Im Gefängnis, hinter unüberwindlichen Mauern, wahrlich kein Grund zur Freude, weder für den eingesperrten Apostel Paulus noch für die Anhänger und Anhängerinnen draußen. Die Mauern trennten Paulus von jedem normalen Leben! Gefängnismauern sperren alles aus, was uns Menschen so wichtig ist: Kontakte zu Personen, die zu mir gehören, liebevollen Umgang miteinander, Teilnahme am öffentlichen Leben, Begegnungen mit Neuem. Die Mauern werfen jeden, auch Paulus, auf sich selbst zurück, zeigen die Grenzen als etwas Undurchschaubares, Hohes und Hartes. Man rennt, im wahrsten Sinn des Sprichwortes, gegen Mauern.
Aber von Paulus hören wir Erstaunliches: “…ich freue mich und werde mich auch weiterhin freuen”. Die Worte stammen aus dem Brief, den der Prediger des Evangeliums im Gefängnis, wahrscheinlich in Rom, um 60 n. Chr., schrieb. Dort wurde er zwei Jahre lang wegen seines Glaubens festgehalten. Es drohte ihm die Todesstrafe, die ann in Rom tatsächlich vollstreckt wurde. Mit einem Brief hat der Apostel die Mauern überwinden können, zumindest von innen nach außen. Welche Informationen von außen nach innen in das Gefängnis drangen, wissen, wir nicht. Es muss aber Gefängnispersonal gegeben haben, das ihm das Schreiben und den Weg der Post nach draußen ermöglicht haben. Adressat des Paulusbriefes war seine Gemeinde in Philippi, die erste Gemeinde auf europäischem Boden, die der Apostel gründete. Verständlich, dass gerade sie ihm besonders ans Herz gewachsen war. Wahrhaftig befremdliche Aussagen stehen in seinem Brief, denn Töne der Freude aus dem Kerker – übertreibt Paulus nicht? Macht er damit nicht sich und seiner Gemeinde etwas vor? Wie viele sind um ihn zutiefst besorgt, haben Angst um ihn, bangen um sein Leben. Unter ihnen gab es bestimmt auch Menschen, die an Gott zweifelten, indem sie fragten, wie Gott es zulassen könne, dass einem Mitarbeiter solches Unrecht geschieht, er wie ein Verbrecher behandelt und seiner Freiheit beraubt wird.
Es ist aber alles andere als Galgenhumor oder ein Gefängniskoller! Paulus weiß sich offensichtlich trotz der ihn umgebenden und fesselnden Gefängnismauern auf weitem Raum, von Gott begleitet und gehalten, bei ihm geborgen – von und bei dem Gott, der Jesus dem Tod entrissen, aus der tödlichen Gefangenschaft befreit und in das österliche Licht des Lebens geführt hat. “Ich möchte ihn erkennen und die Kraft seiner Auferstehung…”, schreibt Paulus an einer späteren Stelle seines Briefes (3, 10). Der Apostel tröstet seine Gemeinde. Er will sie aufrichten. Sie sollen den Mut nicht verlieren, vor allem nicht den Glauben, dass sie nichts, aber auch gar “nichts von der Liebe Gottes, der Liebe Jesu, trennen kann“ (Römer 8,38f.), weder die konkrete Gefängnismauer, noch die inneren Mauern, die wir in unseren Köpfen und Herzen gebaut haben. Diese “gute Botschaft”, das “Evangelium”, kann ihnen niemand und nichts nehmen. Erstaunlich, der Bedrohte tröstet! Briefe aus der Gefangenschaft von Menschen, die zu Unrecht hinter Mauern eingekerkert wurden, haben oft diesen tröstlichen Klang. Denken wir an den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der im Gefängnis, schon die Hinrichtung vor Augen, das Lied schrieb: “Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag” (EG 65, 7). Von einer “Welt, die unsichtbar sich um uns weitet”, singt er in diesem Lied, und er sehnt sich danach, ihren “vollen Klang” zu hören (EG 65, 6).
