Schwerlasttransport
Blühen und Früchte tragen...
Predigttext:1. Johannes 2,12-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. Ich schreibe euch Vätern; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt den Bösen überwunden. Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr habt den Vater erkannt. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden.
In einer mittelalterlichen Sammlung von Heiligengeschichten findet sich die folgende Erzählung.
I
Der Fährmann Reprobus wartet in einer Hütte am breiten Fluß auf Reisende. Gegen ein kleines Entgelt trägt er sie durchs Wasser. Eines Nachts weckt ihn ein Junge aus dem Schlaf und bittet, ans andere Ufer gebracht zu werden. Reprobus wundert sich und nimmt seinen Stock. Er setzt sich den Jungen auf die Schulter und watet ins Wasser. Je tiefer das Wasser wird, desto stärker strömt es. Das schmale Kind drückt schwerer und schwerer auf Reprobus‘ Schulter. Er droht das Gleichgewicht zu verlieren. Strömung und Gewicht machen ihm zu schaffen. Er fürchtet, daß sie beide ertrinken. Nur unter großer Anstrengung gelangen die beiden ins flachere Wasser und dann ans Ufer. Reprobus spricht den Knaben an und beklagt sich, daß er es so eilig hatte. Er habe damit sich selbst und den Fährmann in Gefahr gebracht.
Der Junge antwortet: Reprobus, das ist gar nicht verwunderlich. Denn du hast nicht nur die Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat. Denn ich bin Christus, dein König. Du sollst erkennen, daß ich die Wahrheit sage. Nimm deinen Stab und stecke ihn am anderen Ufer neben deiner Hütte in die Erde. Am nächsten Tag wird er blühen und Früchte tragen. Beide verabschieden sich und Reprobus führt aus, was ihm der Knabe gesagt hatte. Am nächsten Morgen steht neben seiner Hütte eine Palme. Später wird sich Reprobus taufen lassen und den Namen annehmen, unter dem ihn die meisten kennen: Christopherus. Der Name spricht; er bedeutet im Griechischen: Der, der Christus trägt.
Durch diese Legende stieg der Fährmann zum verehrten Heiligen der Reisenden, Fahrenden und Touristen auf. Wer zu Zeiten, als das Reisen noch gefährlicher war, eine längere Wegstrecke antrat, bat vorher um den Schutz des heiligen Christopherus. Seine Legende wirkt weit über den Bereich katholischer Heiligenfrömmigkeit hinaus. Mein Vater, der evangelisch war, pflegte zu Glauben und Gott ein eher agnostisches Verhältnis. Dennoch befestigte er an den Armaturenbrettern seiner NSU-Kleinwagen stets einen silberfarbenen Magneten, der Christopherus mit dem Jesus-Kind bei der Flußüberquerung zeigte. Seinen beiden Söhnen erzählte er während langer Autofahrten die auf dem Magneten abgebildete Legende. Die Söhne waren allerdings damals mehr von den Magnetkräften als von der Erzählung fasziniert.
Ein Philosoph aus Karlsruhe, der wie mein Vater keine großen Sympathien für Christentum und Kirche hegt, schrieb in seinen Notizheften einmal, auf Christopherus anspielend: „Besser Christus einmal über den Fluß tragen als den Vater durchs ganze Leben.“ Nun sind viele Menschen mit psychologischem Gepäck belastet, an dem sie schwer zu tragen haben: Erinnerungen an Demütigungen, an Schläge, seelische Belastungen, traumatisierende Erfahrungen. Es geht um die Logistik psychologischer Waren, um seelische Schwerlasttransporte.
Je älter ein Mensch wird, desto mehr Erinnerungen aus seiner Lebensgeschichte trägt er mit sich herum. Dieses biographische Päckchen nimmt an Gewicht zu und macht Waten, Gehen, Altwerden zunehmend schwerer. Erfahrungen mit Vater, Mutter, Geschwistern, Verwandten gehören von Anfang an zu diesem Päckchen dazu. Es kann sich zur schweren Qual auswachsen, doch manchmal befreien die familiären Erfahrungen auch und erleichtern die Last. Christopherus weiß nicht, wen er über den Fluß trägt. Auch das Jesuskind ist ein Träger. Es trägt die Sünde der Menschen auf seinem Rücken. Es nimmt ein Joch der Bitterkeit (Mt 11,29) auf sich.
