Die drei, abgekürzt nach ihren hebräischen Anfangsbuchstaben sogenannten SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz sind Unesco-Weltkulturerbe geworden. Ihr universeller Wert – für manche hiesigen Einwohner:innen vielleicht überraschend – ist nun weltweit anerkannt. Und dies genau in dem Jahr, in dem wir mehr als 1700 Jahre „Judentum in Deutschland“ feiern. Eine Kölner Urkunde des römischen Kaisers Konstantin bürgt dafür.
I.
Am vergangenen Sonntag nahmen die Predigtworte in den evangelischen Gottesdiensten uns mit auf den Berg, wo Jesus die Thora, die Weisung Gottes auslegt und damit Mose auf dem Gottesberg Sinai zitiert, auf Mose verweist mit seinen Worten, seiner ganzen Haltung. Heute – sozusagen in Fortsetzung – ist uns aufgetragen, unser Augenmerk auf den Sinai selbst zu richten. Rund dreieinhalbtausend Kilometer von uns in Aue, von den SchUM-Städten, von Köln, wo Kaiser Konstantin die Mitwirkung von Juden im Stadtrat regelte, entfernt. Und grob gerechnet auch um dreieinhalb Jahrtausende getrennt von den Geschehnissen, die die Schrift im heutigen Predigtabschnitt entwirft.
Wie komme ich eigentlich dazu, Ihnen derartige Zeit- und Kultursprünge zuzumuten? Eine solch anspruchsvolle Gedankenreise? Für Schulkinder in der Oberwaldschule gehören der Feldberg und die Zugspitze zum Lernstoff. Warum also geben wir uns hier in der Kirche ab mit einem Gebirgszug auf der ägpytischen Sinaihalbinsel, und jener Erhebung im Norden des See Genezareth, überragt von den Golanhöhen, bei den Touristen bekannt als Berg der Seligpreisungen?
Verrückterweise ja eben deshalb, weil uns unser Glaube, unsere Religion, unsere Heilige Schrift untrennbar mit diesen Orten verknüpft. Uns bindet an den jüdischen Gott, den Gott Israels. Der uns erschlossen ist durch den Juden Jesus oder Jeschua , den römische Soldaten unter dem Statthalter Pontius Pilatus noch mal knapp 300 Jahre vor dem kaiserlichen Edikt gefoltert und hingerichtet haben. Von dem seine Freunde behaupteten, dass eben der Gott Israels ihn aus dem Tode gerufen, auferweckt habe. Und den darum der pharisäisch gelehrte Benjaminiter Schaul, mit weltläufig lateinischem Namen „Paulus“, als den Messias, den Gesalbten Gottes verstand, weswegen dann zu seinen Zeiten er sich gerufen sah zu allen Völkern. Weil jetzt Endzeit angebrochen sei. Neue Zeit. Aufbruchzeit. Möglichkeit auch für nichtjüdische Menschen, zum Gott Israels hinzu zu stoßen. Welch verwegener Gedanke, dem sich die Christenheit verdankt. Leib Christi, einbezogen in den Bund Gottes.
II.
Und genau deshalb wallfahren wir also heute in Gedanken an den Sinai, in die Wüste, die den Berg umgibt. Sehen in unseren Vorstellungen Mose, der aufgestiegen ist zu Gott. Dass auf den Faltblättern, auf denen Sie den Abschnitt aus dem 2. Buch Mose, aus dem Buch Exodus, mitlesen können, und auch in Ihren Lutherbibeln zu Hause, das Wort „Herr“ so seltsam in großen Buchstaben geschrieben ist, zeigt uns an, dass hier eben derjenige Gott spricht, der auch aus dem brennenden Dornbusch heraus mit Mose in der Wüste geredet hatte.
Mose weiß also: hier spricht zu ihm derselbe Gott, der ihn aufgefordert hat, das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft zu holen. Kein anderer. Und darauf nimmt diese Gottesstimme auch Bezug. Sie erinnert an die Befreiung. So unglaublich wie eine Märchenreise, wie wenn ein Däumling auf einem Adler oder Geier in die Freiheit fliegt. So unglaublich und doch ganz real. Den schließlich stehen die Nachkommen des Erzvaters Jakob mit dem Beinamen Israel, Gottesstreiter, dessen Söhne mehrfach wegen Hungersnöten nach Ägypten gezogen waren, die stehen jetzt hier in der Wüste, im Niemandsland zwischen Ägypten und dem alten ihnen unbekannt gewordenem Kanaan.
