Anlass zu staunen
Die Welt braucht nicht unterzugehen – das Leben kann uns aufgehen
Predigttext: Johannes 1, 19-28 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
19 Und dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden zu ihm sandten Priester und Leviten von Jerusalem, dass sie ihn fragten: Wer bist du?
20 Und er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte: Ich bin nicht der Christus.
21 Und sie fragten ihn: Was dann? Bist du Elia? Er sprach: Ich bin's nicht. Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein.
22 Da sprachen sie zu ihm: Wer bist du dann? dass wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst?
23 Er sprach: „Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Ebnet den Weg des Herrn!“, wie der Prophet Jesaja gesagt hat.
24 Und sie waren von den Pharisäern abgesandt,
25 und sie fragten ihn und sprachen zu ihm: Warum taufst du denn, wenn du nicht der Christus bist noch Elia noch der Prophet?
26 Johannes antwortete ihnen und sprach: Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt.
27 Der wird nach mir kommen, und ich bin nicht wert, dass ich seine Schuhriemen löse.
28 Dies geschah in Betanien jenseits des Jordans, wo Johannes taufte.
Exegetische und homiletische Einführung
Der Abschnitt ist ein retardierendes Moment innerhalb des ersten Kapitels des Johannesevangeliums; am Sonntag vor dem Heiligabend wirkt er als retardierendes Moment vor dem Weihnachtsfest. Es geht um Johannes, (noch) nicht um Jesus. Johannes muss sich vor Leuten verantworten, die Macht haben, andere, nämlich Priester und Leviten, in die Wüste zu schicken. Diese Macht hatten die Pharisäer (V. 24) zu Jesu Zeit eigentlich nicht. Eher spiegelt sich hier die zunehmend pharisäisch dominierte Restaurationsarbeit nach der Tempelzerstörung 70 n.Chr. und damit der Kontext des Evangelisten. Die Situation wird als Gerichtssituation vorgestellt. Die erste Frage „Wer bist du?“, ist nur scheinbar allgemein. Johannes scheint zu wissen, dass die Priester und Leviten die Gerüchte aufgreifen, die über ihn in der Luft liegen. Getrauen sich die Frager nur nicht, den Christustitel in den Mund zu nehmen, als ob dadurch das Gerede über ihn wahrer werden würde?
„Bekennen“ und „nicht leugnen“ sind starke Worte, die Eindeutigkeit und Vehemenz ausdrücken. Mit dem Propheten ist Mose gemeint; Christus, Elia und Mose sind die prägenden Figuren jüdisch-messianischer Endzeiterwartung, die gemäß der Szene der Verklärung auch die Jüngerschaft Jesu prägte. Fragen und Antworten werden der Form nach immer kürzer. Spiegelt sich darin die Hilflosigkeit der Fragenden wider, die keine ihrer Kategorien in Anwendung bringen können? Oder steckt mehr Erleichterung und damit nachlassendes Interesse dahinter? Schließlich kommen sie auf die gute Idee, den Ja/Nein-Verhörstil zu verlassen und Johannes selbst zu fragen, ihn also als Person überhaupt wahrzunehmen. Auf die Antwort, die er gibt, das Jesaja-Zitat, reagieren sie aber gar nicht. Vielmehr müssen sie sich noch einmal ihres offiziellen Auftrags rückversichern (V. 24), bevor sie ihn nach dem Sinn seiner Taufpraxis fragen.
Die Kontrastierung in der Antwort des Johannes („aber“) ist auf den ersten Blick schwer erklärlich. Verständlicher ist der griechische Text: Johannes tauft „im“ Wasser, Jesus aber steht „in“ der Mitte derer, die ihn fragen. Also kein sicherer Abstand mehr. Keine Freiheit zu entscheiden, ob man hinein steigen will ins Wasser der Begegnung mit dem, den die Pharisäer noch gar nicht kennen, den sie noch gar nicht als mögliches Problem identifizieren konnten, obgleich er anscheinend unendlich bedeutsamer ist als Johannes. Betanien ist als Taufort verwirrend; gemeint ist nicht der Wohnort von Maria und Marta, sondern am wahrscheinlichsten (vielleicht sogar im Sinne einer Falschübersetzung: aus Batanäa wird Betanien) die Landschaft Batanäa östlich des Sees Genezareth am Unterlauf des Jordans.
Literatur: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, hg. Studium in Israel e.V., Bände zur V. Perikopenreihe.
