Am Rockzipfel eines Rabbiners
Aufmerksam, neugierig lese ich Sacharja.Die Völker kommen! Mit einer Selbstverständlichkeit, die mich verblüfft. Keine Rückfragen? Keine Einwände? Wie gerne würde ich ihm, Sacharja, dem kleinen Propheten, zuhören. Von Israel ist aktuell ständig die Rede. Das Land im Nahen Osten ist fast täglich in den Schlagzeilen – und kommt nicht zur Ruhe. Rockzipfel für andere Menschen, für andere Völker?
Es wird erbittert gekämpft im Nahen Osten. Mit Waffen, Vorurteilen, Nachreden und Geschichtsklitterungen. Daran sind viele Menschen beteiligt. Unterschiedliche Geschichten. Abgründe öffnen ihre Schlünde. Welten stoßen aufeinander. Der Antisemitismus findet neue Anhänger und mobilisiert alte. Das Geflecht zu entwirren, eine Ruhe in die aufgeheizten Debatten zu bringen, eine gemeinsame Hoffnungsgeschichte zu suchen – alles weit weg. Und Sacharja erzählt, dass die Völker kommen. Um eine neue Zukunft zu bekommen. Um Gott zu finden. Und: Israel…
Heute müssen wir darüber reden. Wir haben den 10. Sonntag nach Trinitatis. Es ist im Kirchenjahr dersogenannte Israelsonntag. Über lange Zeit wurde an diesem Sonntag das Vorurteil geradezu gefeiert, Gott habe sein Volk aufgegeben, weil es – Jesus verworfen habe. Die Zerstörung des Tempels 70 Jahre nach Christi Geburt durch die römische Besatzungsmacht in Jerusalem wurde antijüdisch interpretiert, instrumentalisiert und in immer neuen Wendungen aktualisiert. Sie sind schuld! Irgendwann waren sie schuld an allem. Die Juden! Eine unheilvolle Geschichte. Die Kirche hat Israel, damals noch kein Land am Meer, enterbt, von sich aus, und sich alle Ehrentitel angeeignet, die Gott seinem Volk gegeben hat. Der Antisemitismus konnte auf kirchlichen Böden sprießen und die Blumen des Bösen hervorbringen. Millionen Juden haben das mit der Vernichtung bezahlt. Die Todesmaschinerien liefen in unserem so hoch aufgeladenen christlich-jüdischen Abendland auf Hochtouren. Erzählt wurde, die Menschheit müsse gerettet werden, und geglaubt haben es viele. Ein großes Schweigen hatte sich ausgebreitet.
Nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust haben Christen angefangen, sich ihrer Schuld zu stellen und Israel zu entdecken. An vielen Stellen wurden Neuaufbrüche versucht. Jüdische Gesprächspartner waren nach den Vernichtungskampagnen oft nicht mehr da, fanden sich aber. Viele von ihnen hatten ihre Hände zur Versöhnung gereicht. Beim Apostel Paulus haben Christen gelernt, dass Israel Gottes geliebtes Volk bleibt („sein Augapfel“) und wir– um Christi willen – in Gottes Bund hineingenommen, in seine Liebegeschichte verwickelt, in seine Hoffnungsgeschichte einbezogen werden. Wir bleiben die Nachgeborenen – die Erstgeborenen sind die Juden, sie sind Gottes Volk. Gott wird für sie kämpfen. Das heißt: Israel. Wörtlich.
Ich kann mich an eine Begebenheit erinnern. In Aachen fand – es sind jetzt an die 40 Jahre zurück - eine Tagung statt mit einem Rabbiner, Professor Salman Schachter, in der Bischöflichen Akademie. Es waren aufregende Zeiten für Christen, die ihre Wurzeln suchten – und im Gespräch mit jüdischen Menschen fanden. Es war ein Sabbat, ein siebter Tag. Der Tag, an dem Gott selbst ruhte und seine Schöpfung in ihrer Schönheit und Würde betrachtete. Der Rabbi, in einem weiten Mantel gehüllt, die breite Pelzmütze einer Rabbiners auf dem Kopf, zog schnellen Schrittes von der Akademie zur Synagoge – und wir hinter ihm her. 15 Minuten Weg – mehr war es nicht. An den Ampeln mussten wir stehen bleiben. Wir und die anderen, die staunend auf diesen Menschen schauten. Der Rabbi verbreitete um sich eine Atmosphäre der Sabbatruhe, die mitten in der Stadt – für uns war es ein normaler Samstag – nirgendwo sonst zu finden war. In der Synagoge legte der gelehrte Rabbi, der in Deutschland geboren, aus Deutschland geflohen war und jetzt in den Vereinigten Staaten eine Professur hatte, die Tora, die Heilige Schrift, aus. Was er sagte, weiß ich nicht mehr. Aber es war ein Erlebnis, das mir bis heute nahe geht.
