Gottes Gebot der Liebe – Jesus und die Tora
Durch Jesus sind wir mit allen Juden verbunden
Predigttext: Markus 10,2-9 (nach der Einheitsübersetzung):
Es kamen Pharisäer zu ihm und fragten: Darf ein Mann seine Frau aus der Ehe entlassen? Damit wollten sie ihm eine Falle stellen. Er antwortete ihnen: Was hat euch Mose vorgeschrieben? Sie sagten: Mose hat erlaubt, eine Scheidungsurkunde auszustellen und (die Frau) aus der Ehe zu entlassen. Jesus entgegnete ihnen: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben. Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen. Zu Hause befragten ihn die Jünger noch einmal darüber. Er antwortete ihnen: Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet.
Lieder
EG 295 "Wohl denen, die da wandeln" (EG 295, Wochenlied)
176 "Öffne meine Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz" (176)
Als Christinnen und Christen sind wir tief und untrennbar mit allen Menschen jüdischen Glaubens verbunden. Jesus selbst war Jude. Alles was er tat und lehrte, verstehen wir nur, wenn wir es im jüdischen Zusammenhang sehen. Im Judentum seiner Zeit vertrat er eine Position, seine Position. Dabei gab es Streit mit anderen Richtungen. Doch damit wandte sich Jesus nicht gegen das Gesetz, die Tora, die das Fundament des jüdischen Glaubens bildet, sondern er streitet um ihre richtige Auslegung. Durch Jesus sind wir mit allen Juden verbunden, ob sie bei uns leben oder in Israel oder in anderen Ländern.
Angesichts des Terrorangriffs der Hamas auf Menschen in Israel möchte ich es heute wieder deutlich aussprechen: Als Christinnen und Christen verurteilen wir jede Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. Wir wenden uns gegen jeden Antisemitismus oder Antijudaismus und auch gegen den Hass auf Israel. Wir hoffen und beten, dass die Spirale der Gewalt wirksam durchbrochen werden kann. Wir bitten Gott darum, dass er Wege zu echtem und gerechten Frieden in der Region eröffnet. Das schließt die Rechte und den Schutz der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht aus, sondern ein. Diese Hoffnung halten wir fest, gegen die bedrückende Wirklichkeit von Terror und Krieg.
I
Jesus war Jude – aber wird nicht im Neuen Testament immer wieder berichtet, dass er mit Schriftgelehrten und Pharisäern im Streit lag? Ja, doch Jesus selbst war ein Schriftgelehrter und seine Bewegung hatte manche Ähnlichkeit mit der Bewegung der Pharisäer. Die Auseinandersetzung Jesu sind darum innerjüdische Diskussionen. Ein gutes Beispiel dafür ist, welche Haltung Jesus zur Ehescheidung einnimmt. Das Thema wurde ihm aufgedrängt von anderen, die ihn damit in die Klemme bringen wollten. Es gab unterschiedliche Auffassungen und man wollte hören, zu welchem Lager Jesus gehört.
(Lesung des Predigttextes Markus 10,2-9)
Die Pharisäer wollen Jesus eine Falle stellen. Warum ist die Frage, ob Scheidung erlaubt oder verboten ist, eine Falle? Es gab im Judentum seiner Zeit verschiedene Auffassungen darüber, wann ein Mann sich von seiner Frau trennen dürfe. In der Schule des Rabbi Schamai galt: Ein Mann darf sich von seiner Frau nur scheiden lassen, wenn diese Ehebruch begangen hat. Nach der Schule von Rabbi Hillel durfte ein Mann seine Frau schon verstoßen, wenn diese ihre Pflichten vernachlässigte. Und nach Rabbi Aqiba war die Scheidung sogar dann erlaubt, wenn dem Mann die Ehefrau nicht mehr jung und schön genug war.
Die Diskussion im Umfeld Jesu wurde ausschließlich aus der Sicht des Ehemannes geführt wurde. Der Schaden war für die geschiedene Ehefrau in jedem Fall um vieles größer war als für den Mann. Sie stand ohne Versorgung da, und es war für sie als geschiedene Ehefrau viel schwerer, eine neuen Partner zu finden. Der Scheidebrief, den das Gesetz vorschreibt und von dem in unserem Predigttext die Rede ist, versuchte die schweren Folgen etwas abzumildern, indem geregelt wurde, was der Frau zum Leben verbleibt und dass sie wieder neu heiraten durfte. Aber in der Praxis war die Situation verstoßener Ehefrauen sehr schlecht.
II
Jesus lässt die Möglichkeit der Scheidung stehen. Es gibt sie wegen »der Hartherzigkeit« unter uns Menschen. Aber Gottes Wille für uns ist ein anderer. Im Wesen des Menschen ist es mitgegeben, dass er mit einem Partner oder einer Partnerin gemeinsam erlebt und auslebt, was es heißt, Mensch zu sein. »Als Mann und als Frau hat Gott den Menschen erschaffen, und die zwei werden eins sein«. So ist es bei Gott und von ihm selbst angelegt. So ist es »im Himmel«. Und Liebende fühlen sich daher völlig zurecht »wie im siebten Himmel«.
Im Horizont der Zeit beschreiben die biblischen Texte die Liebe als Liebe zwischen Mann und Frau. Das wesentliche in der Schöpfungsgeschichte und bei Jesus ist, dass diese Liebe zum Wesen des Menschen gehört, von Anfang an. Als Ebenbildern Gottes erhalten wir diese Gabe geschenkt. Heute verstehen wir das als Verheißung zwischen Liebenden in allen Formen von Partnerschaft: Zwischen Mann und Frau aber auch zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern oder Partnerinnen.
