„Alle aus Einem“ – Geschenktes Fundament

Christusverbundenheit – Barmherzig sein und voller Mitempfinden leben

Predigttext: Hebräer 2,10-18
Kirche / Ort: 14943 Luckenwalde
Datum: 17.04.2014
Kirchenjahr: Gründonnerstag
Autor/in: Pfarrer em. Dr. Ulrich Kappes

Predigttext: Hebräer 2,10-18 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

10 Denn es geziemte sich für ihn, wegen dem alles und durch den alles, daß er, viele Söhne zur Herrlichkeit führend, den Anführer ihres Heils durch Leiden vollende.  11 Denn der Heiligende und die zu Heiligenden (sind) alle aus einem; aus welchem Grund er sich nicht schämt, Brüder sie zu rufen,  12 sagend: ›Verkünden werde ich deinen Namen meinen Brüdern, inmitten (der) Gemeinde werde ich dich preisen,‹  13 und wieder: ›Ich werde sein vertrauend auf ihn,‹ und wieder: ›Siehe, ich und die Kinder, die mir Gott gab.‹  14 Da nun die Kinder Gemeinschaft erhalten haben an Blut und Fleisch, hatte auch er gleicherweise Anteil an ihnen, damit durch den Tod er vernichte den die Gewalt Habenden über den Tod, das ist: den Teufel,  15 und (damit er) befreie diese, wieviele in Furcht vor (dem) Tod durch das ganze Leben (hindurch) verfallen waren einer Sklaverei.  16 Denn doch wohl nicht (der) Engel nimmt er sich an, sondern (der) Nachkommenschaft Abrahams nimmt er sich an.  17 Daher mußte er in allem den Brüdern gleich werden, damit ein sich erbarmender und treuer Hochpriester er werde in bezug auf das gegen Gott, auf daß er sühne die Sünden des Volkes.  18 Denn worin er gelitten hat, selbst versucht, kann er den Versuchten helfen.

Exegetische und homiletische Überlegungen zum Predigttext

Versucht man, einen Anhalt zu finden, von dem aus der Text zu verstehen ist, so liegt der archimedische Punkt  in Vers 11a. Ich folge hierin vor allem dem Kommentar von Erich Gräßer: „So bleibt – da V 11a ja die Zusammengehörigkeit von Sohn und Söhnen begründen soll – (erg.: nur noch – U. K.) die Möglichkeit, ex henos pantes (aus Einem) im Sinne … einer ursprünglichen  Verwandtschaft  … zu deuten … Dafür spricht weiter, dass nach 12,9 die Menschen neben den Vätern des Fleisches Gott als pataer tōn pneumatōn haben, als Vater der Geister, des präexistenten Kerns im Menschen. (Erich Gräßer, An die Hebräer, 1. Teilband, Zürich, Neukirchen –Vluyn, 1990, S. 136 u. passim; Ebenso:  Gerd Theißen, Untersuchungen zum Hebräerbrief, Gütersloh 1969, S.121.)

Die Exegese wird nach meiner Sicht nicht anders können als diese Überzeugung zur Voraussetzung eines angemessenen Textverständnisses zu akzeptieren. Es sollte den Hörern überlassen bleiben, ob sie die Auffassung des Hebräerbriefes teilen oder sich z. B.  auf die von Paulus in Röm. 6,5 dargestellte „organische“ Verbundenheit mit Christus einstellen. (Es wäre auch an Joh. 15 zu denken, ebenso 1.Joh. 3,9.) Die Predigerin / der Prediger,  der ihrer/seiner Gemeinde zumutet, für sich zu entscheiden, ob sie daran glauben will, dass Christuszugehörigkeit nicht in erster Linie aus Worten besteht, sondern dem Menschen, der glaubt, ohne Worte verliehen wird, muss um Akzeptanz ringen. Es ist gut, sich das vorab klar zu machen. Der Vorwurf von Esoterik und eines mystischen Gnostizismus steht im Raum.

Ohne die besondere Weise der Christusverbundenheit, um die es im Hebräerbrief geht, wieder zu geben, wird die Predigt, ob man das narrativ oder wie auch immer abfedert, nicht anders gehalten werden können denn als appellative Rede.

Es ist Gründonnerstag und die Perikope, will ich sie nicht als bloßen Stichwortgeber verbiegen, sagt außer der Metapher des Hohenpriesters nichts zur Abendmahlsthematik. Das klingt leider hölzern und gesucht, sollte aber dennoch aufgegriffen werden. „Die Sache Ernst zu nehmen, ist gerade Respekt vor dem Hörer, dem wir die Sache schuldig sind.“ (Werner Schütz, Kerygma, Situation und Hörer, in: Weg in die Zukunft, Brill und Leiden 1975, 100-134, S. 125.)

