Den Blick für das Ganze entwickeln
Wegweiser für das Leben in Gesellschaft und Kirche
Predigttext | Sprüche / Proverbien 8,22-36 |
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Kirche / Ort: | Konstanz-Litzelstetten |
Datum: | 12.05.2019 |
Kirchenjahr: | Jubilate (3. Sonntag nach Ostern) |
Autor: | Pfarrer Dr. Christof Ellsiepen |
Predigttext: Sprüche 8,22-26 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
22 Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. 23 Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. 24 Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. 25 Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, 26 als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. 27 Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, 28 als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, 29 als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, 30 da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; 31 ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern. 32 So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! 33 Hört die Zucht und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! 34 Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! 35 Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn. 36 Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.
Das war schon immer so! – Wer das sagt, der meint eigentlich: Und es soll bitteschön auch immer so bleiben! Das Argument der Tradition ist ein gewichtiges. Wer es auf seiner Seite weiß, der drängt den anderen in die Rolle des Neuerers. Und wer etwas Neues einführen will, der muss das gut zu begründen wissen. Sich dagegen auf das zu beziehen, was schon immer so war, das gibt Sicherheit. Was für unsere Vorfahren gut war, das kann für uns nicht so schlecht sein. Oder kurz gesagt: Was sich bewährt hat, das soll man beibehalten. Der Rückbezug auf das Alte gibt Orientierung. Und das selbst dann, wenn es gar nicht stimmt, dass es schon immer so war, wie behauptet wird. Wer sich daran macht zu untersuchen, wie die Geschichte wirklich aussah, der wird finden, dass es meist viel verwickelter und weniger eindeutig aussieht in unserer Geschichte.
I.
Das war schon immer so! ist also ein Argument, das sich durchaus befragen lassen muss, ob es denn wirklich schon immer so gewesen wie behauptet. Ich vermute, dass das, was da eigentlich behauptet werden soll, aber gar nicht wirklich etwas Geschichtliches ist. Vielmehr wird einer Sache, einer Meinung so viel zugetraut, dass sie es verdiente, dass es schon immer so gewesen, dass wir schon immer so geglaubt hätten. Es war schon immer so! Und selbst wenn nicht, denken wir doch, es wäre gut, wenn es immer schon so gewesen wäre.
Ganz besonders gilt das für das, was wir für den Anfang halten. Was wir an den Anfang setzen, das ist für uns das Erste. Nicht das Erstbeste, sondern wirklich das Wertvollste, das, was es verdient, als erstes genannt zu werden und was eben auch die Kraft hat, uns Orientierung zu geben. Vielleicht ist das der Grund, warum es uns nicht egal ist, was am Anfang der Welt gewesen ist, warum auch heute noch die größten Forscher daran gehen, dem Anfang aller Dinge auf den Grund zu gehen.
Zu wissen, was das Erste war, verspricht Orientierung für die Fragen der Zeit. Und das war schon immer so. In verschiedenen Zeiten haben sich Menschen ihres eigenen Standpunkts vergewissert. Und wir tun das, indem wir uns Geschichten des Anfangs erzählen, des Anfangs von allem.
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – die ersten Worte unserer Bibel.
„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist“ – die ersten Worte des Johannesevangeliums, in bewusster Aufnahme des Anfangs der hebräischen Bibel im 1. Buch Mose. In seinem Faust sinniert Goethe über mögliche Übersetzungen dieses Anfangs (Goethe, Faust I, Studierzimmer, V. 1224ff, S. 48, Inselausgabe): „Geschrieben steht: ‚im Anfang war das Wort!‘ /Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / ich muss es anders übersetzen, / wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. / Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn. / Bedenke wohl die erste Zeile, / dass deine Feder sich nicht übereile! / Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? / Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft! / Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, / schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. / Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat / und schreibe getrost: im Anfang war die Tat!“
II.
Das Wort, der Sinn, die Kraft, die Tat. Jedes eröffnet, als Uranfang gesetzt, eine eigene Weltsicht. Und jede Weltsicht schafft sich den eigenen Uranfang. So ist es auch in dem Gedicht aus dem alttestamentlichen Buch der Sprüche, das wir in der Lesung gehört haben. Die Weisheit spricht. Und sie sagt (Predigttext, Sprüche 8,22-36):
„Gott, der Herr schuf mich am Anfang seines Weges als erstes seiner Werke von uralters her wurde ich gewebt, von Anfang, von den Vorzeiten der Erde an“. (Übers. Meinhold Komm., 133)
Die Weisheit. Ein Wort, das uns heute selten wird. Und das soll den Anfang bilden, das Erste und Wichtigste im Leben sein. Der Bezugspunkt von allem sein? Was ist überhaupt Weisheit? Und was ist das für eine Sicht der Welt, die die Weisheit an den Anfang von allem setzt?
