Ja, was denn nun? Sollen wir uns in der Gemeinde einander unterordnen? Die Gemeindeglieder unter den Pfarrer oder die Pfarrerin? Die Jüngeren unter die Älteren? Oder sind wir ebenbürtig? Gleichberechtigt? Einander Hirten und einander Priester?
Hier – in Kapitel 5 – schreibt der Verfasser des Petrusbriefes, die Gemeinde soll demütig sein gegenüber den Ältesten – also den Kirchenvorstehern – und den Hirten der Gemeinde – also den Pfarrern. Und nur 3 Kapitel vorher schreibt er genau das Gegenteil: Er rühmt die Gemeinde als eine Priesterschaft aller Gläubigen. Einer ist dem anderen Hirte: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht; die ihr einst »nicht ein Volk« wart, nun aber »Gottes Volk« seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.
Ja, was denn nun? Wie sollen wir leben? Wie soll unsere Gemeinde aussehen? Wenn so genannte Laien, also ganz normale Christenmenschen, und Fachleute der Theologie zusammenkommen, sei es zu einem Gesprächsabend in der Kirchengemeinde oder zu einem Seminarwochenende zu Themen des christlichen Glaubens, sei es zu einer Mitarbeiterbesprechung oder zu einem Predigtnachgespräch, kommt es nicht selten zu einem erstaunlichen Phänomen: Die Laien tragen oftmals ein Minderwertigkeitsgefühl mit sich herum, das ihnen hin und wieder – um nicht zu sagen: fast immer – den Mund verschließt. Das Wissen, kein Fachmann oder keine Fachfrau zu sein, nimmt vielen den Mut, das zu sagen, was sie denken, und das zu fragen, was sie nicht verstehen. Diese Scheu äußert sich in Gesprächen dann entweder in bescheidenem Schweigen oder in der allseits bekannten Formulierung, die so mancher Wortmeldung quasi entschuldigend vorangeht: „Also, ich bin ja nur Laie, dennoch möchte ich sagen …“ Was sie dann sagen, ist alles andere als unwissend oder ungebildet, spricht vielmehr meist von tiefen eigenen Glaubens- und Lebenserfahrungen oder auch von Glaubensnöten.
Bei vielen theologischen Fachleuten sieht es gerade umgekehrt aus. In unseren Köpfen und Herzen ist oft soviel Wissen, soviel Hintergrundinformation, soviel theologisches Denkschema, dass es uns manchmal schwerfällt, ganz einfach, menschlich und ohne unser „Bücherwissen“ zu empfinden und zu denken. Vielmehr fallen uns dann Vertreter bestimmter theologischer Denkrichtungen und Schulen ein, eindrückliche Zitate großer Theologen oder passende Gedanken aus der Bibel ein – wir selbst bleiben aber oft im Hintergrund. Noch dazu verwenden wir Theologen eine Sprache, die zwangsläufig eine Fachsprache ist, die aber nur allzuoft einhergeht mit einer Armut an eigener, menschlicher Erfahrung und deren eigenständigem Durchdenken. In besagten Gesprächen zwischen den sogenannten Laien und uns Pfarrern äußerst sich diese Hilflosigkeit dann auch häufig in der gutgemeinten Wendung: „Also, ich versuche es jetzt einmal ganz einfach auszudrücken …“ Selbst wenn dann ausgezeichnete und hilfreiche theologische Antworten kommen, bleiben sie dennoch nicht selten schwer verständlich und fern der Gedanken- und Erlebniswelt eines Laien.
