An Pfingsten finden sie ihre Sprache wieder
Pfingsten - ein Fest der Freude und des Neubeginns, das Fest des großen Aufbruchs, den der Heilige Geist in Gang setzt
Predigttext: Römer 8,1-2(3-9)10-11 ( Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. (...) Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.
Am meisten fällt es mir in der Straßenbahn oder im Zug auf: Es kann noch so voll sein, alle Passagiere geben sich die größte Mühe, aneinander vorbei zu schauen. Angestrengt versuchen sie, sich gegenseitig nicht wahrzunehmen. Sie schauen einander nicht an. Wenn sie ihr Gegenüber mit einem Blick bedenken, so werfen sie nur verstohlene Blicke auf die anderen, die niemand sonst wahrnehmen soll. Denn wenn sich die Blicke treffen würden, dann könnte ja etwas passieren, was einem die Bahnfahrt von der Arbeit oder der Schule nach Hause verleidet. Es könnte etwas passieren, was den geregelten Tagesablauf durcheinander bringt, eine Provokation, ein Gespräch, vielleicht sogar ein Streit, aber selbstverständlich auch ein interessantes Gespräch. Die meisten Menschen umgeben ihren täglichen Lebenslauf darum mit einer Schutzhülle aus Gleichgültigkeit, damit sie nicht so leicht aus dem Tritt gebracht werden können: lieber einen Blick zu wenig als ein Gespräch zu viel. Und das ist gar nicht schlimm, ich finde es verständlich und normal. Ich erzähle deshalb davon, weil es zeigt, daß Menschen im Alltag, während der Bahnfahrt, am Arbeitsplatz oder beim Shopping im Kaufhaus einer Vielzahl von sozialen und psychologischen Kräften ausgesetzt sind.
Die eine Sorte von Kräfte zieht an, übt eine magische Sogwirkung aus, die andere stößt ab. Besonders starken Kräften kann sich niemand entziehen, andere wirken nicht so stark, weswegen viele Menschen sie gar nicht erst spüren oder zumindest nicht wissen, was mit ihnen geschieht. Moden, Parteien, Filmstars können solch eine Anziehungskraft ausüben, aber auch Gegenstände wie die kleinen Elektronikgeräte mit dem Apfel, oder Turnschuhe mit Streifen. Diese Kräfte verbinden sich mit Gefühlen, was ihre Wirkung in alle möglichen Richtungen enorm verstärken kann. Jeder, der mit wachen Augen durchs Leben geht, bemerkt solche Kräfte mit allen Sinnen, wenn er die Zeitung liest, wenn er abends am Fernseher sitzt oder wenn er durch eine Fußgängerzone oder durch ein Einkaufszentrum geht. Manchmal ist es schwer, sich solchen Kräften zu entziehen, manchmal bemerkt man sie gar nicht, manchmal bemerkt man sie sehr wohl bei anderen und schüttelt darüber nur den Kopf. Erstaunlich, wofür sich andere Menschen begeistern können: für den Fußballverein mit den gelben Leibchen, für die Modekette mit den braunen Einkaufstüten und anderes mehr. Wie gesagt, ich möchte das gar nicht verurteilen, ich möchte nur sichtbar machen: Niemand geht durch sein Leben, ohne daß solche Kräfte auf ihn einwirken. Manchmal gibt er diesen Kräften nach, manchmal entfalten sie ihre Wirkung nicht. Das ist alles eine Frage der Haltung und der Einstellung, mit der jemand solchen unsichtbaren Wirkungen gelassen oder aufgeregt begegnet.
Solche Kräfte, denen wir nachgeben oder die wir abwehren, wirken nicht nur im Bereich des Sports, der Mode und des Einkaufens. Sie wirken auch im Bereich des Glaubens. Und davon erzählt Paulus. Alle diese Kräfte, die geistlichen und die nicht ganz so geistlichen, haben gemeinsam, daß sie in Gemeinschaft von Menschen besonders gut übertragen werden. Gefühle wie Begeisterung und Abneigung pflanzen sich besonders gut durch Weitererzählen fort. Das nachzuahmen, was die anderen auch machen, stiftet Gemeinschaft. Paulus sagt: Die Kraft des Glaubens ist der Heilige Geist. Und das feiern wir an Pfingsten. Darum rede ich jetzt nicht mehr von den vielen anderen Kräften, die unser Leben auch bestimmen.
