Kinder sind frei heraus: “Mit dir spiele ich nicht!” heißt es unverblümt. Damit ist eine klare, unverrückbare Grenze gezogen. Bei genauem Nachfragen, warum diese Spielverweigerung, wird man kaum eine vernünftige Antwort erhalten. Es ist mehr ein Gefühl, das einfach da ist und sagt: „Mit der oder dem spiele ich nicht, auf keinen Fall!“ Wir Erwachsenen kennen das gleichermaßen. Wir betreten einen Raum. An mehreren Tischen sitzen Menschen. Hie und da sind Plätze frei. Wir haben die Auswahl, wo wir uns dazu setzen können. In Bruchteilen von Sekunden wissen wir, wo wir uns auf keinen Fall niederlassen. Instinkt gesteuert gehen wir zu einem Tisch, ohne überhaupt bewusst darüber nachgedacht zu haben, und setzen uns dazu. Denn gerade an diesem Tisch finden sich Menschen, die uns sympathisch und angenehm erscheinen.
Seid kurzem wohnt ein junges Ehepaar in unserer Straße. Die Nachbarsfamilie pflegt mit diesem Paar intensiven Kontakt. Das ist meiner Frau und mir völlig unverständlich. Wahrscheinlich weil dieses junge Ehepaar überhaupt nicht unseren Vorstellungen entspricht. Wie kann die Nachbarsfamilie denn nur so viel für dieses Paar empfinden. Wenn wir ehrlich zu uns sind, müssen wir zugeben, dass uns dies kräftig ärgert! Doch eigentlich wissen wir nicht einmal, wieso. Schlecht aufgefallen ist uns dieses Paar zu keiner Zeit und getan haben die beiden uns schon gar nichts. Wir haben bisher nicht einmal ein Wort miteinander gewechselt. Moderner Weise spricht man davon, wenn zwei Menschen nicht miteinander können, dass die Chemie nicht stimmt. Oder physikalisch ausgedrückt, dass man nicht auf einer Wellenlänge ist. Wir kennen alle sehr gut die Redeweise, dass wir “jemanden nicht riechen können”, um zu beschreiben, dass wir manche Menschen meiden und ihnen aus dem Wege gehen. Eine Erklärung für unsere Einstellung oder unser Verhalten ist das noch lange nicht. Es ist einfach ein Gefühl, das sagt: „Wir passen nicht zusammen, wir können nicht miteinander“. In unserem Unbewussten ist diese Entscheidung gefallen. Wir haben sie nicht einmal selbst getroffen. Längst bevor wir darüber nachgedacht haben, erscheint uns klar, wen wir mögen und wen wir leiden können. Wie der Ausdruck schon sagt: Wenn wir jemanden leiden mögen, dann dulden und ertragen wir andere. Dann leiden wir nicht an ihnen. Dann ergibt sich eine tragfähige Beziehung, die vieles erträgt, erduldet, auch erleidet – und die strapazierfähig ist. Die, wie wir sagen, schlechten Eigenschaften desjenigen, den wir mögen, machen uns dann kaum etwas aus. Nicht einmal die schlechte Laune, die uns manchmal entgegenweht. Die halten wir mühelos aus.