Dabei brauchen wir einander ganz dringend. Im Herzen eines Christen, der im Alltag Christ zu sein versucht in seiner Lebenseinstellung, in seinen Gebeten, in dem, was er tut; der sich aber an schweren Lebenserfahrungen reibt, die augenscheinlich der Botschaft vom liebenden, guten Gott widersprechen; der an Ungerechtigkeiten und Katastrophen im Weltgefüge leidet, die den Glauben an einen schützenden und bewahrenden Gott in Frage stellen; der dann noch stolpert über Widersprüche und Spannungen innerhalb der biblischen Schriften – im Herzen eines solchen Christen ruft es laut: „Hilf mir, Theologe! Du hast es doch studiert. Kannst du mir eine Antwort geben?“
Umgekehrt ist es genauso. Wir Theologen, die wir inmitten seiner reichhaltig bestückten Bibliothek sitzen und nach Gedanken und Worten ringen für eine menschennahe Predigt, einen ansprechenden Artikel im Gemeindeblatt oder einen gut verständlichen Vortrag im Seniorenkreis, wir auch einen Hilferuf in uns an die, die unsere Predigthörer sind und unsere Leser: „Hilf mir, du Christ im Alltag! Wo sind deine Fragen? Was ist deine Lebens- und Glaubenserfahrung? Wo kann ich das, was ich gelernt habe, einsetzen, damit es dir und mir hilft? Welche Sprache muss ich sprechen, damit wir einander erreichen?“
Ist es nicht eigentlich so, dass jeder Laie zugleich Theologe ist? Und sollte nicht jeder Theologe in seinem Herzen ein Laie sein? Genau das meint der Verfasser des Petrusbriefs: Wir sind einander Hirten und Seelsorger und Prediger. Einer dem anderen. Und keiner steht über dem anderen. Denn es gibt Situationen, in denen der eine den anderen führt wie ein Hirte und ihm den Weg zeigt – und kurze Zeit später kann es genau andersherum sein: der, der eben noch der Starke war, braucht Geborgenheit und Schutz, Rat oder Ermahnung. Gerade darum ist die Demut so wichtig. Eines verbindet uns beide, Laien und Fachleute, genauso fest miteinander wie unser Bemühen um einen tragfähigen Glauben: unsere Not mit unserer Kirche und ihrer schwindenden Bedeutung in unserer Zeit.
Wer sich im Austausch mit Freunden oder Bekannten, im Gespräch mit der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz offen dazu bekennt, dass er sich zur Kirche hält, dem bläst nicht selten ein steifer Wind ins Gesicht. Er bekommt so mancherlei zu hören: Witzeleien über den „Draht nach oben“, Spott und harte Urteile über die, „die dauernd in die Kirche rennen und trotzdem nicht besser seien als die anderen“, leiser Hohn über das Verhalten von Pfarrern und Pfarrerinnen, offene Infragestellung unserer Glaubensinhalte, harsche Kritik an den öffentlichen Verlautbarungen der Kirche – dem einen sind sie zu progressiv, dem anderen zu konservativ – oder schlichtes Desinteresse an den für uns lebenswichtigen und zukunftsweisenden Anliegen der christlichen Botschaft. Da fühlt sich nicht nur mancher sensible Pfarrer und manche Pfarrerin mit dem Rücken an der Wand, sondern auch so manches mutige Gemeindeglied. Wir fühlen uns in die unangenehme Lage versetzt, einzustehen für unsere Kirche, die wir trotz ihrer Fehler lieben und für nötig halten, und sie zu verteidigen gegen unberechtigte Kritik und pauschale Aburteilung.
Das verbindet uns: Unsere Liebe zur Kirche. Und so miteinander zu leben, wie es der Verfasser des Petrusbriefs es sich vorstellt, heißt – mit dem Bild dieses Sonntags zu sprechen – wir sollen miteinander leben wie Schafe in einer Herde – zugleich uns aber auch gegenseitig Hirten sein. Hirte sein heißt: Vorbild sein. Gibt es sie noch – die guten Hirten? Hat unser Land noch Vorbilder? Auch Pastorinnen und Pastoren sind keine Heiligen – sondern sie sind „allzumal Sünder”. Ja, es menschelt auch unter den „Hirten” und das ist auch gut so, denn nur so sind sie ihrer Botschaft auch treu, von dem von Gott angenommenen Menschen, der nur durch Gnade, nicht durch frommes Getue oder sichtbares Vorbild vor Gott etwas zählt. Ja, vielleicht zählt gerade das – vor der Gemeinde und vor Gott: Dass ich mit meinen Schattenseiten auch umgehen kann, dass ich ehrlich und offen bin und sie nicht unter dem weiten Mantel des guten Hirten verberge.