Wo zwei sich lieben, sind sie also dem Himmel ein Stück näher. Aber wir leben doch hier auf der Erde. Genau wie Jesus es beschreibt scheitern Ehen an verhärteten Herzen. Liebende begegnen einander mit offenen Herzen, und sie bewegen sich aufeinander zu. Sie sind bereit, die Welt auch mit den Augen des anderen zu sehen. Ein verhärtetes Herz dagegen kann nicht mehr lieben. Dabei ist fast egal, warum das Herz verhärtet ist. Ob es die vielen Anforderungen im Alltag und im Beruf sind, die die Liebenden voneinander forttreiben. Oder der Streit, weil sie sich auseinander entwickelt haben. Oder ob sie schleichend immer weniger haben, was sie miteinander verbindet, so dass sie sich schließlich fremd werden.
Jesus versteht die Ehe nicht von ihrem Scheitern her, sondern von ihrem Ursprung und Ziel, vom Anfang her, von der Quelle aller Liebe her, von Gott. Dass er mit seinen Worten die Scheidung völlig ausschließt oder in jedem Fall verbieten würde, sehe ich in dem biblischen Wort nicht. Aber Scheidung ist in der christlichen Tradition mit Berufung auf seine Worte lange tabuisiert worden. Die katholische Kirche geht sogar so weit zu sagen, dass Menschen eine Ehe überhaupt nicht wirksam scheiden können, weil sie ja von Gott selbst im Himmel geschlossen wurde.
III
Es ist sicher im Sinne Jesu, wenn Menschen, die eine Scheidung durchmachen, begleitet und unterstützt werden, statt sie auszugrenzen. Sie durchleben eine sehr schwere Phase ihres Lebens mit Unsicherheit und Trauer. Die Augen vor der Wirklichkeit einer Scheidung zu verschließen, und die Betroffenen darin nicht zu unterstützen, wäre erst recht ein Zeichen von Hartherzigkeit. In diesem Sinn hat die evangelische Kirche seit den 70-er Jahren ihre Haltung zur Ehescheidung geeändert. Auch die katholische Kirche bewegt sich in kleinen Schritten: Seit 2017 hat die Deutsche Bischofskonferenz die Möglichkeit eröffnet, dass geschiedene Wiederverheiratete an der Eucharistiefeier – am Abendmahl, wie wir sagen – teilnehmen können. Bis dahin waren sie kirchenrechtlich davon ausgeschlossen. Für die betroffenen Katholikinnen und Katholiken ist das ein wichtiger Schritt.
Nicht nur zur Zeit Jesu gab es also Auseinandersetzungen darum, wie die Gebote der Bibel richtig auszulegen sind. Gerade zu Ehe und Ehescheidung gibt es sehr unterschiedliche Haltung in den verschiednen christlichen Gemeinschaften, und das Spektrum wir noch größer, wenn wir auf andere Religionen oder die Gesellschaft insgesamt schauen. Die Haltung Jesu ist sehr klar: Er traut der Kraft der Liebe sehr viel zu. Sie kann und sie soll Menschen ein Leben lang verbinden, das kann und das soll sie gemeinsam über Krisen hinweg tragen. Damit stärkt Jesus die Position des schwächeren Partners oder der schwächeren Partnerin. Wo eine Ehe dennoch geschieden wird, ist es im Sinne seiner Lehre wichtig, dass niemand in wirtschaftliche Not gerät. Auch bei uns sind Alleinerziehende in sehr vielen Fällen von Armut bedroht, das darf nach biblischem Gebot nicht so bleiben – so verstehe ich die Haltung Jesu.
Die biblischen Gebote, die Tora Gottes, gehören zu den Wurzeln für die Werte und Regeln, nach denen wir heute zusammenleben. Wir teilen diese Gebote mit allen Menschen, die zum Judentum gehören. Wir folgen in der Auslegung dem Beispiel Jesu. Am Beispiel der Ehe ist deutlich geworden, wie Jesus die Tora auslegt: Gottes Gebote eröffnen einen Raum für die Liebe und bieten den Schwächeren einen sicheren Schutz.
Der Prediger geht zu Beginn auf die aktuelle Lage in Vorderen Orient ein und bezieht eindeutig Stellung: Wir Christen sind „tief und untrennbar mit allen Menschen jüdischen Glaubens verbunden“. Die folgende Predigt spürt dem Juden Jesus nach und der Frage, wie er zu seinen Gegnern gestanden hat. Wie schon Ben Chorin in seinem „Bruder Jesus“ geschrieben hat, sieht der Autor Jesus als Pharisäer, dem es um die richtige, also menschliche Auslegung der Tora ging. Am Beispiel der Ehescheidung wird deutlich, das Jesus „die Ehe nicht von ihrem Scheitern her (versteht), sondern von ihrem Ursprung und Ziel“. Darum stellt er die Scheidung nicht unter ein ausschließliches Verbot. Vielmehr vertraut er der Kraft der Liebe, die Menschen öffnet, sodass sie einander mit den Augen des Andern sehen können. Aber was geschieht, wenn ein Herz „verhärtet“ ist? Der Prediger sieht in den heutigen Kirchen – im Gegensatz zu früher – die Bereitschaft, den Geschiedenen zu helfen, sie zur Eucharistie zuzulassen und sie seelsorgerisch zu begleiten. Das ist die echte Art Jesu, mit „dem Gesetz“ umzugehen: „Gottes Gebote eröffnen einen Raum für die Liebe.“ Eine ermutigende und seelsorgerische Predigt!