. In kirchlichen Kreisen überraschen sie nicht. Viele von uns sind mit ihnen großgeworden. Was aber alles darin steckt an verwegener Hoffnung! An Mut! Wir werden den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über Jesus! So schließt Johannes ab, was dann bei uns weitergeht.

II.

Um die Geschichte kurz nachzuerzählen: Jesus findet seine Jünger. Und sie finden ihn. Heute Andreas und Simon (der Petrus, Fels genannt wird), morgen Philippus und Nathanel. Nein, es sind nicht alle, von denen wir wissen – 12 müssen es sein. 12 werden es auch sein. Aber immerhin: eine kleine Auswahl. Heute – und am nächsten Tag. Exemplarisch? Johannes nimmt sich die Zeit, die Umstände auch zu erzählen. Wir hören Johannes den Täufer. Seht, Gottes Lamm! Seht – den! Zwei seiner Jünger und Gefolgsleute schließen sich jetzt Jesus an, hängen sich an ihn. Ihre Herkunft ist egal. Ihre Namen werden nachgereicht. Am nächsten Tag will Jesus nach Galiläa gehen. Immerhin übel beleumdete Gegend. Auf dem Weg dorthin ruft er Philippus in seine Nachfolge. Aber dann kommt ein Gespräch unter vier Augen! Philippus spricht mit Nathanael. Du, wir haben den gefunden, den wir schon so lange gesucht haben. Jesus. Von ihm hat schon Mose gewusst und die Propheten haben ihn angekündigt. Lange Geschichten voller Hoffnungen und Träume. In einem Satz! Das will schon etwas heißen: Wir haben ihn gefunden. Wir haben den einen gefunden! Ihm folgen wir jetzt!

Johannes erzählt das alles plastisch, gleichzeitig aber auch schon fast zu dicht. Andere Evangelisten, vor ihm, haben bei den Jüngern Jesu Namen an Namen gereiht. Da waren sie dann auch alle schön zusammen. Die Zwölf. Fischer, einfache Leute. Den Namen des Sees kennen wir auch: Genezareth!  Und ein Ort: Bethsaida wird auch von  Johannes namentlich erwähnt. Bethsaida liegt am See Genezareth. Die Heimat von Andreas, Simon und Philippus. Jesus hat die Zwölf in seine Nachfolge gerufen, stellvertretend für das ganze Volk Israel. Was einmal mit 12 Stämmen angefangen hat und dann zerfallen ist, wird von Jesus neu mit Leben gefüllt. Mit Menschen, die seinen Weg mitgehen.

Johannes hat auf seine Weise nachgefragt: Wie kommt das eigentlich, dass Menschen Jesus finden, dass Menschen sich von ihm rufen und begeistern lassen? Seine Antwort, die man vielleicht nicht auf Anhieb entdeckt: wenn Menschen erzählen, was sie bei Jesus gefunden haben, kommt ein Stein ins Rollen, dann beginnt eine Geschichte, in der keiner alleine zurückbleibt. Die Nachfolge Jesu wächst sozusagen in den vielen kleinen und großen Begegnungen, auf die sich Menschen einlassen. Du, wir haben IHN gefunden! Ein gewisses Staunen liegt in den Worten. Staunen stellt sich immer dann ein, wenn etwas Unverhofftes, Unerwartetes passiert. Auf einmal sind wir mit IHM, Jesus, zusammen. Was das für uns bedeutet, sehen wir nicht ab, aber der Weg mit ihm ist mehr als eine glückliche Fügung.

III.

Über einen Satz bin ich gestolpert. Der kommt gleich zweimal vor. „Komm und sieh!“. Beim ersten Mal ist es Jesus, der ihn sagt. Die beiden Jünger des Johannes, die sich jetzt Jesus anschließen, fragen, wo er denn zu Hause sei. Spannenderweise muss sich Jesus erst umschauen, um die beiden zu entdecken. Das ist die Urbedeutung von Nachfolge: Jesus hinterher gehen. In dem „Komm und sieh“ ist die Einladung versteckt, bei Jesus nach Hause zu kommen. Ein neues Zuhause zu finden. Das ist mehr als ein Haus mit 4 Wänden, Türen und Fenster und einem Dach über dem Kopf. Das ist vollendetes Glück! Nach Hause kommen!