„Warum setzt sich dieser Jesus mit diesen Zöllnern und Sündern an einen Tisch?“, fragen sich die ´ehrwürdigen´ Pharisäer. Das darf doch nicht wahr sein. Innerlich kocht es in ihrer Seele. Sie mögen neidisch sein, dass Jesus einen Kontakt pflegt, den sie selbst ablehnen und verweigern. Sie mögen gute moralische Gründe haben und ins Feld führen, dass deren ´sündiger´ Lebenswandel mit dem Ihrigen unvereinbar ist. Sie mögen damit eine klare Grenze ziehen, der sie nicht mehr über ihren eigenen Schatten springen lässt. Das folgende Sprichwort ist uns allen wohl vertraut: “Sag’ mir, mit wem du verkehrst, und ich sage dir, wer du bist”. Fürchten die Pharisäer etwa um ihren eigenen Ruf. Dass sie in Verruf geraten könnten, wenn sie mit Verrufenen verkehren?! Dass ihnen Wertschätzung entgeht, wenn sie sich auf eine, wie sie meinen, niedere gesellschaftliche Stufe begeben?! Mag sein. So ganz können wir nicht in ihre Seele blicken. Doch Jesus sieht das anders. Er ist gekommen, Zäune einzureißen und Grenzen zu überwinden. Er sieht den Menschen im Menschen. Den Menschen, der in Gott geliebt ist, jenseits unserer Be- und Verurteilungen. Darum ist Jesus frei und offen, jedem Menschen zu begegnen und sich ihm vorurteilsfrei zu nähern. Darum gibt es keinen Menschen, um den er einen Bogen machen würde. Für Jesus gibt es keine schlechteren oder besseren Menschen. Gibt es niemanden, der seine Zuwendung mehr oder weniger verdient hätte. Sein Maßstab für seine menschliche Zuwendung ist nicht das Einhalten moralischer Grundsätze seiner Gesprächspartner. Für ihn zählt auch nicht Stand, Besitz oder Lebenswerk eines Menschen. Nicht dessen Ansehen oder Missachtung in der Gesellschaft. Jeder Mensch ist für ihn ein Geschöpf Gottes und darum liebenswert.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Jesus in unserer Szene mit Zöllnern und Sündern zu Tische sitzt. Jesus hat gern mit Menschen in fröhlicher Runde zusammengesessen und gefeiert. Wenn ich Jesus richtig verstehe, ist das ein wesentliches Zeichen des Reiches Gottes. So war es nicht zu vermeiden, dass Zeitgenossen Jesus einen „Fresser und Weinsäufer” genannt haben. Aber das gehört nun mal zu einem Fest dazu: Das Essen und Trinken. Die Gemütlichkeit und die Gemeinschaft. Das Reden und Zuhören. Die gehobene Stimmung und die Freude. Und er in der Mitte! Er, der jedem seiner Tischgenossen Wertschätzung zuteil werden lässt und ein Ansehen gibt. Auf die Frage der Pharisäer, warum er mit Zöllnern und Sündern an einem Tisch sitzt, antwortet Jesus: “Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken”. Das ist ein Akzent, den Jesus setzt. Darin ist niemand ausgeschlossen, denn jeder kann sich in irgend einem Moment seines Lebens schwach zeigen. Aber gerade die, die schwach sind, brauchen seine Zuwendung in besonderer Weise. Denen will Jesus näherkommen. Die Starken hingegen werden ihn kaum an sich rankommen lassen. Jesus ist gekommen – um im Bilde eines Arztes zu bleiben –, um zu heilen. Die Verletzten und Enttäuschten, die zu kurz Gekommenen und Benachteiligten, die Verrufenen und Verachteten, die Gemiedenen und Ausgeschlossenen.
