Wir bleiben lieber …
Von Natur aus neigen wir Menschen dazu, so bleiben zu wollen, wie wir sind. Diese Haltung ist dem Gesetz der Trägheit geschuldet. Wir wissen nur zu gut: Alle Aufbrüche und jegliche Veränderungen bedürfen der nichtkalkulierbaren Anstrengung. Sie benötigen die Kraft, die wir nicht so ohne Weiteres aufbringen wollen. So bleiben wir auch gerne unter unseres Gleichen: In der Familie, im Freundeskreis, im Verein, in der Firma, im Dorf. Im Extremen auch in der Ideologie, in der Konfession, in der Nationalität. Da, wo wir spüren, dass wir so sein dürfen, wie wir sind – und andere so sind wie wir -, fühlen wir uns wohl, haben wir das Gefühl, hier sind wir zuhause. Alles ist vertraut. Das Gewohnte vereinfacht das Leben. Konfliktpotenzial ist gering.
„Wir bleiben lieber unter unseres Gleichen“, sagen wir – und sind zufrieden bei diesem Gedanken. Stellen wir uns folgendes Gedankenspiel vor: Wir, die wir hier in dieser Kirche sitzen, hätten alle ein grünes Hemd bzw. eine grüne Bluse an. Plötzlich kommt jemand mit einem roten Hemd / einer roten Bluse dazu. Das Andersartige ist augenscheinlich, das Fremde ist so offensichtlich. Um die Andersartigkeit, die Fremdheit zu überwinden, ist eine Art von Anpassung notwendig. Was können wir uns leichter vorstellen: Dass die Gruppe ihre grünen Hemden bzw. Blusen gegen rote eintauscht oder dass ein Rotgekleideter nach grün wechselt? Zumindest theoretisch wäre auch denkbar, dass man sich auf ein einheitliches Blau einigt. Nicht immer ist das Andersartige, das Fremde so eindeutig wie in unserem Gedankenspiel.
„Ich bleibe lieber unter meines Gleichen!“ Das ist die Meinung keines Geringeren als die des Simon Petrus, seines Zeichens zu Jesu Lebzeiten forscher Jünger und später Missionar im Auftrag des Auferstandenen. Seine Wurzeln liegen im jüdischen Glauben. Er ist beschnitten und er kennt die jüdischen Sitten und Speisegesetze. Er besucht den Tempelgottesdienst nach wie vor und hält das Christentum allenfalls für das bessere Judentum. Er meint, dass nur aus dem Jüdischen heraus die christliche Gemeinschaft erwachsen kann. Simon Petrus ist für klare Grenzen und Abgrenzungen zwischen jüdischen Christen und Heiden. Darin will er sich nicht beirren lassen. Er verneint das Gespräch mit den Heiden. Er vermeidet den Kontakt. Undenkbar für ihn, sich in ein heidnisches Haus zu begeben und gemeinsam mit einem Heiden an einen Tisch setzen, geschweige denn jenseits aller jüdischen Speisevorschriften mit einem solchen „Ungläubigen“ speisen. Ausgeschlossen. Nie! „Ich bleibe lieber unter meines Gleichen!’ Dies denkt, sagt und lebt Simon Petrus.
Never say never again
Wenn wir uns verweigern wollen, sagen wir “Nein!” und grenzen uns ab. Manchmal gar kommt uns die Steigerung über die Lippen: „Niemals!“ und drückt unsere unverrückbare Haltung aus. „Die kommt mir niemals ins Haus! Dem gebe ich niemals wieder eine Hand! Mit der werde ich niemals mehr ein Wort wechseln! Dem werde ich niemals einen Gefallen tun! Das kann von mir niemals jemand verlangen!“ So starr und steif können wir bisweilen Menschen gegenübertreten und uns abgrenzen. Schauen wir uns die Geschichte, die Lukas in fünf Schritten erzählt, noch einmal an!
1. Schritt, ein Engel
Kornelius ist ein römischer Hauptmann, in Cäsarea stationiert. Lukas weiß von ihm, dass er „fromm und gottesfürchtig mit seinem ganzen Haus“ ist. Er gibt „viele Almosen“ für Arme und betet „immer zu Gott“. Gott schickt diesem Kornelius einen Engel. Der in sein Haus eintretende Engel teilt dem erschrockenen Kornelius mit: „Deine Gebete und deine Almosen sind vor Gott gekommen, und er hat ihrer gedacht.“ Der Engel ermutigt Kornelius Männer nach Joppe ins Haus der Gerbers Simon zu schicken, um den dort weilenden Simon Petrus zu holen.
