Ängste überwinden
Jesus von Nazareth schenkt uns als Gottes Sohn eine lebendige Mitte in unserer Seele
Predigttext: Matthäus 15,21-28 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen:Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
Überlegungen zur Predigt
Dieser Text enthält die härtesten Zurechtweisungen Jesu, die sich im NT finden. Kann man sie verständlich machen? Zum Teil sind sie zu verstehen aus der sozialen Notlage der Juden gegenüber einer wohl sehr reichen kanaanäischen Oberschicht, zu der auch die Mutter eines besessenen Mädchens gehörte. Tatsächlich wusste sich Jesus besonders gesandt zu den Juden.
Was die Besessenheit der Tochter und deren Heilung betrifft, lässt sie sich sehr gut mit der psychosomatischen Erklärung von Eugen Drewermann verstehen. Sowohl in seinem Auslegung des Matthäus als auch in der des Markus-Evangeliums findet man sie, außerdem in einem Predigtband (s.u ). Die Mutter hat durch zu viel Angst um die Tochter und durch zu viel Behüten und Sorgen die Tochter verrückt gemacht. Gleichzeitig ist auch die Mutter außer Kurs. Die Tochter ist nach den Worten der Mutter dämonisiert und wie von einem Teufel verhext. Es ist ja bis heute ein unheimliches, dämonisches Phänomen, dass zu viel falsche Liebe, Fürsorge und falsches Behüten Kinder dadurch bei der Entwicklung geradezu innerlich zerstört werden können . Fassungslos, ratlos und hilflos sagen Eltern bis heute: „Ich habe es doch immer nur gut gemeint". Ihr Vertrauen auf Jesus und seinen Lebensstil der verantwortlichen Freiheit macht die Tochter und gleichzeitig die Mutter gesund. Beide können wieder mit dem Glauben angstfrei leben. Sie sind geheilt. „Die Heilungsmacht von Gottes Reich ist präsent“ ( Paul Tillich).
In der Predigt möchte ich im Hauptteil Drewermanns psychologischer Auslegung folgen. Einleiten möchte ich mit den Erklärungen von Prof. Theißen.
Literatur
Eugen Drewermann, Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung, Bd. 2, noch intensiver: Das Markus-Evangelium. Bilder der Erlösung. Bd. 1, S. 472- 491, und: Und legte ihnen die Hände auf, S.66-75. Sehr differenziert und gelehrt ist die Predigt von Prof. Gerd Theißen, Die offene Tür, München 1990, S.48-55, er zeigt erklärend das Lokalkolorit des Heilungswunders zwischen Juden und Kanaanäern.
Im Predigttext stehen zwei aufregende miteinander verbundene Geschichten. Nirgendwo im ganzen Neuen Testament hat Jesus so hart und ablehnend gesprochen wie in dieser Geschichte von der kanaanäischen Frau. Diese Mutter leidet sehr darunter, dass ihre Tochter besessen und verrückt ist. „Total durchgeknallt“, heißt es heute im Jargon der Jugend. Die Mutter wendet sich hilfesuchend an Jesus. Dieser aber weist die Frau ab und beleidigt sie sogar. Weil sie eine reiche Ausländerin mit Luxus und Bildung und keine Jüdin ist, will er das Brot des Heils nicht an sie verschwenden und vergleicht sie mit einem Haushund, dem man das Brot vom Tisch nicht gibt. Die Mutter aber hat große Angst um ihre Tochter. Sie leidet sehr. Gleichzeitig ist sie so davon überzeugt, dass Jesus ihrer Tochter helfen kann, dass sie die Beleidigung hinnimmt. Sie steigt sogar wortgewandt in die Beleidigung durch Jesus ein, dreht die Worte Jesu geistreich um und erwidert mit Mutterwitz: „Aber doch fressen die Hunde vom Brot, welches vom Tisch des Herrn herabfällt”.
Ein wenig verstehen kann man die Ablehnung Jesu, wenn man die damaligen Zeitumstände bedenkt: Die Frau ist nach dem Markus-Evangelium eine Griechin aus Syrophönizien. Das bedeutete: Sie gehörte sehr wahrscheinlich zur gebildeten und reichen Oberschicht im römischen Reich. Die Juden fühlten sich von diesen Leuten ausgebeutet und herabgesetzt. Jesu ging ja recht beharrlich fast nur zu den Juden, um sie zu seinem Glauben zu bekehren. Wenn Jesus sich mit diesem heidnischen Luxus-Weib solidarisiert und ihre Tochter heilt, verrät er seinen Auftrag und macht sich bei den frommen Juden unbeliebt. Jesus steht hier zwischen zwei Parteien und entscheidet sich mit harten Worten zuerst gegen eine reiche Heidin.