Heilen heißt für Jesus, sich ihnen zuwenden und sie wertschätzen, ihnen Achtung und ein Ansehen geben, ihnen Gottes bedingungslose Liebe kundtun und so ihr Selbstbewusstsein stärken. Das heißt für ihn: Gemeinschaft mit ihnen pflegen und sie wieder in die Gemeinschaft zurückführen. Sie wieder dazu gehören zu lassen – zur großen Familie Gottes. Nichts anderes ist Vergebung. Nämlich Menschen wieder zurückholen in die Gemeinschaft. Das hat Jesus demonstriert, in dem er sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch gesetzt hat. Er hat den Ausgeschlossenen einen Platz an seiner Seite gegeben und ihr Selbstwertgefühl gestärkt. So hat Jesus Barmherzigkeit verstanden. So wollen wir auch jede Abendmahlsfeier verstehen: Als Fest der Freude. Wo ganz unterschiedliche Menschen zusammenkommen, die sich die Hände reichen und in die Augen schauen, die sich Achtung und Wertschätzung schenken, wo vollzogene Gemeinschaft zur Solidarität wird – und auf diese Weise zum Zeichen der Vergebung. Jesus hat ein Auge auf einen geworfen, den er am Zoll erblickt hat. Er ruft Matthäus zu: „Folge mir nach!“ Und Matthäus steht auf und folgt dem Ruf Jesu. Das klingt wie ein Ergebnisprotokoll, kurz und knapp. Wir vermuten dahinter einen längeren Prozess. Bis jemand eine solche Entscheidung trifft, die bedeutet sein bisheriges Leben aufzugeben, muss vielleicht die eine oder andere schlaflose Nacht voraus gegangen sein. Muss sich ein innerseelisches Hin- und Hergerissensein eingestellt haben. Muss die Unzufriedenheit mit dem bisherig Gelebten die Neugier auf ein neues Leben beflügelt haben. Der Zöllner Matthäus wird in Jesus den Arzt gesehen haben, der ihn verstanden hat, der ihm ein Ansehen gegeben und ihm Wertschätzung entgegengebracht hat. Das mag den Selbstheilungsprozess in seiner Seele in Gang gesetzt haben. Und es hat ihn wieder gesellschaftsfähig gemacht – und ihn zum Gastgeber eines Festes werden lassen.
Werfen wir noch einen Blick auf die Barmherzigkeit: Neue Mieter waren in unser Haus eingezogen. Sie hatten ein grünes Sofa. Darauf schlief der Sohn. Er war 13, dunkelhaarig, blass und still. Mit anderen Jungen sah man ihn nie. Er saß wohl alleine oben in der Wohnung – seine Eltern waren oft nicht zuhause, aber keiner wusste, wovon sie lebten. Meinem Vater war die Arbeitsstelle gekündigt worden, und wir waren froh, dass Mutter als Putzhilfe zwei Adressen hatte. Eines Nachmittags warteten Vater und ich auf Mutter, nachdem wir alles aufgeräumt hatten. Plötzlich hörten wir Stimmen im Treppenhaus. Wir schauten schnell aus dem Fenster. “Unten steht ein Polizeiauto”, sagte ich, während Vater an der Flurtür lauschte. Schritte hinauf und hinunter und Stimmen waren zu hören. “Sie werden geholt”, flüsterte Vater. “Warum, was haben sie getan?” fragte ich. “Ich weiß es nicht”, antwortete er. – Aber was ging das auch uns an? Wir hatten nichts verbrochen – waren arm, aber ehrlich! Dann endlich kam Mutter heim. Wir setzten uns an den Tisch, aßen und erzählten. Plötzlich fragte meine Mutter: “Ist der Junge auch geholt worden?” “Nein”, erwiderte Vater, “nur die Eltern, ihre Stimmen waren zu erkennen.” “Dann ist der Junge jetzt allein. Geh hinauf, sieh nach und bringe ihn mit herunter”, sagte Mutter zu mir. Ich ging die Treppe hoch und schaute durchs Schlüsselloch. Er saß am Tisch – war allein. Allein in der Welt voller Menschen. Ich klopfte an, öffnete die Tür und sah in seine dunklen Augen. “Komm mit hinunter”, sagte ich, “meine Mutter sagt, du kannst mit uns essen.“ Der Junge stand auf und ging mit mir. “Setz dich”, sagte Vater zu ihm, “und iss mit uns.” Dann saß er bei uns am Tisch und aß seine Suppe und Brot, das Mutter gebacken hatte. Meine Eltern fragten ihn vorsichtig nach seinen Sorgen, und er begann zu erzählen. “Es wird bald alles in Ordnung kommen”, beruhigte Vater ihn, “und bis dahin bleibst du bei uns.” “Lass mich dein Freund sein, ja?” sagte ich rasch und schaute ihn fragend an. “Ich heiße Timo”, antwortete er.