 

 

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Der Hebräerbrief überliefert uns eine eigene Weise und Form zu glauben. Es heißt: „Er, Christus, der heiligt und sie, die geheiligt werden, stammen alle von Einem ab.“ (EÜ) Anders gesagt: Wir Menschen und Christus haben einen gemeinsamen Ursprung,  eine gleiche Heimat. Das wird in Kapitel 12 fortgeführt, wo es heißt, dass Gott der Vater von Jesus Christus und in ähnlicher Weise auch von uns ist. Also: Vor unserem Erdenleben haben wir diese Berufung erhalten. Sie ist 1: 100 000 anders als die Berufung, die er seinem Sohn gab, ist ihr aber ähnlich. Der Verfasser des Hebräerbriefes glaubt fest, dass jeder Mensch nicht nur einen irdischen Vater hat, sondern einen himmlischen Vater und, so weit so gut, das Besondere dieser Vaterschaft besteht darin, dass sie vor unserer irdischen Existenz beginnt.  Wir fragen zurück: Wir sollen Wurzeln haben, die vor unsere Geburt reichen?

Wie wir mit der mythischen Vorstellung des Hebräerbriefes auch umgehen, ob uns der Gedanke an einen himmlischen Ursprung vor unserer Geburt erhebt und beflügelt oder ob wir ihn ablehnen und er uns befremdet, so sollten wir dem Grundgedanken nicht ausweichen. Er heißt: Es gibt eine Verbundenheit mit Christus, die mehr ist, als diese bloß zu denken. Wir denken nicht nur die Gemeinschaft mit Christus, sie ist vielmehr vor unserem Denken und Fühlen in uns angelegt.  Für Paulus gilt diese Verbundenheit seit der Taufe, wenn er schreibt, dass wir in Christus „eingepflanzt“ sind, gleichsam organisch und unaufhebbar mit Christus verbunden sind. (Römer 6,5)  Der Christus des Johannesevangeliums beschreibt sich als Weinstock, an dem als seine Gemeinde die Trauben hängen. Im Bild gesagt: Das Haus der christlichen Existenz steht auf einem Fundament, das vorab gelegt wurde. Es ist ererbt und übergeben, unabhängig von Aussehen, Gestalt und Funktionsfähigkeit des später errichteten Hauses.Von dieser Überzeugung einer tiefen Zusammengehörigkeit von Christ und Christus werden nun die weiteren Gedanken entfaltet. Zunächst: „Es ziemte sich“ und „es musste kommen“, dass Christus „Fleisch und Blut annahm“. Warum „ziemte es sich“, und warum „musste er kommen“?  Die Antwort ist nach dem eben Gesagten klar:  Er tat dies aus der tiefen Verbundenheit mit uns. Er nahm wegen uns, seinen, im tiefsten und wahrsten Sinn, „Brüdern“ oder auch „Kindern“  unser „Fleisch und Blut“ an.

Die Verbundenheit mit uns, seinen „Brüdern“ oder „Kindern“, lässt Christus alle Lasten dieses Lebens tragen. Er taucht hinab in die ärmste aller Geburten. Er wird von seiner eigenen Familie nicht geschätzt und verlässt sie. Er ist einer pausenlosen Anfeindung und üblen Nachrede ausgeliefert. Da, wo er Menschen als  Beistand gebraucht hätte, verlassen sie ihn. Er stirbt am Kreuz mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“. Er hat alle Tiefen des Lebens durchlitten. Was heißt das? Sich ihm zuzuwenden, sich ihm anzuvertrauen, sich an ihn zu halten, bedeutet, einen Herrn  zu haben, der uns in unserer Einsamkeit und Verlassenheit, in einem von Neid und Missgunst gezeichneten Leben nicht nur nahe ist, sondern das alles am eigenen Leib und der eigenen Seele erfahren hat. ‚Ich hab das alles auch durchgemacht. Denke an mich. Es ist das Schicksal derer, die in Fleisch und Blut leben. Nimm es an. Du bist nicht besser  als ich. Der Jünger ist nicht anders als sein Meister.’

