Advent – Licht von oben
Realist sein mit Hoffnung
Predigttext: Lukas 21,25-28(29-33) Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984
25 Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres,
26 und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.
27 Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit.
28 Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.
[29 Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an:
30 wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass jetzt der Sommer nahe ist.
31 So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist.
32 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht.
33 Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht.]
Exegetische Überlegungen
Lukas hat drei Endzeitreden in sein Evangelium aufgenommen:
Lk 12,35-59: Thema Wachsamkeit
Lk 17,20-37: Thema Plötzlichkeit
Lk 21,5-36: Thema Zuversicht
Der Predigttext ist Teil der dritten Endzeitrede (vv 25-33). Aus exegetischen und homiletischen Erwägungen kürze ich ihn: vv 25-28. Das Gleichnis vom Feigenbaum und die Beteuerung der Unvergänglichkeit der Worte Jesu stehen zwar in gleicher Folge auch bei Mk und Mt. Das muss aber nicht für traditionsgeschichtliche Zusammengehörigkeit mit der Rede von der Wiederkunft des Menschensohns sprechen. Ich vermute einen Wachstumsprozess bei Mk, ausgehend von Mk 13,24-27.
Das Feigenbaumgleichnis ist ein verdeutlichendes Bild für die nahende Erlösung (v 28). Ich kann homiletisch damit nichts bewirken und verwende lieber eigene Bilder und Beispiele. Vv 32 und 33 schlagen neue Themen an, die ich in der Predigt nicht berücksichtige. So kann auch exegetisch die Rede vom Kommen des Menschensohns zur Erlösung (zusammen mit dem Feigenbaumgleichnis und dem Hinweis auf die Unvergänglichkeit der Worte Jesu) als Ausklang der dritten Endzeitrede angesehen werden.
Lukas stellt die einstige Wiederkunft Christi nicht in Frage. Er fixiert sie freilich auf keinen festen Zeitpunkt (Lk 17.20f; 21,7ff). Somit ergibt sich für ihn eine lange Zeit der Standhaftigkeit in den Wirren, Nöten und Verfolgungen. Was bei Mk apokalyptisches Zukunftsszenario ist („der Anfang der Wehen“ [Mk 13,8fin]), erscheint bei Lk in der Perspektive des Rückblicks (so W.Radl, Das Lukas-Evangelium, Darmstadt 1988, S.130; anders E.Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, S.211, in: ders., Die drei ersten Evangelien, Göttingen 1982 (NTD): Jerusalem ist gefallen, es hat Verrat und Christenverfolgungen gegeben.
Das alles läuft literarisch und sachlich auf einen Brennpunkt zu, der das Schlimmste vom Schlimmen in Bildern der kosmischen Katastrophe beschreibt. Wenn also hier Vergangenheit und dort apokalyptische Zukunft, dann darf man die Zukunft im Bild beschrieben sehen, weil Faktisches noch fehlt. Zu diesem Bild gehört aber konstitutiv der Kontrast zwischen dem Verzagen der Völker und der Erlösungsgewissheit der Gemeinde. Erlösung (apolytrosis, in den synoptischen Evv. singulär), endgültige ungestörte Gemeinschaft mit dem Herrn (E.Schweizer, a.a.O., S.317), ist das Finale, das aber ohne den angstmachenden Zusammenbruch des Lebensraums nicht zu haben ist. Dennoch: Das Ende weist die gläubige Gemeinde auf die Vollendung hin (v 28 ist Sondergut des Lukas, also seine Theologie; vgl. die Kreuzesworte bei ihm).
Homiletische Erwägungen
Die apokalyptischen Vorstellungen samt ihrem Bildmaterial, in dem sie Ausdruck finden, sind mir fremd. Ich lasse sie daher auf sich beruhen und bemühe nicht die moderne Erkenntnis, dass der Mensch in der Lage ist, sich selbst und seinen Lebensraum zu vernichten. Ich kann das auch guten Gewissens, weil Zielpunkt die „Erlösung“ ist. Erlösung ist erfahrbar. Also greife ich auf Erlösungserfahrungen zurück, auf eigene und auf fremde.