Wir waren mehr als zehn Menschen, aber wir hatten uns an den Rockzipfel eines Rabbiners gehalten. Wenn jetzt auch nicht im wörtlichen Sinn. Wir konnten sogar sein Tempo halten! Sacharja hat, ohne es zu wissen, uns ein Bild geschenkt: Wir waren damals, an einem Tag, tatsächlich an den Rockzipfeln eines jüdischen Menschen, feierten mit ihm Gottesdienst und entdeckten, dass wir eine gemeinsame Schrift, eine gemeinsame Hoffnung, eine gemeinsame Liebesgeschichte haben.
„So spricht der Herr Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“
Am Rockzipfel hängen
Am Rockzipfel hängen … Es ist lange her, dass ich das tat. Den Rockzipfel meiner Mutter, meines Vaters spüre ich manchmal noch in meiner Hand. Als Vater habe ich es auch erlebt, wie sich eine kleine Hand an mir festhielt. Gelegentlich wurde es lästig. Du hast doch eigene Beine, hörte ich mich sagen. Aber: die Geborgenheit und Nähe am Rockzipfel ist durch nichts zu übertreffen. Wenn man schon auf eigenen Füßen stehen und gehen muss. Es gibt dann keine Distanz, keine Trennung – am Rockzipfel sind alle Wege sicher. Ein bisschen Symbiose. Bei Müdigkeit stellt sich Leichtigkeit ein, bei Angst das Gefühl, nicht alleine zu sein.
Am Rockzipfel hängen ... Vorgesetzte lieben es gar nicht, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch nicht. Politiker, Pfarrer und Pfarrerinnen? Bis auf, na ja, die Leute, die gerne Gefolgschaft fordern und Gefolgschaft suchen. Da können die Rockzipfel nicht lange genug und dick sein! Dann steht der Rockzipfel für Abhängigkeit. Meinetwegen auch für Bequemlichkeit. Nur: von Rockzipfel redet dann kein Mensch. Eigentlich ist der Rockzipfel Kindern vorbehalten. Wobei die großen Kinder den Rockzipfel eher schon meiden. Ehrenrührig, an einem Rockzipfel zu hängen. Dass Verliebte sich an einem Rockzipfel festhalten, sagen wir auch nicht. So unwichtig ist es nicht, die kindliche Perspektive einzunehmen!
Schauen wir in die Wörterbücher, finden wir nicht nur die Besonderheit des deutschen Wortes „Rockzipfel“, sondern auch die Beschreibungen, die Geborgenheit, Nähe, Vertrauen, Schutz aussagen und hervorheben. Beispiele dafür finden wir in alten und neuen Büchern. Sogar in Kinderbüchern. Dabei ist der Rockzipfel – als Wort – die Zusammensetzung von „Rock“ und „Zipfel“. Ich muss nicht den ganzen Rock, das ganze Gewand festhalten – ein Zipfel reicht und steht für einen Menschen, der mit mir geht, an dem ich mich festhalten kann, der mir nahe ist. Was mit Rockzipfel gemeint ist, unterscheidet sich auch sehr von „zu Füßen werfen“ oder „die Füße küssen“. Unterwürfigkeit ist mit dem Rockzipfel nicht zu haben. Die Würde eines Rockes wird gewahrt, die Würde eines Zipfels auch – und dann auch die Würde der Hand, auch der kleinen! Rockzipfel ist ein so schönes Wort. Man kann es malen, man kann es fotografieren – man kann ihn spüren. Den Rockzipfel. Es ist lange her, dass ich das tat. Den Rockzipfel meiner Mutter, meines Vaters spüre ich manchmal noch in meiner Hand. Als Vater habe ich es auch erlebt, wie sich eine kleine Hand an mir festhielt. Im Nachhinein: ein Traum!
