Es gibt Worte, die zwiespältige Gefühle in uns auslösen. Zu ihnen gehören die Worte „der Prüfer“ oder „prüfen“. Nicht wenige Menschen befällt vor einer Prüfung eine „Prüfungsangst“. Kommt in einen Betrieb ein „Wirtschaftsprüfer“, löst das Beklemmungen aus. Mit dem Wort „Prüfung“ ist unterschwellig immer „Warnung“ verbunden. Wir kennen ja alle das Sprichwort: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich auch Herz zum Herzen findet.“ Gerade bei diesem Sprichwort wird nun aber deutlich, dass keiner von uns ohne „das Prüfen“ auskommt, will er nicht Fehlschläge hinnehmen, wenn nicht gar, auf eine Tragödie zusteuern. Im Predigttext geht es zentral um „das Prüfen“. Nach allgemeiner Anschauung handelt es sich bei dem Ersten Thessalonicherbrief um den ältesten Brief des Apostel Paulus an die älteste Gemeinde außerhalb Palästinas. In der Gemeinde der griechischen Metropole Thessaloniki gab es einmal Menschen, so heißt es, die anderen „vorstanden“ und sie unterwiesen. Eine Beauftragung dafür ist nicht erkennbar. Paulus schreibt, die Gemeinde solle sie „über die Maßen lieb haben“. Andererseits wirkten in den Gottesdiensten und Versammlungen „Propheten“. Prophetische Rede geschah, so weit wir es wissen, spontan, war aber keine Zungenrede, wo die Betroffenen unverständliche Laute von sich gaben. Nein, eine prophetische Rede geschah auch spontan, war vorher nicht angemeldet, enthielt aber eine klar verständliche Aussage. Offenbar gab es dagegen Vorbehalte, sonst müsste Paulus nicht schreiben: „Den Geist dämpfet nicht. Prophetische Rede verachtet nicht”. Es folgt, sozusagen auf dem Fuß das zentrale Wort des Textes: „Prüfet aber alles, das Gute behaltet”. Das heißt: Prüfet die Worte der Belehrenden, derer, die euch vorstehen, ebenso wie die Worte derer, die aufstehen und spontan sprechen. Prüfet die Worte, die in der Versammlung oder im Gottesdienst gesagt werden, seien sie vorbereitet vorgetragen oder überraschend geäußert.
„Prüfet aber alles, das Gute behaltet.“ Das war der Stein, den Paulus damals ins Meer warf und die Welle reicht bis heute. Paulus will keine unkritischen, allein auf Gehorsam ausgerichteten Menschen in der Gemeinde. Nein, „Prüfer” will er. Kritischer müssten sie sein, die Christinnen und Christen, so mag man in Abwandlung eines Nietzsche-Wortes sagen. „Prüfet aber alles, das Gute behaltet.“ Was ist das Gute? Die Frage ist schwerwiegend und nicht in der Kürze einer Predigt zu beantworten. Eine Hilfe soll das Prophetenwort aus Micha 6,8 geben. Hier heißt es: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: die Gnade Gottes lieben, nach dem Willen Gottes leben und demütig sein vor deinem Gott.“ Danach gilt für das Prüfen einer Predigt oder Rede: Macht sie mir die Gnade Gottes groß? Spornt sie mich an, den Willen Gottes zu tu? Hilft sie mir, die Demut vor Gott zu bewahren? „Gut“ ist, was mich dazu bringt. Eine Predigt kann poetisch verfasst, anschaulich erarbeitet und geschickt vorgetragen sein. Ist sie darum „gut“? Eine Predigt kann sich nachdrücklich der gesellschaftlichen Fragen annehmen und politische Brisanz haben. Ist sie darum „gut“? Eine Predigt kann persönliche Erfahrungen im Glauben und Erlebnisse eines bekennenden Christenlebens enthalten. Ist sie darum „gut“? Über die Zeiten gilt für die Beurteilung einer Predigt, von der Menschen „das Gute behalten“ sollen: Hat mich eine Predigt dazu gebracht, die Gnade und Liebe Gottes erneut zu sehen? Hat sie mich getrieben, aufzustehen und gegen Widerstände den Willen Gottes zu tun? Führte sie mich zurück zur Demut? Dann war sie „gut“. Das ist der Maßstab.