„Gott schuf mich, die Weisheit, als Anfang seines Weges, als erstes seiner Werke, als es noch keine Fluten gab, wurde ich geboren, als es noch keine Quellplätze schwer von Wasser gab, bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren, als er Erdreich und Fluren noch nicht gemacht hatte und die frühesten Staubschichten des Erdkreises. Als er den Himmel festsetzte, war ich dort, als er den Kreis auf der Oberfläche der Flut einritzte als er die Wolken oben stärkte, als die Quellen der Flut stark wurden, als er dem Meer seine Grenze setzte, so dass die Wasser seinen Befehl nicht überschreiten können, als er die Grundfesten der Erde anordnete, da war ich neben ihm …“
Wenn wir diese Worte in Bilder übersetzen, dann entsteht vor uns das Bild der Welt, wie man sie sich im Alten Israel vor 3000 Jahren üblicherweise vorstellte: Die Erde eine Scheibe. Das Festland in der Mitte, das Meer ringsum. Auch unter der Erde tiefe Wasser, in die die Fundamente der Berge eingelassen sind. Oben die Himmelswölbung mit den Wolken. Wie eine große Käseglocke sitzt sie auf dem Kreis der Erde auf. Und jetzt das, worum es in dem Gedicht geht: Die Weisheit ist das Erste aller Werke Gottes. Gott hat sie erschaffen, bevor er die Welt geschaffen hat. Und: sie war da, sie war dabei, die Weisheit, als er all dies geschaffen hat.
Es mutet vielleicht seltsam an, dass hier von der Weisheit wie von einer Person gesprochen wird. Andererseits ist es nichts ganz und gar Ungewöhnliches. Vielleicht haben Sie schon einmal plastische Darstellungen der vier Kardinaltugenden gesehen. Da erscheinen Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit als Frauengestalten. Die Gerechtigkeit hat meist eine Waage in der Hand und verbundene Augen als Zeichen ihrer Unparteilichkeit. Ähnlich sehen wir die Weisheit hier als eine weibliche Person. Sie wird je nach Übersetzung als Liebling oder als Pflegekind oder auch Verlobte beschrieben. Während Gott die Welt erschafft, ist sie bei ihm:
„Da war ich neben ihm als Pflegekind, und ich war Entzücken Tag für Tag, spielend vor ihm zu jeder Zeit, spielend auf dem Kreis der Erde und mein Entzücken war bei den Menschen“.
Die Weisheit ist bei Gott und sie erfreut ihn mit ihrem Spiel. Und regt ihn an, mit seinem Schöpfungswerk fortzufahren. Ich stelle mir diese Szene im Bild vor: Da ist Gott, der wie ein eifriger Handwerker am Werke ist und immer, wenn ihm die Ideen ausgehen oder wenn er müde wird – obwohl man das von Gott ja streng genommen gar nicht sagen kann – immer dann kommt die Weisheit fröhlich angehüpft, bringt ihn auf neue Gedanken, bringt ihm die Leichtigkeit zurück und beschwingt macht er sich wieder an die Arbeit. Ein Bild. Ein schönes Bild. Dass es Gott mit der Weisheit im Bunde leicht war, die Erde so zu schaffen. Wie kommt jemand darauf, so ein Bild zu entwerfen? In dem Psalm, den wir anfangs gesprochen haben, gibt es einen Vers, der einen Hinweis geben kann (Psalm 104,24):
„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter“.
Der Psalmbeter sieht in die Natur, sieht wie wunderbar sie eingerichtet ist. Sieht die Ordnung in allen Dingen und preist Gott als den Urheber dieser Welt. Die Dinge sind nicht nur einfach da, sie sind Teil einer umfassenden Ordnung. Mit Weisheit sind sie geordnet. Und wenn Gott der Urheber der Welt sein soll, dann muss er also auch mit Weisheit vorgegangen sein. Die Weisheit muss bei ihm gewesen sein.Damit haben mittelalterliche Theologen, allen voran der große Thomas von Aquin, versucht, die Existenz Gottes zu beweisen. Die Ordnung in der Welt, die wir beobachten können, setzt eine ordnende Kraft, einen weisen Baumeister voraus. So läuft das Argument. Ein strenger Beweis ist das freilich nicht. Es ist selbst nur wieder ein Bild. Gott als Baumeister und als einer, der die Dinge so zueinander stellt, dass sie für uns in einer wunderbaren Ordnung und Zusammenstimmung erscheinen. Kein wirklicher Beweis, aber als Bild ist es großartig.