Am Rockzipfel gehen
Martin Luther hat, nach dem großen Ereignis der Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg, sich daran gemacht, auch das Alte Testament zu übersetzen. Er schaute dem Volk aufs Maul– und fand so die schönsten Worte für seine Übersetzungsversuche, die er im kleinen Kreis besprach und an denen er immer weiter feilte. So kam der „Rockzipfel“ zu der Ehre, ein richtig wichtiges und schönes Wort in der Bibel zu werden!
„So spricht der Herr Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“
Auf dem ersten Blick gibt es einen Rockzipfel – eines jüdischen Menschen – und zehn Menschen, die sich daran hängen. Die Erklärung folgt auf dem Fuße – oder hängt an den Fäden: Wir haben gehört, dass Gott mit euch ist! Wozu ist da der Rockzipfel gut? Für einen Weg, der durch unwirtliches, fremdes Gelände führt? Für eine Hoffnung, die nur gemeinsam zu entdecken, gemeinsam zu finden ist? Und dann gleich zehn Männer, die sich an den Rockzipfel hängen? Von Männern ist die Rede, aber Menschen sind gemeint.
Dass Männer einmal den Ton angaben (und das manchmal auch heute noch wollen), macht die Szene noch schöner: Männer, die sich festhalten, die sich führen lassen, die „einfach“ folgen – und gehen. Männer, die klein sein können. Männer, die Schutz suchen. Männer, die nicht alles wissen, nicht alles beherrschen. Eine gewisse Ironie ist da vielleicht fein versteckt. Brisant aber ist, dass es zehn Menschen aus allen Sprachen der Völker sind, die sich an einen (!) jüdischen Menschen hängen! Ob sich die zehn kennen? Vorher? Nachher? Und sind zehn dann nicht sogar zu wenig – wo es doch so viele Sprachen und Völker gibt? Die Zahl 10 reicht nicht einmal aus, die orientalischen Völker zu zählen. Die Frage, wer dann wichtiger ist in einer Zehnerreihe, ist nicht einmal gestellt. Nicht auszudenken, wenn sich die Zehn erst prügeln müssen, um sich den richtigen Platz zu nehmen. Das Bild übt auf mich gleichwohl eine ungeheure Wirkung aus. Ich sehe sie gehen, die Zehn – und vorneweg ein Rockzipfel.
Ist das Gewirr jetzt komplett? Mitnichten. Sondern der jüdische Mensch und die zehn anderen aus allen Völkern und Sprachen gehen gemeinsam - zu Gott. Zu dem einen Gott! Zu dem einen Gott, der die Welt schafft, ihr eine gute Ordnung für alle Zeiten gibt, sie in seiner Barmherzigkeit birgt. In Wirklichkeit hängen wir doch alle an seinem – Rockzipfel. Schutzsuchend- aber dann auch mutig, neugierig und verwegen. Nur: die zehn Rockzipfler sagen, was der eine, an dem sie sich hängen, schon weiß: „dass Gott mit euch ist.“ Diese Entdeckung hört sich zauberhaft an, was daraus folgt, könnte die ganze Welt verändern. Würde mich das glücklich machen? „Dass Gott mit euch ist“.
Was da in einem Satz gesagt wird, ist paradiesisch schön – und bringt uns zugleich auf die Palme: Einem jüdischen Menschen hinterherlaufen? Und dann auch noch im Pulk? Und keiner kennt sich? Die vielen Sprachen, Geschichten, Interpretationen – auf einmal einträchtig beieinander? Ja! Ja, weil wir gemeinsam Gott suchen!