Wenn die Christin / der Christ in Thessaloniki den Gottesdienst oder die Versammlung verließ, hat sie / er, so muss man wohl annehmen, diese Haltung des kritischen Blickes nicht hinter sich gelassen hat. Wie der Professor für Neues Testament, Albrecht Oepke, feststellte, wird man davon ausgehen, dass dieses „Prüfet aber alles, das Gute behaltet“ auch außerhalb des kirchlichen Raumes galt. Damit erhält das Bibelwort aber noch eine ganz andere Färbung. Prüfet aber alles! Das hieß dann: Prüfet, was ihr in der Metropole Thessaloniki an Schriften in euren Bibliotheken lest. Urteilt über das, was ihr im Theater der Stadt an Schauspielen erlebt. Schaut auf die Kunstwerke eurer Bildenden Künstler und prüfet ihre Botschaft. Der Horizont wird durch dieses „Prüfet alles“ bei den Thessalonichern hell und weit gemacht. Später wird Paulus in seinem Brief an die Philipper schreiben: „Was wahrhaftig ist, was ehrbar ist, was gerecht ist, was rein ist, was lieblich ist, was wohl lautet … dem denket nach!“ Hier wird noch einmal unterstrichen, was Paulus im 1. Thessalonicherbrief bereits sagt: Öffnet euch gegenüber der Kunst und Kultur, der Politik und Philosophie, der Wissenschaft und Weisheit. „Prüfet aber alles!” Das meint: Seid aufgeschlossene Menschen!
Ein Vorbild für diese Verbundenheit von Schrift und Kultur war Georg Spalatin. Er lebte von 1484 bis 1545. In diesem Jahr wäre sein 430. Geburtstag. Spalatin war, ein wenig im Schatten Luthers und Melanchthons stehend, dennoch eine überragende Gestalt der Reformation. Als Seelsorger Kurfürst Friedrich des Weisen war er gleichzeitig der Vermittler zwischen Luther und dem Kurfürsten. Da er eine weitreichende Kenntnis der Politik seiner Zeit besaß, begleitete er den Kurfürsten als Berater zu den Reichstagen nach Augsburg, Worms und Nürnberg sowie zur Kaiserwahl nach Frankfurt und zur Krönung Karls V. nach Köln. Er erforschte die sächsische Geschichte und schrieb ein Werk über die Päpste. Hatte er Zeit und Muße, verfasste er Gedichte. Spalatin hat damals – neben dem manchmal einzig und allein auf die Schrift ausgerichteten Martin Luther – vorgelebt, was Paulus nach Thessalonikí schrieb, einerseits die Auslegung der Schrift zu prüfen und daraus zu leben, aber andererseits in der Kultur im weitesten Sinn zu stehen und ihre Botschaft zu prüfen. (Zu Georg Spalatin u.a. Friedrich Bartsch (Hg.), Das Bildnis des evangelsichen Menschen, Berlin 1960, S.26)
Der Predigttext schließt mit einem Gebetswunsch: „Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt …“
Vielleicht hat sich Paulus bei diesen Worten an den Propheten Jesaja erinnert. Jesaja wurde in den himmlischen Tempel Gottes versetzt und spürte nichts als die gewaltige Heiligkeit Gottes. Wie wohl kein anderer Mensch hat er den drückenden Abstand zwischen Mensch und Gott empfunden. Gott sandte einen Engel zu ihm, der mit glühenden Kohlen seine Zunge berührte und Jesaja zum Propheten berief und befähigte. „Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch an Geist, Seele und Leib.“ Wenn Gott „heiligt“, dann, siehe Jesaja, verbrennt im Menschen etwas und das ist das Gefühl seiner Unvollkommenheit und Schwäche, eine Ohnmacht, in der einer sagt: „Ich kann es sowieso nicht. Ich habe mich in meinem Prüfen so oft fehl gelegen.“ „Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt …“ Paulus wünscht und betet, dass uns bei allem Prüfen, bei dem wir auch ungezählte Male irren, der „Gott des Friedens“ anrührt und wir etwas empfangen, das wir uns selbst nicht geben können: einen Frieden, der unsere Schwachheit niederbrennt und Stärke in uns einziehen lässt.