Wie ein Zug bisweilen mehrere Gleise passiert, um schließlich in ein Hauptgleis einzubiegen und seinen Bestimmungsort zu erreichen, mündet der Fluss der Gedanken in unserem Text  in eine Hauptaussage. Der Hebräerbrief sagt, dass wir Gefangene dieser Welt seien, und er führt aus, dass diese Gefangenschaft daran erkennbar werde, dass wir ein Leben lang Furcht vor dem Tod haben. Der Tod wird  als Gewalt des Teufels, als  d i e  Gewalt des Teufels überhaupt bezeichnet, als Herrschaft, der wir unterworfen und ausgeliefert sind. Teufel hin, Teufel her: Ausgesagt wird, dass der Mensch dem Tod und der Furcht vor dem Tod unterlegen ist. Man muss davon ausgehen, dass mit „Furcht vor dem Tod“  nicht nur unsere kreatürliche Angst vor dem Tod gemeint ist, sondern der Tod sozusagen als das böse Ferment, als das zerstörerische Gift, gesehen wird, das alle Bereiche unseres Lebens durchzieht. Die „Furcht vor dem Tod“ ist als Daseinsangst da, wenn ich in eine schwierige Situation gerate. Sie lebt in der Trennungsangst, wenn ein Mensch mich verlässt. Sie kommt als Versagensangst auf, wenn ich beruflich gescheitert bin. Die Furcht vor dem Tod bedeutet eine anhaltende Vernichtung meiner Freiheit und deshalb Gefangenschaft in vielen Ausprägungen. Alle Diktaturen arbeiten mit der Furcht vor dem Tod und entfalten mit ihr eine diabolische Macht. (Hans-Joachim Iwand, Predigt-Meditaionen, Göttingen 1966, S. 342.) Ist das wahr und ist das so?

Ein kleiner Abstecher. Der australische Schriftsteller Christopher M. Clark hat anlässlich des 100jährigen Gedenkens des 1.Weltkrieges das Buch „Die Schlafwandler“ geschrieben. (München 2013) Clarks Großonkel „Jim“, der Viehzüchter James Joseph O’ Brian, war selbst Soldat in diesem Krieg. Als Christopher Clark einmal einen Moment abpasste, da der Großvater bereit war, etwas über seine Soldatenzeit zu erzählen, berichtete er, dass es zwei Gruppen von Soldaten gegeben habe: „die Begeisterten und die Beängstigten“.  Auf die Frage, wozu der Großvater gehört habe, antwortete er: „zu den Beängstigten“. Der Großneffe fragte weiter: „Jim, haben die Begeisterten besser gekämpft als die Beängstigten?“ „Nein“, antwortete Jim. „Die Begeisterten waren die ersten, die in die Hose gemacht haben.“ (Interview im DLF mit Christoph Heinemann am 4.4.2014, 8.07 Uhr f.) Die von Clark humoristisch überlieferte Geschichte vom Onkel Jim enthält die alles andere als humoristische Frage: Haben Menschen, die  ihre Furcht vor dem Sterben, bekennen, einen klareren Wirklichkeitssinn und sind darum paradox auch dem Tod gegenüber mutiger? Der Hebräerbrief rechnet mit der Zustimmung seiner Leser, wonach wir in der „beständigen Furcht vor dem Tod“ leben, uns darin nichts vormachen und nichts verstellen. Gibt es einen Ausweg?

Der Hebräerbrief sieht sozusagen als Ariadnefaden, der aus der Höhle der Angst herausführt, einzig die tiefer als mein Denken und Fühlen gehende Verbundenheit mit Christus. Sie bedeutet, dass wir nicht auf dem Weg des Selbstappells zu Christus gehören, sondern auch dann, wenn wir nicht mehr recht denken und unsere Gefühle kontrollieren können. Wer ist Christus? Im Zusammenhang unseres Textes spricht der Hebräerbrief von einem „Herzog“, der uns vorangeht und uns mitnimmt in der geistigen Überwindung des Todes. Das unsichtbare Band zu Christus ist  unser Weg aus der Gefangenschaft in die Freiheit. Der „Herzog“ führt uns dahin, den Tod zu ignorieren. Der Hoheitstitel „Herzog“ wird am Schluss des Predigtwortes durch „Hohepriester“ ersetzt. Worin ist er unser Hohepriester?  Die Väter und Mütter der Ordnung der Predigttexte verbanden diesen Text bewusst mit dem Gründonnerstag, dem Gedenken an die Stiftung des Heiligen Mahles.

Unser Hohepriester“ hat „in der Nacht, da er verraten ward“, einen Kultus gestiftet, der an die Stelle des Tempelkultus getreten ist. Er hat als Jude mit Juden das Passahmahl gefeiert und dieses Passahmahl nunmehr für das „Volk“ der Christen neu gestaltet. Er nennt dieses von ihm gestiftete Mahl den „Neuen Bund“, der den Sinaibund nicht aufhebt, ihm aber eine neue Dimension gibt. Der Hohepriester hat dies getan, er, der „treu“ ist und „barmherzig“.Treu und barmherzig sollen wir an seiner Seite auch werden. Treu darin, aus der Schrift immer und immer von neuem die Richtung unseres Denkens und Fühlens zu erhalten. Treu im Gebet, wo wir seine Nähe suchen und spüren. Treu, dass wir uns zu unserer Gemeinde halten. Treu zu unserer Familie. Treu in der Ausübung unserer Pflichten. Über allem aber steht die Barmherzigkeit. Barmherzig zu sein und voller Mitempfinden zu leben, soll unser erstes Erkennungszeichen in der Gemeinschaft und Gefolgschaft unseres Hohenpriesters Jesus Christus sein.

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