Mit Sicherheit ist das alles nicht die Erlösung, die die volle Gemeinschaft mit dem Herrn bringt, aber sie vermittelt eine Ahnung davon, dass es hinter allem Leid(en) und hinter aller Not und Unfreiheit einen Durchbruch zu einer Freiheit gibt, die sich im Einssein mit Christus vollendet. Ich weise hin auf Hans Küng, Was bleibt, Kerngedanken, München (Piper) 2013, S.221 ff: Das Ende aller Dinge: nicht Ende; sondern Vollendung! Der in der Predigt genannte Roman „Burnout Affäre“ von Jörg Reinemann ist erschienen bei edition winterwork 2013, ISBN 978-3-86468-617-7, Preis 9,90 €.
Kasus 2.Advent: Ich reflektiere die Interpretation von W.Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, Berlin 61971, S.385, zu v 27: „In die sich ausbreitende Nacht hinein kommt die Erscheinung des Menschensohns als Neues schaffende Kraft und die Nacht verschlingendes Licht.“
Liedempfehlung: „Harre, meine Seele“, bes. Str. 2 (www.liederdatenbank.de/song/1303).
“Das seh ich kommen“, eine Redewendung, die nichts Gutes verheißt. Wie oft haben wir im Laufe dieses Jahres unsere Mitmenschen räsonieren hören: „Es brennt einfach an zu vielen Stellen der Erde“, und manche äußern düstere Vorahnungen eines Weltbrandes. Ihre Furcht mag berechtigt sein. Nur ihr prophetisch düsteres „Das seh ich kommen“ zieht hinunter. Den, der so redet, aber auch den, der das hören muss. Nun darf man sich freilich keine Illusionen machen, sondern man muss Realist sein. Christen waren schon immer Realisten. Aber Realisten mit Hoffnung. Denn die Wirklichkeit ist für uns Christen immer mehr und größer als das, was gerade ist. Zur Wirklichkeit gehört für uns auch, was sein wird; sprich: Hoffnung. Und weil das so ist, finden wir uns nicht mit der Dunkelheit und Kälte der Welt ab, sondern wir rücken zusammen, werden zu Freunden und zu einer Gemeinde, und wir zünden ein Licht an, mit dem wir gemeinsam zugehen auf das große Licht.
Hoffnung
Auch die Christen der ersten Zeit haben gesagt: „Das seh ich schon kommen“. Aber in aller Hoffnungslosigkeit und in aller Untergangsstimmung, in der sie sich befanden, sahen sie doch das große Licht schon kommen, das die Erlösung bringt.
Es war eine schlimme Zeit am Anfang. Verfolgt wurden die Christen, ins Gefängnis geworfen und oft dem Tod überantwortet. Die ersten Märtyrer hat es gegeben. Ja, Christen sind sich in ihrer eigenen Familie nicht mehr sicher vor Verleumdung und Verrat. Was sieht man da kommen? – Die Realität! „Es wird alles noch viel schlimmer“, sagen sie. Doch da erinnern sie sich eines Wortes ihres Herrn Jesus Christus.
(Lesung des Predigttextes)
Das sehen diese Christen kommen. Das, liebe Gemeinde, sehen Christen kommen: die blanke Realität, Zerbrechen aller inneren und äußeren Strukturen. Und doch sehen sie noch mehr kommen: Hinter allem Zusammenbruch und Untergang den, der sie alle trägt.