II
Der Briefschreiber des 1. Johannesbriefes redet seine Adressaten als Kinder an. Das heißt, er versteht sich selbst als Vater. Schon das erscheint für moderne Mentalitäten der Gegenwart verdächtig. Die Gegenwart torpediert alle Vaterbilder. Kindermentalitäten sind dadurch charakterisiert, daß niemand sich an überkommene Traditionen, väterliche Weisungen und mütterliche Fürsorge binden will. Lieber will man dem folgen, was die eigene Individualität in Richtung Selbstverwirklichung voranbringt.
Darum stocken wir Predigthörende schon, wenn der Briefschreiber vollmundig die Anrede ‚Liebe Kinder‘ gebraucht. Man könnte Herablassung heraushören. Für den Briefschreiber allerdings war das gar nicht ungewöhnlich, denn die Anrede gehört zur Formelsprache der Weisheit. Leitfigur der Weisheit ist der liebevolle Vater, der seine Kinder zum selbständigen Leben erziehen will, der Coach, der seine Klienten aus Verstrickungen und Krisen führt. Das ist ein anderes Leitbild als der intellektuelle Professor, als der Besserwisser, als der autoritäre ‚Führer‘, letzterer sowieso eine politisch problematische Figur. In der Anrede des Briefes erklären sich so der Vater als Weisheitslehrer und die Kinder als Schüler und die Heranwachsenden. Uns Heutigen fällt auch auf, daß die Frauen fehlen: Mütter und Großmütter, Schwestern und Cousinen, die kleinen und heranwachsenden Mädchen, die Teenies.
In der Antike dachte man sich nichts dabei, wenn die Frauen immer ‚sozusagen‘ mitgedacht waren. Das ist zur Kenntnis zu nehmen, aber es ist kein Grund in woker Rechthaberei gleich den ganzen Brief zu verachten oder zu vergessen.
Der entscheidende Punkt liegt darin: Der Briefschreiber, ein väterlich-mütterlicher Glaubenslehrer spürt große Unterschiede unter den Getauften in der Gemeinde. Manche Menschen fangen mit dem Glauben gerade erst an, andere befinden sich in der Ausbildung, am Ende kommen Meisterinnen und Lehrer des Glaubens. Es ist nicht so, daß alle den gleichen Glauben ausstrahlen. Dieser Glaube, das manchmal schwierige, manchmal heitere Verhältnis zwischen Vertrauen und Zweifel, ist bei allen Personen in der Gemeinde individuell ausgeprägt. Und der weisheitliche Briefschreiber faßt sie in Gruppen zusammen. Christliche Gemeinde bedeutet vor anderem: Besonderheiten und Unterschiede zwischen einzelnen Menschen anzunehmen und auszuhalten, besonders dann, wenn sich Gemeinden in endlosen Konflikten zu verlieren drohen.
Deswegen möchte ich mit Ihnen noch etwas genauer über die Natur des Glaubens nachdenken. Vorhin fiel das Stichwort der Selbstverwirklichung. Beim Glauben steht das genaue Gegenteil im Vordergrund. Im Modus der Selbstverwirklichung suchen die Einzelnen in sich selbst nach sich selbst. Wahrheit liegt angeblich im eigenen Herzen; sie muß nur aufgedeckt und ausgearbeitet werden, um sich zu ‚verströmen‘, wie es in der einschlägigen Sprache heißt. Im Modus des Glaubens liegt die Wahrheit nicht in mir selbst, sondern sie kommt von Anderen auf mich zu. Ich entdecke nicht die Wahrheit in mir, sondern die Wahrheit trifft mich – von außen. Andere, die schon Glauben haben, sagen sie mir.
Glauben heißt also: Nicht ich selbst sorge für Rechtfertigung, Liebe und eine neue Welt. Wahrheit im Sinne von Selbstverwirklichung heißt: Ich muß mich anstrengen, um die Wahrheit aus meinem Inneren herauszumeißeln. Glaube aber heißt: Gott hat bereits gewonnen. Und für die glaubenden Menschen bedeutet das: Sie spüren, daß sie wie alle anderen in einer krisenhaften, konfliktreichen Welt leben. Aber darüber werden sie gerade nicht zu verbissenen Kämpfern für die Sache des Guten. Denn dieser Sieg ist bereits erreicht. Glauben heißt im Gefühl des Sieges Gottes über das Böse leben. Dieser Sieg ist in Kreuz und Auferstehung bereits errungen. Das ist die zentrale Erkenntnis.