An Pfingsten feiern wir die Glaubenskraft des Heiligen Geistes. Pfingsten ist ein Fest der Freude und des Neubeginns, das Fest des großen Aufbruchs, den der Heilige Geist in Gang setzt. Der Heilige Geist ist die Bewegung, die Gott bei den Menschen auslöst. Er berührt. Er erschüttert. Er regt an. Manchmal regt er auch auf, wenn es gar zu schläfrig zugeht. Der Geist, der an Pfingsten zum ersten Mal auf die Jünger kommt, er ist die unsichtbare, aber wirksame Kraft des Glaubens, die von Gott ausgeht. Und diese Kraft des Heiligen Geistes läßt sich vom Leben und Sterben, von der Lebensgeschichte des Jesus von Nazareth nicht trennen. Am Anfang, beim ersten Pfingstfest, fährt Gott wie ein Sturmwind unter die versammelten Jünger, ergreift sie und treibt sie aus ihrer Verborgenheit und Angst hinaus in die Öffentlichkeit und in die Welt. Unverständnis und Ratlosigkeit hatten die Jünger in Isolation und Einsamkeit gefangengenommen. Der Kreuzestod hatte zu ihrem geistlichen Burnout geführt. An Pfingsten finden sie ihre Sprache wieder. Und nun fangen sie an, fröhlich von den großen Taten Gottes zu erzählen. Daß Jesus am Kreuz gestorben ist, daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat, das soll nicht weiter verborgen bleiben. Die Jünger erzählen und berichten davon. Sie tun dies nicht gleichgültig, nicht wie Nachrichtensprecher oder Protokollanten. Sie tun dies voller Begeisterung und Freude, mit Enthusiasmus. Auch Paulus, der Apostel und Theologe und Gemeindegründer, findet zu einer ganz eigenen Sprache, um von diesem Geschehen zu erzählen und seiner Freude Ausdruck zu verleihen.
Paulus, der Theologe, bringt präzise Argumente hervor, er versucht zu begründen, was er schreibt. Er stellt Thesen auf, manchmal verwirft er sie wieder. Wenn er an den Thesen festhält, zieht er seine Schlussfolgerungen. Durch die Argumente und Begründungen hindurch aber ist die Begeisterung des Glaubens zu hören. Begeisterung und theologische Ernüchterung bedingen sich. Das Nachdenken über Gott und das Loben Gottes gehen ineinander über. Der Geist ermächtigt Paulus nicht zur Ekstase und schon gar nicht zum Rausch, in dem er nicht mehr Herr seiner Sinne wäre. Von Paulus erfahren wir, wie der Geist sich dem Menschen zuwendet. Und er erläutert das, nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt. Die richtige Pfingstfreude wird sich einstellen, wenn wir den Denkweg des Paulus langsam und sorgfältig nachvollziehen. Paulus schreibt: “So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.” Pfingsten und Ostern sind nicht voneinander zu trennen.
Es gehört zu den wichtigsten Merkmalen des Heiligen Geistes, daß er zu Jesus Christus führt. Nur er bewirkt, dass ein Glaubender erleichtert spüren kann: Ich bin befreit. Gott hat mich angenommen. Ich muss mich nicht besonders anstrengen. Ich muss mich nicht besonders darstellen, damit Gott mich liebt. In Jesus Christus hat Gott seine Liebe zu den Menschen gezeigt, zu jedem einzelnen Menschen. Gott liebt mich. Er nimmt mich an wie ich bin. Er nimmt mich an, obwohl ich ein Sünder bin, obwohl mir vieles misslingt, obwohl ich an meinen eigenen selbstsüchtigen Zielen scheitere und meine Mitmenschen darüber vergesse. Wo wir spüren, dass Christus uns befreit hat, da ist der Heilige Geist wirksam. Es ist nicht nötig, den Geist zum Wundertäter herabzustufen. Man braucht ihn dann für eigene persönliche Erfahrungen kostbarer selbstbezogener Spiritualität, man braucht ihn für Zungenreden und so genannte Geistheilungen. Man will den Geist persönlich und unmittelbar erleben, ohne Umwege. Man provoziert mit allen Mitteln das Wunder, das Außergewöhnliche, das Staunenswerte. Man nimmt den Geist in Dienst, damit er die erwünschten Wunder tut. Bei Paulus ist davon allerdings nicht die Rede. Für gibt es nur ein einziges Wunder, und das besteht darin, daß Gott in Jesus Christus den Menschen angenommen hat.
Der Pfingstgeist ist nicht um der Wunder willen da, auch nicht dazu, um den Menschen ekstatische und visionäre Erfahrungen zu verschaffen. Wo die Anbetung und das Inanspruchnehmen des Heiligen Geistes zum Selbstzweck werden, da bleibt er weg. Da schweigt er. Da wirkt er nicht. Denn das und nichts anderes ist die vornehmste Aufgabe des Heiligen Geistes, die Gemeinde und die Menschen zu Jesus Christus zu führen. Martin Luther geht sogar soweit, dass der Geist allererst ermöglicht, zu erkennen und zu erfahren, was Jesus Christus für uns getan hat. Luther schreibt im “Großen Katechismus”: “Weder du noch ich könnten jemals etwas von Christus wissen oder an ihn glauben und ihn zum Herrn bekommen, wenn es uns nicht vom Heiligen Geist durch die Predigt des Evangeliums angeboten und in den Busen geschenkt würde. Das Werk ist geschehen und ausgerichtet, denn Christus hat uns den Schatz erworben und gewonnen durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen usw.(…) Damit nun dieser Schatz nicht vergraben bleibe, sondern angelegt und genossen werde, hat Gott das Wort ausgehen und verkünden lassen, und darin uns den Heiligen Geist gegeben, um uns diesen Schatz und die Erlösung nahezubringen und zuzueignen.” So weit Martin Luther.