Beim zweiten Mal sagt Philippus „Komm und sieh!“  Sein Gesprächspartner Nathanael fragt süffisant: Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Dass Jesus aus Nazareth kommt, gereicht ihm nicht zur Ehre. Nazareth ist nicht nur „nichts“, Nazareth ist ein gottloses Nest. Wer Heiliges, wer Großes, wer Himmlisches sucht, blickt nicht nach Nazareth. Philippus ist unbeirrt: „Komm und sieh!“ Vorurteile werden als Vorurteile entlarvt – und die, die sie pflegen, werden gefunden. Klar doch: Aus Nazareth kommt nur Gutes! Aus Nazareth kommt Jesus! Vorurteile haben lange Gesichter, aber was wir jetzt zu sehen bekommen, ist – vollendetes Glück. Ein nach Hause kommen!

Komm und sieh! Das ist die Einladung, den kennen und lieben zu lernen, der mit uns den Weg in das Leben geht! Der uns Heimat schenkt. Der uns den Himmel öffnet: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn

Die Aufforderung, zu kommen und zu sehen, mit den eigenen Beinen, mit den eigenen Augen, hat für mich etwas Umwerfendes. Ich möchte ja fest stehen, ich möchte meinen Erfahrungen trauen, ich möchte über den Dingen stehen. Viel Zeit und Kraft habe ich dafür schon investiert. Ich habe mir Masken zurecht gelegt. Ich weiß mich zu entschuldigen und Gründe zu benennen. Ich weiß das alles. Aber vielleicht ist es das, was heute und „am nächsten Tag“ zum Gefängnis wird –und zu einem Schatten, der über allen Dingen liegt.

„Am nächsten Tag“… hat Philippus zu Nathanel gesagt: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth.  „Am nächsten Tag“ beginnt etwas Neues. „Am nächsten Tag“ sind wir mit IHM unterwegs.

IV.

Ich wusste nicht, womit ich anfangen sollte. So vieles ist in Bewegung. Alles ist in  Bewegung. Heute. Morgen. „Am nächsten Tag“ heißt es vielversprechend. „Am nächsten Tag“. Was ist denn am nächsten Tag?
Wie der Tag morgen für mich aussieht, könnte ich dem Terminkalender entnehmen. Aber Vorsicht: Nicht alles steht geschrieben! Was zwischen den Zeilen geschrieben und gesagt wird, passt in keine Zeile.
Wie der Tag morgen für Sie aussieht, können Sie noch überlegen. Müssen Sie noch arbeiten? Sind Sie schon im Urlaub? Werden Sie einen unangenehmen Termin zu bestehen haben? Oder einen traumhaft schönen? Im Evangelium wird uns etwas zugesagt, was alles das tragen und ausrichten kann, was uns von Tag zu Tag bewegt, bedrückt oder befeuert.

„Und als Johannes (der Täufer)  Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm!“ Lamm Gottes – eine alte Redeweise zwar, aber ein Bild dafür, dass Gott selbst die Verlorenheit der Menschen auf sich nimmt – und Verlorenheit umfasst alles. Lamm Gottes – das ist ein anderes Wort für Liebe, die es mit Tod und Teufel aufnimmt.

Im Anfang war nur das Wort.
Es war bei Gott,
Gott selbst war das Wort.
Am Anfang
Und „am nächsten Tag“.
Alle Dinge sind durch das Wort gemacht,
ohne Wort ist nichts,
was einmal gemacht wurde,
und ohne Wort bleibt nichts.
Und „am nächsten Tag“.

In Jesus war das Leben,
ganz und ungeteilt.
Er wurde das Licht
für alle Menschen.
Und „am nächsten Tag“.

Von seiner Fülle,
von seiner Klarheit,
von seiner Schönheit,
haben wir alle genommen:
Gnade um Gnade
Für den nächsten Tag.

 

 

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Ein Kommentar zu ““Am nächsten Tag”

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Mit vielen Gedanken startet die Predigt von Pfarrer Wussow. Es gibt heute sehr viele unübersichtliche Entwicklugen beim Klima, bei der Völkerwanderung durch Migration, Krieg und Politik. Wohin sollen wir uns noch wenden, wohin gehen ?
    Der Evangelist Johannes erzählt, dass Gottes Wort Fleisch geworden ist, eine lebendige Person. Er beginnt, dass Jesus seine zwölf Jünger findet. Johannes erzählt anschaulich, wie in vielen kleinen Bgegnungen die Nachfolge-Gruppe durch die Jünger wächst. “Im komm und sieh” beginnt der Kontakt.
    Johannes der Täufer nennt Jesus das Lamm Gottes, das sich für Gott, den Schöpfer aufopfert. Und das Johannes-Evangelium nennt Jesus das Wort Gottes Joh 1,14 . Ein sehr anspruchsvoller Text für eine Sonntagspredigt.

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