III
Wahrheit, gepaart mit Glauben und Vertrauen heißt: Ich kann erleichtert sein, daß die endgültige Schlacht schon geschlagen ist. Ich kann diesem Gott, dem Vater Jesu Christi, dem Schöpfer und Erlöser vertrauen. Jeder weiß, daß Glaube gelegentlich auch durch lange Perioden des Zweifels geht. Im Glauben kann ich das annehmen und aushalten. Und – eine Erinnerung an die Legende des Christopherus – der Glaube macht jedem Menschen die Schwerlasten der Vergangenheit leichter, sei es der strenge Vater, die schlagende Mutter, sei es irgendein Trauma, das in Bitterkeit und Depression nicht vergehen will.
Ich muß nicht jeden psychologischen Kampf austragen, weil die Sündenvergebung bereits geschehen ist. Ich weiß sehr wohl, daß sich bei dieser Glaubenserkenntnis nicht um das Trumpf-As handelt, das jede schlimme Erinnerung aussticht und in Vertrauen verwandelt. Jeder und jede muß damit rechnen, daß solche weisheitlichen Erfahrungen und Einsichten Nachdenken und Gespräche brauchen und langsam in der Seele wachsen müssen. Und jeder und jede weiß, daß solche Verarbeitungsprozesse beim einen viel Zeit brauchen, bei der anderen plötzlich und unerwartet geschehen. Das Angebot des Glaubens steht zur Verfügung: Du trägst Christus wie der Fährmann Christopherus. Und viel wichtiger: Christus trägt dich.
Und was das Tragen angeht, so machen Christen in der Gemeinde jeder für sich ihre eigenen Erfahrungen – gerade im Angesicht der Krisen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, angefangen bei den schrecklichen Terroranschlägen in Israel und der davon ausgelösten Welle an antisemitischem Haß über den Krieg in der Ukraine, unter dessen Sinnlosigkeit die Menschen leiden, bis zu dem verbreiteten Gefühl der Unsicherheit, das nach der überwundenen Corona-Epidemie in Köpfen und Herzen festhängt und sich so gar nicht vertreiben lassen will. Krisenerfahrungen nötigen dazu, sich Schutzräume zu schaffen: eine Tasse Tee, eine angezündete Kerze im Fenster, eine freundliche Email an eine Kollegin, Momente des Ausruhens angesichts der Gefühle von Streß, Überforderung und Hektik.
Glaube ist auch so ein Schutzraum, eine Pause mitten in der Salve schlechter Nachrichten. Beides steht gegeneinander. Auf der einen Seite wächst der Glaube, das Vertrauen darauf, daß Gott in Jesus Christus alles Böse längst besiegt hat. Auf der anderen Seite stehen die schlechten Nachrichten, von der Diagnose einer schlimmen Krankheit bis zu den nächtlichen Drohnenangriffen in der Ostukraine. Es ist nun ganz entscheidend, daß niemand diesen Gegensatz aus eigener Kraft überwinden kann. Entscheidend ist vielmehr, den eigenen Glauben stark zu machen. Ihn wachsen zu lassen, ohne in Bitterkeit und Resignation zu verfallen.
Der johanneische Briefschreiber ist ebenso vom Glauben an Jesus Christus wie von der Weisheit bestimmt. Der Christusglaube sagt ihm: Das Wichtigste ist schon geschehen. Die Weisheit sagt ihm: Du sollst wie ein Vater anerkennen, daß jeder im Glauben seinen eigenen Weg geht. Darum redet miteinander. Tauscht euch aus, vertraut einander an, damit ihr euch gegenseitig helfen könnt, wenn die Gefahr besteht, daß ihr in Verbitterung ertrinkt. Denkt an den Christusträger Christopherus. Der Friede Gottes, welcher uns in allen Zweifeln nicht verläßt, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.