Erlösungserfahrungen
Ich möchte das auch können. Hinter allem Zusammenbruch und Untergang den sehen, der alle und alles trägt. Indes: Ich kann mir nur schwer die Worte unseres Herrn zu eigen machen, die von einem mir so fremden Weltbild geprägt sind. Aber ich muss gestehen: Diese Apokalypse und am Ende dieser befreiende Durchbruch der Hoffnung und der Erlösung bringt in mir etwas zum Klingen, was ich schon mal gehört und von Ferne ähnlich empfunden habe. Ich will Ihnen davon erzählen:
Meine Frau und ich treffen sich Silvester immer mit unseren Nachbarn, und bevor wir zum gemütlichen Teil übergehen, hören wir gemeinsam Beethovens Neunte, die bekanntlich mit der Ode an die Freude endet. Volle Konzertsaallautstärke, es ist ja sonst niemand im Haus. Und da wird es dann mit einem Mal so laut und so schneidend und zerreißend in den Tönen, dass ich merke, wie ich verkrampft dasitze und den Kopf einziehe. Dann scheint sich das Chaos etwas zu ordnen, aber auch nur, um unweigerlich wieder hereinzubrechen. Harmonische Passagen sind wie der Traum vom himmlischen Frieden, der dann wieder in infernalischem Lärm versinkt … Bis des Menschen Wort dem Chaos Einhalt gebietet und er wie in einem Gebet lobend und preisend die erlösende Freude beschwört. Der Chor, der kraftvoll das Lied der Freude anstimmt, ist eine Erlösung auch für mich, der ich mich von den Mächten des Chaos habe in den Bann nehmen lassen. Ich kann mein Haupt erheben. Alles löst sich; die Freude, die himmlische, erfüllt mich und lässt das Chaos hinter mir.
Man mag sich darüber streiten, ob die Ode an die Freude mit christlichem Denken kompatibel ist, ein Tor für christliches Lebensgefühl öffnet die Neunte allemal: Nicht blitzzuckende Nacht, nicht bedrohliche Finsternis ist das Ende, nicht Zusammenbruch all dessen, was uns hält, sondern Durchbruch des Lichtes, das von oben kommt, sei es „himmlische Freude“ genannt oder mit dem Antlitz einer himmlischen Gestalt – die Bibel nennt sie „Menschensohn“ – verbunden. Wenn Zusammenbruch das Ende ist: Wir Christen sehen mehr. Wenn Zusammenbruch das Ende ist, wir sehen die Vollendung kommen.
Ich will Angsterfahrungen keineswegs mit der Neunten überspielen. Erfahrungen des Zusammenbruchs und des Untergangs sind für den Menschen, der sie erlebt, durchaus real. Da hilft es nicht zu sagen: „Du siehst zu schwarz; du siehst Gespenster.“ Der Magdeburger Jörg Reinemann hat in seinem Roman „Burnout Affäre“ solche Angsterfahrungen beschrieben. Sein Romanheld ist wie in einem Schiff eingeschlossen, das in einem Kanalrohr steckt. Der Wasserspiegel in dem Kanalrohr steigt höher und höher und drückt das Schiff immer mehr gegen die obere Rohrwand. Sein Begleiter kann durch eine Sprengung den Boden des Rohres zerstören, so dass Wasser abfließen, das Schiff im Rohr weiterfahren und schließlich aus dem Rohr in einen breiten Fluss unter freiem Himmel schwimmen kann. Das Erleben ist real: dieses: „Es geht nicht mehr weiter“ wie auch das Erlöst-Werden und Befreit-Sein durch den Begleiter.
Begleiter
Das Wort unseres Herrn Jesus Christus, die Neunte und das Erleben der Eingeschlossenen haben eine gemeinsame Botschaft: Du kannst dich nicht selbst erlösen. Es braucht immer einen anderen. Es bedarf immer eines Zweiten, eines Helfers, eines Retters. Im Roman ist es der Begleiter im Schiff, in Beethovens Neunter ist es die Freude, die vom Himmel kommt, in der Bibel ist es der Menschensohn, der auf der Wolke am Himmel erscheint. Die Bibel bedient sich gern dieser mythischen Gestalt, um sie mit dem endgültigen Erscheinen Christi, des Gottessohnes, gleichzusetzen.
Advent
Das endgültige Erscheinen Christi? Mal es dir aus, wie du willst – oder lass es auch. Dann lass es einfach so stehen und beziehe deine Freude und deine Hoffnung daraus. Mir sagt es: Hinter allem Lebens- und Friedensbedrohendem, hinter allem existenzbedrohendem Chaos kommt noch etwas oder jemand. Etwas oder jemand, der das Chaos beherrscht und mein Haupt sich erheben lässt. Ich will das noch einmal symbolisch darstellen: Sie sehen ein großes Kruzifix vor sich. Der Gekreuzigte von Golgata steht für Schmerz, Leid, Verlassenheit, Untergang. – Lassen Sie dahinter die Statue des segnenden Christus von Rio erstehen. Er weist über das Kreuz hinaus auf die Erlösung. Es gibt immer Oberfläche und Tiefenschicht, eine Vorderseite und einen Innenraum, eine Grenze und ein Dahinter.