Damit uns jetzt nicht zu viele Missverständnisse auf die Füße fallen: Sacharja, der „kleine“ Prophet, hat in einer großen Predigt Israel – das ist, bitte, nicht das Israel von heute – auf das Wichtige und Zentrale hingewiesen: „Doch liebt Wahrheit und Friede“. Spannend: Führt uns ein Rockzipfel dahin? Ist der Rockzipfel gar ein Bild für Wahrheit und Friede? Grandios, was ein Rockzipfel so zu bewirken vermag! Dass zehn – und mehr – Menschen mit den vielen Sprachen, Nationalitäten und Pässen sich an einen Menschen hängen, der den Weg zu Gott, zu Wahrheit und Friede kennt – und der Überraschung einen Raum gibt: dass Gott mit euch, dass Gott mit uns ist. Ein Stück Weltgeschichte. In einer anderen, neuen Perspektive! „So spricht der Herr Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“
Den Rockzipfel finden
Sacharja, der diese bemerkenswerte Szene vorzeichnet, gehört zu den – sogenannten – 12 kleinen Propheten und ist unter ihnen doch ein großer. Er soll in der Perserzeit seine Predigten gehalten haben. Dass es aufregende (oder schwierige) Zeiten waren, vermuten Sie schon – ich muss das alles nicht erzählen. Israel, Gottes Volk, bekommt nach langer, harter Zeit wieder eine Hoffnung. Eine Hoffnung, die so groß ist, dass sie für ein Volk zu viel ist – die ganze Welt, alle Völker, sollen daran teilhaben. Die Hoffnung wächst über sich hinaus. Die Hoffnung ist mit der Unendlichkeit verschwistert. Das ist so überzeugend, dass diese Zehn, von denen der Prophet spricht, nicht gelockt, angeworben oder gar bezahlt werden müssen: sie kommen. Von sich aus. Der Gott Israels hat so viel zu sagen, dass die vielen anderen Denkrichtungen, Überlieferungen, Traditionen gar nicht anders können, als sich an den Rockzipfel zu hängen. Der Rockzipfel steht für einen Aufbruch, der eine neue Zukunft für alle Menschen kennt.
Aufregend bleibt tatsächlich, dass hier ein jüdischer Mensch den Rock trägt, der für eine neue Welt steht, der eine neue Zeit sichtbar macht. Ein neuer Rock sozusagen, nachdem der alte tatsächlich von Motten zerfressen wurde. Dieser jüdische Mensch musste selbst erst zurückfinden! Israel musste selbst erst wieder werden, was es sein sollte. Sacharja erzählt die Geschichte von Verlorenheit, in die Menschen geraten. Auch das Volk Gottes. Auch Israel. Das alte wie das neue.
Originalton Sacharja (Sacharja 8,13.16): „Und es soll geschehen: Wie ihr vom Hause Juda und vom Haus Israel ein Fluch gewesen seid unter den Heiden, so will ich euch erlösen, dass ihr ein Segen sein sollt. Fürchtet euch nur nicht und stärkt eure Hände! Rede einer mit dem anderen Wahrheit und richtet recht, schafft Frieden in euren Toren, und keiner ersinne Arges in seinem Herzen gegen seinen Nächsten, und liebt nicht falsche Eide, denn das alles hasse ich, spricht der Herr.“
Der Himmel hat Rockzipfel
Sacharja kommt übrigens aus einer Priesterfamilie – oder Priesterdynastie. Sein Name heißt, übersetzt: Gott hat (sich) erinnert, Gott gedenkt. Der Lieblingsort Sacharjas war der Tempel. Sein Sehnsuchtsort auch. Nur: Der Tempel, von dem man in seiner Familie erzählte, war von den Babyloniern abgebrannt und in Schutt und Asche gelegt worden. Das Haus, in dem der Name Gottes wohnte. Sacharjas Traum: Ein neuer Tempel. Ob ich ihn jetzt so ganz richtig verstehe, weiß ich nicht, aber der neue Tempel sollte nicht nur das Haus Gottes, sondern Haus für alle Völker werden.
„So spricht der Herr Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte, und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den Herrn anzuflehen und zu suchen den Herrn Zebaoth; wir wollen mit euch gehen. 22So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den Herrn Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den Herrn anzuflehen.“
Aufmerksam, neugierig lese ich Sacharja.Die Völker kommen! Mit einer Selbstverständlichkeit, die mich verblüfft. Keine Rückfragen? Keine Einwände? Wie gerne würde ich ihm, Sacharja, dem kleinen Propheten, zuhören. Und wie gerne würde ich mit ihm träumen, mit ihm warten, mit ihm kämpfen. Noch einmal: Sacharja’s Vision:
"Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf dem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen wegtun aus Ephraim und die Rosse aus Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum anderen und vom Strom bis an die Enden der Erde". Den Rockzipfel suche ich!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.