„Guten Tag, Frau Loderer“, sagt der junge Mann, der zur Tür herein kommt. „Darf ich mich setzen?“ Frau Loderer, froh, nach einem längeren Krankenhausaufenthalt mit mehreren Operationen und einem mehr schlecht als recht überstandenen Reha-Aufenthalt endlich wieder in ihren eigenen vier Wänden im betreuten Wohnen zurück zu sein, weiß Bescheid. Jemand von der Krankenkasse will mit ihr die anstehende Therapie besprechen. „Bitte“, sagt sie und weist auf die gemütliche Sitzecke, „nehmen Sie Platz.“ Der junge Mann setzt sich und kramt seine Karteikarten heraus. „Ach, entschuldigen Sie“, sagt er, „wie heißen Sie? Ich habe es vergessen.“ Etwas verwundert, weil er sie doch gerade gegrüßt hat, sagt Frau Loderer ihren Namen. „Richtig“, kommentiert der Besucher und schaut auf seine Karteikarte. „Und Sie sind am 5.12.1937 geboren?“ Frau Loderer überlegt, ob sie sich geschmeichelt fühlen soll, weil sie in Wirklichkeit fast 10 Jahre älter ist. Oder hat der junge Mann vielleicht nach der falschen Karte gegriffen? Geduldig korrigiert sie ihn und nennt ihr Geburtsdatum. „Ja“, hört sie dann, „und Sie waren jetzt im Vincentius-Krankenhaus, nicht wahr?“ Frau Loderer, die in der Paracelsusklinik war und zum Glück alles andere als auf den Kopf gefallen ist, durchschaut allmählich das Spiel. „Hören Sie“, sagt sie, „wenn Sie meinen, dass ich senil bin, können Sie das auch gleich sagen“. Der junge Mann geht nicht darauf ein. Nach zwei weiteren Fragen wird es Frau Loderer zu bunt. „So“, sagt sie, „und jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen.“
Eingeebnet
Das ist nicht aus einer Zeitschrift abgeschrieben. Das ist hier in der Oststadt passiert. Als ich Frau Loderer – sie heißt natürlich ganz anders – ein paar Tage später besuche, erzählt sie mir davon und ist nachträglich noch erbost. „Die denken, sobald man eine 8 vorne dran hat, hat man senil zu sein oder dement“, schimpft sie. „Die haben nur ihre Schablonen im Kopf“. Auch ich bin einigermaßen entsetzt. Wie Frau Loderer erfahren hat, urteilt die Krankenkasse nach einem bestimmten System, um heraus zu finden, welche Therapie für einen bestimmten Kunden angemessen ist – und welche bezahlt wird. Dafür habe ich Verständnis. Aber auf welche Weise wird da mit Menschen umgegangen? Was mich dabei fast am meisten betroffen gemacht hat: Ich habe erst gar nicht verstanden, worum es bei diesem Verhör eigentlich ging. Hätte ich in derselben Situation genau so clever reagiert wie Frau Loderer? Wie hellwach muss ein älterer Mensch ohne Angehörige in unserer Gesellschaft eigentlich sein, um für sich selber sorgen zu können im Dschungel unseres Gesundheitssystems? Wie schnell wird man in Schubladen gesteckt: Aha, so alt? Na, dann wissen wir Bescheid. Betreutes Wohnen? Also nicht mehr ganz selbstständig? Alles klar!
Ungeebnet
Mit ihren Schubladen im Kopf sind auch die Priester und Leviten damals zu Johannes dem Täufer gekommen. Der stand am Jordan, irgendwo nordöstlich des Sees Genezareth, und tat, was so noch kein Mensch vor ihm getan hatte: Er taufte. Er sprach vom Gericht, als ob es ganz nahe sei, und Menschen bekannten sich schuldig und ließen sich taufen, um Gottes drohendem Zorn zu entgehen. Jerusalem war weit weg, aber Gerüchte laufen schnell, und so war auch dieses Gerücht schon den führenden Religionsgelehrten zu Ohren gekommen: Das ist der Messias! Das ist der Christus! Merkwürdig, liebe Gemeinde, einen Tag vor Heilig Abend hören wir, dass ursprünglich ein ganz anderer für den Messias gehalten wurde! Wir haben uns an alles schon so gewöhnt, an Jesus, an das Kind in der Krippe, an den Engelsgesang – wir wissen, was uns morgen erwartet. Jedenfalls meinen wir es. Das einzig Überraschende, was uns morgen passieren kann, sind die Geschenke, und auch hier werden Überraschungen rar: Ein Gutschein kann zwar ein nettes Geschenk sein, aber eine wirkliche Überraschung ist er nicht.