Wir sind ein Volk, das fast dreißig Jahre lang durch eine Mauer getrennt war. Die Mauer wurde überwunden. Ein Zeichen dafür ist die Wahl heute von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten. Es ist der tiefe Glaube, der Menschen damals wie heute befähigt, äußere Mauern nicht zur inneren Mauer werden zu lassen. Ihre Lebensgeschichte haben sie ganz mit ihren Glaubenserfahrungen und mit dem Auftrag verbunden, den sie für sich erkannten – darin lag ihre große Freiheit. Eine Freiheit, die so stark ist, dass sie sich nicht durch Mauern einfangen lässt. Darum kann Paulus schreiben: “Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur Förderung des Evangelium geraten”, “ich trage meine Fesseln für Christus” (Vers 12), mit anderen Worten: Meine augenblickliche nach außen hin bedrängende Lebenssituation trägt in Wahrheit zur Verbreitung des Evangeliums bei. Denn viele, unter ihnen die Angehörigen des römischen “Prätoriums”, machte das Schicksal des Paulus nachdenklich: Irgendetwas Wahres müsss an diesem Glauben sein, wenn ein Mensch so unbeirrbar daran festhält (Vers 13). Andere, dem Apostel Nahestehende, schöpften durch dessen vorbildliche Haltung Mut, ihren Glauben zu bekennen, zu dem zu stehen, was sie für sich als wichtig und gut erkannt haben (Vers 14).
Der Glaube des Paulus blieb nicht auf sich selbst bezogen, sondern fand seine Gestalt in der Beziehung zu seiner Gemeinde, den Menschen, denen er sich verpflichtet wusste. Er suchte auch nicht den außerordentlichen “Kick” oder gar das Martyrium. Der Apostel war von dem Wissen bestärkt, dass alles gut (ausgehen) wird, “denn ich weiß”, schreibt er, “dass mir dies (d. h. seine momentanen Lebensumstände im Gefängnis) zum Heil ausgehen wird” (Vers 19). Dabei hoffte der Apostel auf das Gebet der Gemeinde und den Beistand der Geisteskraft Jesu Christi. Wenn Paulus zusammenfassend sagen kann: “Denn Christus ist mein Leben, und Sterben mein Gewinn”, meint er nicht seine Todessehnsucht oder gar seinen Lebensüberdruss, sondern er bringt damit vielmehr zum Ausdruck: Das wahre Leben ist für ihn das, was in Christus seit Ostern gegeben ist, weil es über den Tod hinaus lebendig und beständig bleibt. Der Apostel glaubt daran, dass er nach dem Tod mit Christus in vollkommener Gemeinschaft verbunden sein wird. Aber es ist die Gemeinde, die ihn noch in dieser Welt hält und für die er da sein möchte – “zur Förderung und zur Freude im Glauben”, wie er betont. Was für ein Glaube, welche Zuversicht und Freude atmet dieses Gottvertrauen, niemand kann es wegschließen!
Liebe Gemeinde, wir sind nicht Paulus, auch nicht Dietrich Bonhoeffer oder eine dieser bewundernswerten Personen, die mit Gott „über Mauern springen“ oder sie „einreißen“ konnten (Psalm 18,30 / Jer 1,10). Wir scheitern oft an ihrer Höhe oder Festigkeit. Dann die vielen Mäuerchen, die wir uns bauen oder die wir sehen und glauben, sie seien unüberwindbar. Fragen wir uns immer wieder, wo wir uns zu stellen haben, wo unsere Einstellung, unser Glaube herausgefordert ist. Haben wir wirklich keine Möglichkeiten, mit Verstand und Verantwortung Mauern zu überwinden und in Freiheit miteinander zu leben – und dies mit Liebe und Glaube an eine Welt, wie Gott sie gewollt und Jesus sie gelehrt hat? Wir wissen nicht im Voraus, wie schwer es für uns sein wird und ob wir für unseren Einsatz seelisch oder körperlich leiden müssen. Welches sind (im übertragenen Sinn) unsere “Gefangenschaften”, in denen wir einen unbeirrbaren Glauben, Kraft und Zuversicht brauchen? Vor welchen inneren Mauern stehen wir? Was bedeutet es uns, zur Ehre Gottes und zum Segen unserer Mitmenschen etwas zu tun?
Der Apostel Paulus schrieb, umgeben von Menschen, die ihm nicht gut wollten und sich wie Mauern vor ihm in den Weg stellten. Was solls, meinte der Apostel, Hauptsache, dass Christus verkündigt wird auf jede nur denkbare Weise… (Vers 15 – 18). So können auch wir anderen Menschen Zuversicht, ja Freude vermitteln, sie bestärken, trösten, gute Beziehungen schaffen, eine Atmosphäre, in der sich gut leben lässt, eben ohne Mauern. Paulus sagte einmal, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Dies ist der österliche Hoffnungs- und Freudenton, den der Apostel Paulus in seinem Brief anstimmt und den der heutige Sonntagsname “Laetare” mitten in der Passionszeit aufnimmt. Daran möchte ich mich halten und mit Ihnen, der Gemeinde, einstimmen: als Menschen, die ganz frei unterwegs zu einem Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe sind – Gott hat es in Jesus Christus offenbart. Gott sei Dank.