Der Gott, der sie aus Ägypten geleitet hat, der bietet ihnen einen Pakt an, einen Bund. Ein Abkommen, was sonst vielleicht Könige miteinander schließen. Aber kaum ein Gott mit Habenichtsen. So unglaublich und real wie die Däumlingsreise auf Adlersflügeln, so unglaublich und doch wahrhaftig jetzt also das Angebot des Bundes: Gehorcht meiner Stimme. Haltet euren Teil der Bundesverpflichtung. Folgt meiner Weisung. Ihr seid für mich nicht die Habenichtse. Sondern ein Königreich von Priestern. Ein heiliges Volk. Dann seid ihr mein Volk. Mein Erbe. Mein Augapfel. Mein Ein und Alles.
Und Israel gibt voller Emphase die Antwort, noch bevor es die Details kennt: Alles was der Herr geredet hat, wollen wir tun. Das Volk lässt den Bundesschluss an sich geschehen, lässt sich einnehmen, lässt sich ein und verpflichtet sich. Sie wissen, haben erfahren: auf diesen Gott ist Verlass. Von diesem Gott geht Rettung aus. Diesem Gott folgen wir in ein neues Leben.
III.
Wir müssen uns ja klar machen: unser Predigtwort hat kein rasender Reporter überliefert. Niemandem war ein Exklusivinterview mit Mose versprochen. Die Erinnerung an Rettung, an den Bundesschluss Gottes und die Antwort Israels ist nicht aufgezeichnet worden zur Zeit der alten Pharaonen. Sondern viel, viel später. Erst dann, als 700 Jahre vor unserer Zeitrechnung die assyrische Großmacht den Norden, den kleinen Staat Israel überrannt, eingenommen, geplündert hat.
Ein Bruchteil der Israeliten war übrig geblieben, nach Jerusalem und die Umgebung der Stadt geflohen. Schwere Spannungen mitgebracht. Man hätte resignieren können. Aufgeben. Man hätte Gott aufgeben können. Aber der Blick auf sich selbst und der Blick auf Gott führte zu dem Ergebnis: Gott hält seine Bundesschlüsse. Und über uns – da verfügen wir selbst. Da sind wir selbst verantwortlich. Da ist unsere gute Antwort gefragt. Unser Handeln nach den Weisungen Gottes. Auch gegenüber den Flüchtlingen. In Fragen der Gerechtigkeit. In Fragen des Gottvertrauens. Gott hat uns erwählt, ihm zu folgen.
Im Moment großer politischer Schwäche und Ohnmacht hält das kleine Juda sich an seinen Gott und dessen Auftrag. Versteht sich befreit aus Ägypten, erwählt zu Gottes Volk, in Verantwortung gegenüber dem Bund Gottes. Im Moment des Untergangs für den Nordstaat beschwören Prediger und Prophetinnen Jerusalems die Befreiung aus Ägypten. Die Treue Gottes. Den Ruf zum rechten Handeln. Die Gebote tun: das können auch die politisch Schwachen, die Überlebenden, das kann auch der Rest, den es noch gibt. Niemand ist dafür zu schwach, zu klein, zu jung, zu alt.
Am letzten Sonntag haben wir gehört, dass der Evangelist Matthäus mit der Bergpredigt Jesu, die die Armen und Schwachen anspricht, seine Gemeinde tröstet. Weil niemand zu arm und zu schwach ist, der Rede Jesu zu folgen. Den Geboten Israels. Dem Wort vom Sinai. Natürlich können wir uns jederzeit anders entscheiden. Aber wir können dem folgen und feiern: 1700 Jahre jüdischen Glaubens und jüdische Leben auf der Spur des biblischen Gottes ganz bei uns in der Nähe.
Wir können feiern, das Wort des biblischen Gottes neu zu hören, dreieinhalbtausend Kilometer weg vom Sinai, dreieinhalb Jahrtausende weg vom Gedanken der Befreiung Israels, aber um eines Retters Jesus willen ganz eng mit ihm verbunden. Wir können uns anders entscheiden. Aber solange wir uns an den biblischen Gott halten, schauen wir auf den Gott am Sinai, auf den Gott, der sich Israel erwählt und den Völkern offenbar wird im Messias Jesus, schauen wir auf den Gott, der seinen Bund zusagt und in Treue dazu steht.