Für mich ist darin Margot Käßmann, die langjährige Bischöfin der Hannoverschen Landeskirche, zum Vorbild geworden. Als Bischöfin hat sie ihre Herde mit vielen neuen Ideen geweidet, inspiriert und auf saft-grüne Wiesen geführt. Als sie im Frühjahr 2010 mit ihrem Dienstwagen unter Alkoholeinfluss bei Rot über eine Ampel gefahren ist und dabei von der Polizei gestoppt wurde, waren viele schockiert – auch ich. Und viele waren enttäuscht, auch als sie nach kurzer Zeit nach dem Vorfall ihren Rücktritt erklärte. Sie hätte leicht darauf verweisen können, dass ihr Vergehen rechtlich geahndet wird – und das wäre es gewesen. Sie hätte auch biblisch argumentieren können, sogar mit Jesu Worten: „Wer ohne euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!” Nein, sie hat ihre Konsequenzen gezogen, weil sie gradlinig bleiben wollte. Sie hätte mit Scheinheiligkeit und mit angekratztem Image weitermachen können. Sie hat es nicht getan, wie manch einer von „denen da oben”, die scheinbar nach ihrer eigenen Moral leben. Und deshalb wurde sie auch darin noch zum Vorbild – nun für den Umgang mit Fehlern und Missständen, nicht nur in der Kirche. Und für auch für sie war letzter Halt und tiefstes Vertrauen im freien Fall von der Karriereleiter: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand!“
Das ist die Grundbotschaft des Evangeliums, dass Gott mich mit allen Licht- und Schattenseiten annimmt, mit dem, was mir gelingt, was ich an guten Gaben und Begabungen mit einbringen kann, aber auch mit dem, was den Umgang schwierig macht, was quer liegt, was mir und Gott und anderen Mühe macht. Wir brauchen kein Idealbild, dem wir hinterherrennen, sondern wir brauchen eine Ehrlichkeit im Umgang miteinander. Und wer ehrlich ist, kann auch Verantwortung übernehmen. Für seine Schwachstellen, für Fehler und Macken. Aber auch für andere. Und das gilt für die Pfarrer und Pfarrerinnen genauso wie für alle Mitglieder unserer Kirchengemeinden.
Schaf in einer Herde sein, heißt: geborgen sein. Natürlich will keiner ein dummes Schaf sein oder ein wehrloses Lamm. Aber das meint dieses Bild auch nicht. Ich erinnere mich noch an eine kleine Begebenheit in meiner frühen Zeit als junge Pfarrerin im Vogelsberg. An unserem Pfarrhaus war eine riesengroße Wiese, die zu mähen sehr mühevoll war. Also sprach ich mit einem Nachbarn und erzählte ihm von meiner Idee, ob ich uns nicht ein Schaf anschaffen sollte, das die Wiese abfressen und sich dort wohl fühlen könnte. In der unnachahmlichen wortreichen Art der oberhessischen Bauern antwortete mir der Nachbar: „Nein!“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen: „Warum nicht?“ fragte ich ratlos. Dann rückte er mit der Sprache heraus: Kein Schaf kann alleine leben. Deshalb würde nur ein Schaf eingehen. Es müssen mindestens zwei sein. Das hatte ich als Stadtpflanze zum allerersten Mal gehört. Und wie schön passt diese Tatsache zu uns als Gemeinde: Alleine würden wir als Christen eingehen. Wir brauchen einander. Wo zwei oder drei in Jesu Namen zusammen sind, da ist er mitten unter uns.
Mit vielen anderen in einer Herde sein, heißt sich gegenseitig wärmen, Zusammengehörigkeitsgefühl empfinden. Ein gemeinsames Ziel haben, für das sich zu leben lohnt. Zu einem solchen Zusammengehörigkeitsgefühl will uns unser Sonntag heute ermutigen – und dazu, einander Hirten und Vorbilder zu sein. Wenn uns das gelingt – hier in der Friedrichsgemeinde, dann würden wir den Willen Jesu erfüllen.