2. Schritt, ein Traum
Am Tag darauf als die Männer des Kornelius bereits unterwegs zu dem Gerber-Haus sind, geschieht auf dessen Dach, dass Petrus betet und hungrig wird. Während man ihm Essen zubereitet, gerät er in Verzückung und träumt: Der Himmel öffnet sich, ein leinenes Tuch wird an seinen vier Zipfeln auf die Erde niedergelassen. Darin befinden sich viele vierfüßige und kriechende Tiere und Vögel. Eine Stimme befiehlt: „Steh auf, Petrus, schlachte und iss!“ Petrus verweigert sich und antwortet, er habe „noch nie etwas Verbotenes und Unreines gegessen.“ Darauf erwidert die Stimme: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten.“ Das geschieht dreimal, das Tuch verschwindet – und Petrus bleibt ratlos zurück.
3. Schritt, eine Einladung
Während die von Kornelius geschickten Männer vor der Tür des Gerbers Simon stehen und nach Simon Petrus fragen, ist er noch ganz unschlüssig über die Bedeutung seines Traumes.
Ein Geist ermuntert Petrus, vom Dach des Hauses hinabzusteigen und mit den Männern ins Haus Kornelius zu gehen und nicht zu zweifeln, weil er die Männer zu Petrus gesandt hat.
4. Schritt, die Reise
Die Männer teilen Petrus den Befehl des Engels an Kornelius mit, in sein Haus zu kommen und zu hören, was Petrus zu sagen hat. Petrus beherbergt die Männer über Nacht und folgt am nächsten Tag der Einladung. Sie kommen in Cäsarea an, wo Kornelius bereits Verwandte und Freunde in seinem Haus zusammengerufen hat.
5. Schritt, die Begegnung
Petrus betritt das Haus. Kornelius fällt vor ihm nieder und betet ihn an. Worauf Petrus ihn aufhebt und sagt, dass er auch nur ein Mensch sei. Darauf nennt Petrus seine Vorbehalte: „Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Fremden umzugehen oder zu ihm zu kommen.“ Petrus erzählt, dass Gott ihm gezeigt hat, „dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll.“ Und Kornelius erzählt seinerseits, wie er zur Einladung des Petrus ermutigt wurde.
Gott öffnet Türen
Drei Tage zuvor hat Petrus noch „Niemals!“ gedacht, gesagt, gelebt. Die Grenzen waren klar zu definieren. Seine Haltung unmissverständlich. Seine Handlungsmuster eindeutig. Doch bei Petrus wurde etwas angestoßen, was ihm zunächst völlig rätselhaft erscheint. Das Rätselhafte zieht ihn dann in eine Dynamik hinein, die ihren Lauf nimmt. Das Unglaubliche sehend, setzt bei Petrus ein Gedankenprozess ein, der ihn zu einer überraschenden Wandlung führt. Eine ihm bisher verschlossene Tür öffnet sich zu der Erkenntnis: „Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“
Es bleibt uns in der Erzählung des Lukas nicht verborgen, dass hier Fäden im Geheimen gesponnen werden. Ob hier von Engel, Geist, Stimme, Erscheinung oder Traum gesprochen wird, lässt unseren Deutungen ihren Raum. Auch uns fallen erlebte Begebenheiten ein, die Erklärungslücken aufweisen. Vielleicht können wir erzählen, wie etwas sich verändert hat und wozu es geworden ist. Warum es aber dazu kam und in eine ungeahnte Richtung führte, erschließt sich uns nicht. Die Erzählung des Lukas zeigt uns ein Verwobensein von menschlichem Handeln und himmlischem Geschehen. Prozesse im Verborgenen bereiten ungeahntes Handeln vor und ermöglichen überraschende Schritte. Starre Haltungen lockern sich. Im Kopf aufgerichtete Barrieren verlieren ihre Argumentationskraft. Scheinbare Grenzen werden überschreitbar. Türen öffnen sich und ermöglichen Begegnung zwischen Menschen, die sich bisher fremd gewesen sind.
Der erfolgreiche Skispringer Jens Weißflog soll einmal gesagt haben: „Man springt nur so weit, wie man im Kopf schon ist.“ Das meint, nur den Schritt, den man sich selbst vorstellen kann, wird man auch gehen. Aber was braucht es, dass wir uns den nächsten Schritt denken können? Den Schritt, der uns über unseren Schatten springen lässt. Den Schritt, der uns einander näher bringt. Den Schritt, der feste Prinzipien hinter sich lässt. Den Schritt, der auf Gott vertrauend die Liebe zum Ausdruck bringt. Ja, ich wünsche mir, dass mich Gott meine eingeübten Handlungsmuster immer wieder infrage stellen lässt. Seine himmlische Sicht der Dinge möge meine Füße auf weiten Raum stellen. Sein Geist möge mir wunderbare Denkanstöße geben, die mich ungewohnte Schritte wagen lassen. Ja doch, Gott ist schon längst da, wo wir in unserem Kopf noch nicht sind. Aber ich vertraue darauf, dass er uns sehen lässt, wo wir neue Wege beschreiten und bisher verschlossen geglaubte Türen öffnen können.