Als Gott die Welt so schuf, da muss die Weisheit mit im Spiel gewesen sein. So etwas hatten die Weisheitslehrer aus dem alten Israel wohl auch vor Augen. Da legt unsere Vorstellungskraft los und lässt ein Mädchen, eine junge Frau namens Weisheit vor Gott tanzen, lachen und spielen, während er die Welt erschafft. Und die Weisheit regt nicht nur Gott in seinem Schaffen an. Sie freut sich auch selbst über ein besonderes Geschöpf: „Ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte mein Entzücken an den Menschen“.
III.
Der Mensch als homo sapiens hat seine ursprüngliche Bestimmung zur sapientia, zur Weisheit. Sie freut sich an den Menschen, warum? Weil die Menschen ihr zugänglich sind. Weil sie weise sein können. Weil sie selbst von Weisheit geleitet sein können. Können. Sage ich. Weise zu sein und zu handeln ist keine natürliche Ausstattung des Menschen, wohl aber es sein zu können, das ist eine Anlage, die wir gemeinsam haben. Nicht zufällig endet daher unser Gedicht mit einer Aufforderung:
„So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege bewahren!“
Die Menschen, Söhne und Töchter der Weisheit. Das ist ein Ehrentitel. Und eine Mahnung zugleich. Wir mögen das nicht, in dieser Richtung ermahnt zu werden: Das Wort unserer Mütter und Väter hängt uns noch in den Ohren: Sei doch vernünftig! das ist die Standardzurechtweisung. Und die soll heißen: Tu, was ich sage. Ganz so ist es mit der Aufforderung der Weisheit nicht. Sie fordert uns zum Hören auf. Und sie verspricht uns gute Wege, wenn wir ihr folgen.mDoch was ist der Weg der Weisheit, was empfiehlt sie uns denn? – Jetzt könnte man weit ausholen und die verschiedensten Weisheitslehren bemühen. Ich will nur bei dem Bild aus dem Buch der Sprüche bleiben von der Weisheit, die im Anfang bei Gott war, bei der Erschaffung der Welt. Zwei Wegweiser finde ich da für den Weg der Weisheit: Der erste heißt: Den Blick für das Ganze entwickeln. Der zweite heißt: Mit Leichtigkeit und Freude leben.
Bei der Erschaffung von allem war sie dabei, die Weisheit, und durchdringt alles und hat Alles, die ganze Schöpfung, im Blick. Aber es wird ihr nicht zur Last, leicht bleibt sie dabei und hat ihre spielerische Freude an den Dingen. Wenn wir hinaus gehen in die Natur. Und sehen, wie eins zum anderen spielt und stimmt. Dann können wir uns freuen. Der Blick aufs Ganze, lässt jedes einzelne Lebewesen als einen wichtigen und unersetzlichen Teil des Ganzen der Natur erscheinen. Der Blick aufs Ganze sieht freilich auch, wo die Ordnung gefährdet ist, wo das Auge zwar noch eine heile Welt sehen will, aber Arten von Pflanzen oder Tieren bedroht sind oder schon verschwunden. Doch ich glaube, die Freude an der Schönheit der Natur ist immer noch die beste Motivation, sie zu erhalten. Vogelschützer sind meistens Vogelliebhaber. Obwohl sie den Untergang vieler, vieler Arten beobachten, geben sie nicht auf.
Den Blick für das Ganze entwickeln und mit Leichtigkeit und Freude leben. Vielleicht kann das auch ein Wegweiser für das Leben in unserer Gesellschaft sein. In Zeiten wo nicht die Weisheit, sondern die Krise der Anfang und das Wichtigste aller Dinge zu sein scheint, ist der Blick aufs Ganze wichtig. Dass wir nicht gelähmt auf die Krise starren, sondern gelassen zu Werke gehen, um zu sehen, was dennoch möglich ist. Wo unsere Lebensgrundlagen liegen, wie sie erhalten werden können.
Den Blick für das Ganze entwickeln und mit Leichtigkeit und Freude leben. Das Ganze ist immer größer als der Teil. Und wir sind immer nur ein Teil. Wenn wir den Blick fürs Ganze entwickeln heißt das auch, dass wir uns selbst nicht für den Mittelpunkt und das Wichtigste halten. Leichter wird’s, wenn wir sehen, dass wir in ein größeres Ganzes eingebunden sind. Und mit Freude können wir leben, wenn wir erkennen, dass wir in diesem Ganzen unseren eigenen Platz haben, dass wir dazu gehören. Kein Rädchen im Getriebe, sondern ein unverwechselbarer Teil von Gottes guter Schöpfung. „Wohl denen, die meine Wege bewahren“, spricht die Weisheit. Folgen wir ihren Wegweisern und entwickeln einen Blick über uns selbst hinaus, einen Blick fürs Ganze. Und lassen uns anstecken von der Leichtigkeit und Freude, mit der weise Menschen ihres Weges gehen.