Wie ein Film läuft die Geschichte vor unseren Augen ab, wenn sie gelesen oder gehört wird. Drei Personen sind die Hauptdarsteller: Paulus, Silas und der Kerkermeister. Stellen wir diese drei jetzt vor unser inneres Auge.
I
Kerkermeister – ein leichtes Gruseln läuft einem bei diesem Wort über den Rücken. Kerkermeister ist nicht der Gefängniswärter, wie es in einer neueren Übersetzung zu finden ist, er ist Herr über ein zutiefst finsteres Reich. Die Kerker waren damals Orte voller Qualen, körperliche Strafe war normal, Gewalt selbstverständlich, Hungern bei Wasser und wenig Brot die Regel, feuchte und dunkle Verließe für die ausgelieferten Insassen. So wurde Strafe zur damaligen Zeit praktiziert wie leider zum Teil auch noch heute. Dem Kerkermeister unterstand dies alles, er hatte die Macht und den Auftrag von „oben“, den eigentlichen Machthabern, die ihn auch kontrollierten. Kontrollierte Brutalität.
Diesem System waren zwei Menschen, Paulus und Silas, ausgeliefert. Auf ihrer Missionsreise waren sie inzwischen sehr erfolgreich. Kurz vor den Ereignissen in Philippi gewann Paulus Lydia aus Thyatira, und in ihrem Haus entstand eine erste christliche Gemeinde auf europäischem Boden (Apostelgeschichte 16,14-15). Aber dann störte der Missionar die Geschäfte einiger einflussreichen Bürger. Er heilte eine Magd von einem Wahrsagegeist, die für die Männer, nicht die Magd, eine hervorragende Einnahmequelle mit der Wahrsagerei war (Apg 16,16-18). Was passiert? Hören wir aus dem unserem Predigttext vorangehenden Zusammenhang (Apg 16,19-22):
„Als aber ihre Herren sahen, dass damit ihre Hoffnung auf Gewinn ausgefahren war, ergriffen sie Paulus und Silas, schleppten sie auf den Markt vor die Oberen und führten sie den Stadtrichtern vor und sprachen: Diese Menschen bringen unsre Stadt in Aufruhr; sie sind Juden und verkünden Sitten, die wir weder annehmen noch einhalten dürfen, weil wir Römer sind. Und das Volk wandte sich gegen sie; und die Stadtrichter ließen ihnen die Kleider herunterreißen und befahlen, sie mit Stöcken zu schlagen“.
Hier muss ich stoppen. Kennen wir das nicht: ‚Das sind Juden, die sind anders!‘ Grund genug für Gewalt gegen die beiden Männer. Die gerade verstorbene, hochgeehrte Margot Friedländer würde vielleicht sagen: ‚Das sind Menschen, wir sind alle Menschen‘.
II
Zusammengeschlagen kommen Paulus und Silas ins tiefste Verließ, die Füße in einen Holzblock gequetscht, die Wunden unversorgt, die Qual geht weiter. Und was tun sie? Sie beteten und lobten Gott.
Beten in großer Not, das kennen wir. Wer hat nicht schon ein „Herr hilf mir“ gerufen, geschrien, wenn er verzweifelt war, nicht weiterwusste, die Lage aussichtslos erschien. Paulus und Silas „beteten um Mitternacht und lobten Gott“, ich stelle mir vor, dass sie auch sangen, offenbar so laut, dass es die Mitgefangenen hörten. „Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab.“ Mitten in der Nacht. Alle Türen springen auf. Die Fesseln fallen ab.
Paulus und Silas „beteten um Mitternacht und lobten Gott“. Die Kraft ihres Betens bewirkt einen Wandel im Geschehen. Aber mit keinem Wort teilt uns Lukas etwas von den Worten, den Inhalten ihrer Gebete und Lieder mit. Wir hören nur: Beten ist eine ganz eigene Kraft. Für uns ist es bitter zu wissen: Beten und Wünschen sind nicht deckungsgleich. Wir erinnern uns an Situationen, in denen wir von ganzem Herzen und mit großem Glauben beteten und doch einen bitteren Schicksalsschlag hinnehmen mussten.
Denkt Lukas, wenn er von einem großen Erdbeben mitten in der Nacht, vom Wanken der Gefängnismauern, vom Aufspringen der Türen und Abfallen der Fesseln erzählt, an die Kraft des Gebets in Wort, Lied und Musik, an die Antwort Gottes darauf, an Gottes Macht und Wunder? Türen springen auf. Neue Ausblicke sind möglich. Offene Wege, die niemand mehr versperrt.
Das Geschehen berührt die Mitgefangenen, sie werden innerlich frei von ihren Fesseln. Fesseln der Lieblosigkeit, der Menschenfeindlichkeit, der Unehrlichkeit und was es sonst noch an großen und kleinen Bösartigkeiten gibt. Die Bibel hat dafür das Wort Sünde.
III
Den Kerkermeister versetzt das Geschehen in hellen Aufruhr, denn ihn würde es wahrscheinlich das Leben kosten, wären Paulus und Silas verschwunden, egal unter welchen Umständen. Paulus und Silas bleiben, sie bleiben bei ihm, sie bewahren ihn vor einer tödlichen Kurzschlusshandlung. Sie haben ihm damit vorgelebt, was es bedeutet, an Jesus zu glauben, ein Anhänger von Jesus und seiner Lehre zu sein. Der Kerkermeister ist jetzt bereit zu hören, sich zu öffnen und aus innerster Bewegung zu fragen: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Martin Luther übersetzte, dass der Römer zum Glauben an Gott gekommen war; dieser freute sich darüber mit seinem ganzen Haus und lud Paulus und Silas zu einem festlichen Mahl ein.
Glauben / Vertrauen auf Gott und seine wunderwirkende Macht sind der Höhepunkt dieser filmreifen Erzählung des Lukas. Drei Menschen, die in diesem Vertrauen in die Gemeinschaft der vielen Menschen zusammengefunden haben, die von dieser Botschaft noch erreicht werden. Erreicht von Paulus und Silas damals, erreicht von jedem Gläubigen, jeder Vertrauenden heute, auch hier in der Simeonskapelle, erreicht von allen Getauften und doch sicher auch von allen Betenden. Mitten in der Nacht. Mauern fallen. Türen springen auf. Fesseln fallen ab. Darum: Kantate, wozu der Sonntagsname aufruft, "Cantate Domino" / "Singet Gott ein neues Lied, denn er tut Wunder".
Lied: "Ich sing dir mein Lied" (Wo wir dich loben, wachsem neue Lieder, 56)