Wo wir erkennen, dass Jesus Christus uns befreit hat “vom Gesetz der Sünde und des Todes”, da ist auch sein Geist am Werk. Der Geist befreit, während das Gesetz der Sünde gefangen nimmt. Der Geist macht lebendig, während das Gesetz tötet. Der Geist ermuntert und kräftigt, während das Gesetz mut- und kraftlos macht. Der Geist in uns weckt Hoffnung, während das Gesetz in Verzweiflung und das Gefühl des Ungenügens führt. Das Gesetz, das uns sagt: Das sollst du tun, damit du von Gott geliebt wirst, es führt ins Nichts und in den Tod. Das Gesetz herrscht überall da, wo es heißt: So muß es sein, so und nicht anders, und nun strenge dich an, daß du das auch erreichst. Das Gesetz ist der Plan, den wir von unserem Leben haben. Wir wollen etwas verwirklichen, das wir nie erreichen können. Das Gesetz sagt: Erst musst du so und so werden, bevor du befreit werden kannst. Diese und jene Bedingung muß erfüllt sein. Der Geist sagt: Du bist befreit – ohne Bedingungen. Es ist alles schon geschehen in Jesus Christus. Du bist befreit. Darum ist Pfingsten das Fest der gegenwärtigen Freude, des gegenwärtigen Geistes.
An Pfingsten erinnert sich jede/r von uns daran: Ich bin befreit, ich bin getauft. Jesus Christus hat mich angenommen wie ich bin. Wir sind Befreite, wir müssen nicht erst noch befreit werden, jede/r von uns. Das feiern wir an Pfingsten. Der Freude über das Befreitsein entspricht die Trauer über die Gefangenschaft im Gesetz. Gott schenkt uns seinen Geist, doch wir bleiben dem Gesetz verhaftet. Wir erkennen oft nicht das Wirken des Geistes. Wir vergessen immer wieder, dass wir Befreite sind. Aber es gibt Punkte, da merken wir deutlich, wo der Geist wirkt, und das ist da, wo wir über unseren eigenen Schatten springen, wo sich gegen alle Gewohnheit neue Bewegungen ergeben, wo wir nicht mehr weiter wissen und sich plötzlich ein Weg auftut, wo ein Gespräch möglich wird, wo vorher nur Streit war, wo Unverständnis und Unwissenheit sich in Liebe und Verständnis verwandeln, wo wir uns nicht mehr auf uns selbst verlassen, sondern im Vertrauen auf Gott Schritte tun, die wir sonst unterlassen hätten. Der Geist ist da, wo Bewegung ist, wo sich etwas tut, wo Menschen aufeinander zugehen. Beispiele lassen sich auf allen Ebenen finden, in der Gemeinde, in der Politik, im privaten Bereich: Zwei altgewordene Geschwister reden plötzlich wieder miteinander, nach Jahrzehnten, in denen man einander nicht einmal gegrüßt hat. Wo vorher Schweigen und höchstens Streit herrschten, ist jetzt Gespräch.
Wir brauchen den Heiligen Geist. Deshalb bitten wir heute an Pfingsten um ihn: Komm, Schöpfer Geist. Ohne den Geist werden wir verzweifeln über die Zustände auf Erden, und auch über uns selbst. Ohne den Geist müssten wir ersticken an Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit. Der Heilige Geist, er bringt neue Aufbrüche, neues Leben, er bringt Bewegung in veraltete Strukturen, er bringt Befreiung durch Jesus Christus. Paulus schreibt: “Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt”. Paulus, der so nüchtern und sachlich redet, er sagt uns den Geist zu. Ihr, ihr alle, die ihr zur Gemeinde gehört, ihr habt den Geist, ihr lebt von ihm, durch ihn habt ihr ewiges Leben. Der Geist macht lebendig. Aus uns selbst heraus sind wir tot, verdammt zu sterben. Der Geist stattdessen schafft Leben, er reißt Mauern ein, er bricht verhärtete Strukturen auf, er gewinnt neue Beziehungen, er setzt das Leben an die Stelle des Todes, den Aufbruch an die Stelle der Resignation, die Hoffnung an die Stelle der Verzweiflung. “Der Geist wohnt in euch”, sagt Paulus. Wer den Geist hat, der lässt seine Sünde, seine Sterblichkeit hinter sich, im Geist brechen wir zu neuem Leben auf, schon in dieser Welt, schon in den Bezügen, in denen wir jetzt leben. Wir brauchen den Geist. Ohne ihn könnten wir nicht leben. Und Gott hat ihn uns zugesagt. Und von seiner Liebe und von seinem Zuspruch leben wir.