Den Segnenden aber gibt es nur, weil es den Gekreuzigten gegeben hat. Und den Gekreuzigten gibt es nur, weil Maria diesen außergewöhnlichen Menschen unter ihrem Herzen getragen hat. Weil Gott Mensch geworden ist. In der Adventszeit begeben wir uns mit Maria auf den Weg und mit dem Kind, das sie unter ihrem Herzen trägt. Eine spannende Zeit. Gott kommt uns entgegen und trifft bei uns ein. Noch vierzehn Tage können wir das feiern, voller Erwartung, voller Freude, voller Sehnsucht und Gelöstheit.
Der Prediger geht mit dem Bibeltext souverän um. Bilder, die ihm nicht zusagen oder nicht einleuchten oder die ihm in homiletischer Hinsicht ungeeignet erscheinen, verwirft er und ersetzt sie durch eigene Bilder. Mir gefällt das. Ich halte das auch für legitim, zumal der Skopus des Textes anschaulich zum Tragen kommt. Allerdings könnte ich mir den Zuspruch aus dem Evangelium klarer und kräftiger vorstellen.
Zitat: „Das endgültige Erscheinen Christi? Mal es dir aus, wie du willst – oder lass es auch. Dann lass es einfach so stehen und beziehe deine Freude und deine Hoffnung daraus. Mir sagt es: Hinter allem Lebens- und Friedensbedrohendem, hinter allem existenzbedrohendem Chaos kommt noch etwas oder jemand. Etwas oder jemand, der das Chaos beherrscht und mein Haupt sich erheben lässt.“ Diese Aussage ist in Ordnung, und trotzdem wirkt sie auf mich etwas beliebig und recht allgemein nach dem Alltagsmotto: „Alles wird gut.“ „Du kannst dich nicht selbst erlösen. Es braucht immer einen anderen.“ Da hätte ich mir etwas mehr Christusbezogenheit gewünscht.
Die eigenen Erfahrungen, das Hören der Beethovensymphonie und die Beschreibung des Filmes mit der schrecklichen Bedrängnis der Situation, von Wassermassen erdrückt zu werden, sind beeindruckend und sagen mir zu.
Dass „die Kräfte des Himmels ins Wanken kommen“, finde ich eine so bemerkenswerte Aussage, dass ich sie nicht übergehen würde. Darin liegt für mich ein wichtiger Trostgedanke, der vom Prediger allerdings auch angedeutet wird: Die Erlösung liegt nicht in unserer Hand. Aber auch das Ende der Erde und ihre Neuerschaffung werden von Gott gesteuert. Dazu passt dann gut das Lied „Harre meine Seele“. Schön, dass der Prediger dieses herrliche, vertrauensvolle Glaubenslied in den Gottesdienst mit einbezieht. Ich würde ihm vorschlagen, dieses Lied der Gemeinde mit Emotion nahezubringen und damit den letzten Teil der Predigt, der theologisch in Ordnung ist, abzuschließen.
Eine schöne, moderne, theologisch fundierte Predigt zu einem nicht leichten Thema.
Lieber Herr Scholz,
von Ihrer Predigt bin ich tief berührt – ja, ich kann es wirklich so sagen: Ich bin begeistert.
Es ist Ihnen gelungen, diese schwierige Endzeitvision, mit Tiefgang aber auch in unglaublich geschickt vermittelter Freiheit in unsere gegenwärtige Situation hineinzubinden.
Ich war hilflos bei dem Gedanken, morgen darüber predigen zu müssen.
Jetzt weiß ich: es gibt einen gangbaren Weg zwischen Predigttext und hörender Gemeinde.
Danke, dass Sie ihn mir gezeigt haben.
Dorothea Zager, Worms