Mit unserer Predigtgeschichte heute werden wir mitten hinein genommen in die brodelnde Gerüchteküche der damaligen Zeit. Allerdings ca. 30 Jahre nach der Herbergssuche, aber auch damals werden es sich die zur Volkszählung Strömenden schon zugeraunt haben: Wann er wohl kommt, der Messias? Dieser erniedrigende Befehl, diese Geldmachererei von oberster Stelle, die Volkszählung, gehört sie nicht schon zu den Wehen der Endzeit? Die Pharisäer in Jerusalem hatten den Anspruch, nah dran an den Menschen zu sein, sie konnten und wollten den Gerüchten nicht ausweichen. So gut wie alle anderen wussten sie: Wenn er kommt, der Messias, der Christus, dann kann sich ganz schnell ganz viel ändern. Auch für sie. Darum haben sie ihren Abgesandten einen Fragenkatalog mitgegeben, nach dem sie ihr Verhör aufbauen sollten. Punkt für Punkt sollten sie ihn abarbeiten: Wer bist du? Eigentlich meinten sie: Bist du der Christus? Nur waren sie vorsichtig, das Wort in den Mund zu nehmen. Herbei reden wollten sie ihn ja nicht, auch nicht zugeben, dass die Gerüchte unter den Leuten sie nicht kalt ließen. Ob Johannes der Täufer ihnen ihr heimliches Aufatmen angemerkt hatte, als er klar und deutlich zur Antwort gab: Ich bin nicht der Christus?
Nächster Punkt, nächste Frage: Bist du dann Elia? Der in den Himmel Gefahrene, der nicht irdisch Gestorbene, den wir am Ende der Zeit als Vorläufer des Messias wieder erwarten? Nein, auch nicht. Noch mehr Erleichterung. Die letzte Frage nur kurz, quasi pro forma: Bist du der Prophet? Bist du Mose, der das Volk in die Wüste führte, um es aus der Wüste wieder heraus zu führen? Nein, auch nicht. Sie klappen ihr Buch wieder zu, so stelle ich mir vor, schauen Johannes zum ersten Mal richtig an und fragen: Wer bist du dann? Die Antwort, die sie bekommen, scheinen sie gar nicht wirklich zu registrieren: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Ebnet den Weg des Herrn. Des Herrn? Gottes selbst? Das steht in ihren Büchern nicht drin. Irritiert kommen sie noch einmal auf ihre Schablonen zurück: Warum taufst du dann, wenn du nicht der Christus bist noch Elia noch der Prophet? Johannes’ Antwort scheint sie so zu verunsichern – oder so an ihnen abzuprallen? – dass keine Reaktion mehr überliefert wird: Ich taufe mit Wasser, aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Der wird nach mir kommen, und ich bin nicht wert, dass ich seine Schuhriemen löse
Geebnet
Das ist ja auch einigermaßen bedrohlich: er, mitten unter euch, den ihr nicht kennt? Für den wir keine Worte haben, keine Kategorien, keine Schablonen? Einfach nur „er“? Und – jetzt schon? Ist es schon so weit? Ist er schon da? Unwillkürlich drehen die Priester und Leviten ihre Köpfe. Und wir? Manche von uns haben vielleicht doch ein bisschen aufgeatmet, als sie am Freitag Morgen aufgewacht sind und festgestellt haben: Es ist ja alles noch am alten Platz. Die Welt ist noch nicht untergegangen. Den alten Mayas ist vielleicht wirklich nur die Tinte ausgegangen. Genauso beruhigt ziehen wir die Krippenfiguren hinten aus dem Schrank: Es ist ja alles noch da. Kind in der Krippe, wie es sich gehört. Aber was wenn es ganz anders ist? Wenn das sein wirklicher Name ist: Er mitten unter euch, den ihr nicht kennt? Liebe Gemeinde, lassen wir das „was wäre wenn“! Es ist so! Das Kind in der Krippe ist nur der Fingerzeig: Christus ist mitten unter uns und Gottes Zeit ist jetzt. Die Welt braucht nicht unterzugehen – das Leben kann uns aufgehen. Er ist mitten unter uns. Näher als gedacht. Aber doch nicht anders als das Kind: als Anlass zu staunen, zu knien, zu schenken und zu singen.
“Mit Schubladen im Kopf” sind Menschen an Johannes herangetreten. Das ist das Thema der in spannender Gedankenfolge gut aufgebauten und überzeugenden Predigt zum 4. Advent, der gründliche Predigtüberlegungen vorausgehen. Zur Einleitung bringt Pfarrerin Krumm zum Schubladen-Denken ein eindrückliches Beispiel aus einem Seniorenheim. Dann geht sie die Schablonen durch, die an Johannes den Täufer damals herangetragen wurden. Dann die Antwort des Johannes: mitten unter Euch ist Jesus. Das ist die entscheidende Botschaft auch für uns: Christus ist auch heute unter uns und Gottes Zeit ist jetzt!