Die Mutter aber zeigt eine unglaubliche Energie und Kraft. Neben dem religiösen Glauben ist Mutterliebe die stärkste Liebeskraft auf der Erde. Wie die Flüchtlinge heute appelliert sie auch an die Humanität. Aber ebenso an Jesu Vollmacht. Die Frau nimmt die beleidigende Bezeichnung “Hunde” für sich an und argumentiert geistreich, gewitzt und hartnäckig mit Hilfe der Begriffe, welche Jesus selbst gebraucht hat. Jesus wird in seinen eigenen Worten gefangen. „Ja eben, meint sie, die Hunde fressen doch auch, was vom Tisch herunterfällt.“ Dadurch wird Jesus überwunden und von der Frau überzeugt. Er ändert seinen Standpunkt und sagt: „Frau, dein Glaube ist groß! Dir geschehe wie du geglaubt hast“. Und die Tochter „ward gesund von der Stunde an“.
Jesus hat gewiss geheilt und Wunder gewirkt. Davon bin ich mit vielen anderen Christen überzeugt. Im Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele ist viel möglich. Deswegen gibt es auch heute nicht nur die naturwissenschaftliche Medizin, sondern noch mehrere sehr wirksame alternative Heilpraktiken. Schon im alltäglichen Bereich sind wir seelisch beeinflussbar. Unsere Schmerzen nach dem Fahrradsturz als kleine Kinder verschwanden echt, wenn unsere Mutter die Schürfwunde mit ihrer Spucke abkühlte und uns in den Arm nahm und uns liebkoste. Und manche Ärzte und Krankenschwestern reden so hoffnungsvoll über unsere Krankheit, dass die Last ganz leicht wird. Im jahrzehntelangen Unterricht mit Konfirmanden und Schülern im Oberstufen-Religionsunterricht und in Bibel-Gesprächen tauchte aber immer wieder die Frage auf: Wie können wir heute noch an die massiven Heil-Wunder und Totenauferweckungen Jesu glauben? Wie können wir sie verstehen?
Seit einigen Jahren erklärt der bekannte Theologe Dr. Eugen Drewermann die Wundergeschichten durch die Tiefenpsychologie. Dadurch waren sie plötzlich bei den jungen Leuten im Unterricht interessant und überzeugten sie. Drewermann macht zuerst darauf aufmerksam, dass das Neue Testament nicht so ausführlich wie zum Beispiel Thomas Mann berichtet. Alles Wesentliche wird knapp angedeutet. Die kanaanäische Frau hat eine psychisch kranke Tochter, aber offensichtlich keinen Mann und keinen Sohn. Eine Frau hatte es in der patriarchalischen Gesellschaft damals sehr schwer, allein durchzukommen. Wenn sie nur eine Tochter hatte, war es doppelt schwer für sie, diese großzuziehen. Verständlich, dass sie sich um ihre Tochter dauernd Sorgen machte und sie mit einem Käfig von Vorsichtregeln umgab. Draußen zu spielen mit anderen Kindern erschien als viel zu gefährlich. Die Tochter konnte sich nicht entfalten und eigene Erfahrungen sammeln. Die Mutter hatte Angst um die Tochter, und die Tochter hatte Angst vor dem Leben. Sie wurde immer neurotischer und wusste nicht mehr ein noch aus. Was sie auch machte, alles war nur noch unverständlich und gefährlich. Auch von außen her war sie wie durchgedreht. Sie wirkte ratlos und wie aus der Bahn gerückt, „verrückt“, und wie von einem Teufel verhext. Die Mutter verstärkte in einem Teufelskreis immer mehr die Ängste der Tochter. Diese fing an, ihre Mutter innerlich zu hassen. Gleichzeitig bekam die Mutter selbst immer mehr Angst. Ein krankes Kind zu haben, welches zum Beispiel drogensüchtig ist, gehört zu den schlimmste Sorgen und Leiden. Mutter und Tochter verstanden einander überhaupt nicht mehr und redeten total aneinander vorbei. Die jeweils andere war wie verhext von einer teuflischen Macht. Ihre Rettung war, dass die Mutter bedingungslos an Jesus glaubte.
Jesus verbreitete einen angstfernen Geist der Freiheit, Selbstständigkeit und des Selbstvertrauens durch Gott. Jesus ist überwältigt von ihrem Glauben und, findet die entscheidenden, heilenden Worte. „Dein Glaube ist groß! Dir geschehe, wie du geglaubt hast.“ Diese Worte veränderten die ganze Situation zum Guten. Ein Kreislauf zum Heil begann, zur angstfreien Selbstständigkeit der Tochter und der Mutter. „Und die Tochter wurde gesund zur selben Stund“, heißt es im Neuen Testament. Ähnliches gibt es auch noch heute: Ein Psychotherapeut sagte zu den Eltern eines 18jährigen Sohnes, die sehr viel Angst um ihn hatten: „Habt keine Angst! Sagt euch immer: Er geht seinen Weg!“ Und der Sohn wurde in wenigen Jahren ein erfolgreicher Manager.
Zwei Dinge folgen für uns heute aus der Heilung der Tochter der Kanaanäerin: Im Umgang mit anderen Menschen sollten wir uns ständig prüfen, ob wir nicht zu viel Angst durch lieblose Kritik verbreiten. Andererseits: Wer ständig Angst hat, etwas Falsches zu sagen, wird schließlich stumm. Zweitens könnte uns bewusst werden , dass man Kinder ohne ein gerüttelt Maß an Gottvertrauen nicht gesund erziehen kann. Kindererziehung ist nach dem großen Philosophen Immanuel Kant die schwierigste Aufgabe für uns Menschen. Die Ziele sind weit gefächert: Selbstdisziplin, Kultur, Umgang mit Menschen und ein Gewissen zu haben, müssen gelernt sein. Dann geht es noch um das Balancieren zwischen den Polen Freiheit und Ordnung. Wer Kindern alle Freiheiten erlaubt, macht sie zu selbstsüchtigen Tyrannen. Wer bei der Erziehung unserer Kinder aber alle Wege der Kinder angstvoll behütet und kontrolliert, der verhindert, dass das Kind seinem Alter entsprechend Erfahrungen sammelt und Gefahren voraussehen kann. Und es gibt noch den Schlingerpfad zwischen den Polen von zu viel liebevoller Nähe und zu viel kühler Distanz zu anderen Menschen. Wir selbst brauchen täglich die Nähe Gottes durch Jesus, damit wir in den vielen Spannungen, Gegensätzen und Krisen und obigen vier Polen nicht verrückt werden.
Der heutige „Papst der Psychologie“, Professor Schulz von Thun, sagt, dass wir neben den vier Polen noch weitere Ratgeber im Inneren Team unserer Seele haben. Mit Jesus als Hauptratgeber im Inneren Team unserer Seele wird uns das Heil geschenkt, eine innere Mitte in unserer Seele zu haben. In der Balance von Freiheit und Geboten und von emotionaler Nähe zu unseren Mitmenschen und nötiger Distanz können wir mit Vertrauen und Glauben erfreulich leben. Beim Beten und Meditieren können wir spüren, dass Jesus als Gottes Sohn uns eine lebendige Mitte in unserer Seele schenkt. Mit ihm ist unser manchmal etwas verrücktes Leben sinnvoll, durch ihn können wir (mit Kurt Meyer, Lesepredigten 2, 1997) sagen:
Lieber Gott!
Die Frau und ihre Tochter stehen auf.
Der Dämon der Angst ist bezwungen.
Das Heil von Jesus erfüllt die Erde und das All und mich.
Du mein Gott! Ich vertraue Dir!
Ich kann durchatmen, tief und weit.
Du tust Wunder.
Du meine Hoffnung.
Eine interessante Predigt. Viele psychotherapeutisch wertvolle Erkenntnisse sind in ihr verarbeitet. Hilfreich für das Verständnis dieser Heilung ist auch die Einbeziehung des religiösen Umfeldes. Schön, dass der Verfasser neben den zahlreichen praktischen Ratschlägen Jesus als die zentrale Figur des Geschehens in den Mittelpunkt des Geschehens und unseres Lebens stellt, was er am Schluss der Predigt durch ein emotional starkes Gebet unterstreicht.