" … auf Hoffnung"
Volkstrauertag - Wir erinnern uns an das unermessliche Leid, dass Menschen mit Krieg und Hass über andere Völker und dann auch über sich gebracht haben
Predigttext | Römer 8,18-25 |
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Kirche / Ort: | Aachen |
Datum: | 13.11.2016 |
Kirchenjahr: | Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres |
Autor: | Pfarrer Manfred Wussow |
Predigttext: Römer 8,18-25 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
18 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; 21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Augenblick seufzt und in Wehen liegt. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem 23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. 24 Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? 25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.
Ist es ein Hymnus? Ein Gedicht? Eine Proklamation? Jedenfalls wird hoher, höchster Ton angeschlagen. Paulus läuft zur Hochform auf. Nicht nur in diesem kleinen Ausschnitt – Sie müssen Römer 8 ganz lesen, am besten noch heute!
Paulus schreibt einen Brief. An eine Gemeinde, die er nur vom Hörensagen kennt. Die er aber unbedingt kennenlernen will. Von Gesicht zu Gesicht. Dass sein Brief ein Meisterwerk der Literatur werden würde, konnte er damals noch nicht einmal ahnen. Sein Brief hat zu allen Zeiten Menschen bewegt und aufgeregt, kluge Gedanken provoziert, gelegentlich auch zu Streit herausgefordert. Die Bücher darüber füllen Bibliotheken – zu viel für meinen kleinen Kopf. Von welchem Brief könnte man das sonst noch sagen? Wir schauen sozusagen Paulus ins Herz – und auf die Feder! Eine fast schon intime Situation.
Paulus lässt uns das Leid sehen – und das mit anderen Augen. Paulus lässt uns die Schöpfung sehen – und das mit neuen Augen. Paulus lässt uns unser Leben in den Blick nehmen – und das mit hellen Augen. Ein Augenspiel … in vertrautem Kreis! Mutig ist das. Denn die Leute in Rom sind weit weg. Zu weit weg. Was können sie verstehen? Was ist ihnen zuzumuten? Was bedrückt sie eigentlich? So über die Welt zu reden, über Schicksale und Abhängigkeiten – eigentlich bin ich überrascht. “Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.” Auffälligerweise stimmt der Einstieg nicht, den kluge Leute vor langer Zeit, als sie die Texte zuschnitten, wählten. Denn mit „denn“ fängt wohl kein Mensch an, andere anzusprechen, den richtigen Ton zu treffen und sich auf einander einzustellen. Da ist es durchaus gut, einmal danach zu sehen, was vorher steht, in diesem Brief. Paulus schreibt: Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.
Der Geist – der Geist Gottes – stellt uns als Kinder Gottes vor. In aller Öffentlichkeit. Wir sind überrascht. Ich sehe das Blitzlichtgewitter. Das Blitzlichtgewitter der Engel. Ich reibe mir die Augen. Nein, Gottes Geist macht mich zu einem Kind Gottes. Und dann bezeugt er mir, wer ich bin: Kind Gottes. Passt das in meinen Lebenslauf, in meine Biographie? Eigentlich nicht. Meinen Lebenslauf habe ich schon lange geschrieben. Daten neben Daten. Versteckt auch Mängel, versteckt auch Träume. Aber die Folge ist klar: Mein Lebenslauf, meine Biographie muss, darf neu geschrieben werden. Ich fange nicht mit meiner Geburt an. Ich beginne mit der Liebe, die vor aller Zeit war. Paul Gerhardt hat in seinem Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippen hier“ Worte für die neue Fassung meines Lebens gefunden:
„Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden”.
Es ist, als ob alle Grenzen, gefühlt, realistisch, befürchtet, gefallen sind. In jeder Taufe wird das bezeugt, mit Wasser besiegelt, in das Licht der Osterkerze gestellt. Gottes erster Satz, das erste Wort, wird in mein Leben gelegt: Es werde Licht. Mit Licht beginnt die Herrlichkeit – die Herrlichkeit Gottes, die Herrlichkeit der Schöpfung, die Herrlichkeit meines Lebens. In den Weihnachtsliedern wird auffällig oft das Wunder besungen, dass wir mit Gott verwandt sind – bescheidener: verwandt gemacht werden. „Gottheit und Menschheit sollen zu Freunden jetzt werden.“ Jetzt. Paulus schreibt, als ob er die Urkunde vor sich hätte – das Testament Gottes. Das Testament, in dem wir als Kinder angenommen sind – mit allen Rechten und Pflichten. Ganz einfach: Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben!
Sie haben natürlich – oder hoffentlich – gemerkt, dass ich einen Gedankensprung gemacht habe. Es ist zuerst nicht von Herrlichkeit die Rede, es ist zuerst von Leiden die Rede! Paulus weiß und schreibt das auch, dass „wir ja mit ihm – Christus – leiden“. Wir? Römer? Aachener? Berliner? Wir, hier in dieser Kirche? Grau geworden? Mit unbeschwert kindlichem Blick? Sind die Leiden gemeint, die Menschen ungefragt über sich ergehen lassen müssen? Die Menschen unbarmherzig über andere verhängen? Sind Krankheiten, Schmerzen, Depressionen gemeint? Jetzt würde ich gerne mit Paulus darüber reden. Über dieser Zeit Leiden. So formuliert Paulus das. Ein wenig kryptisch, oder? Es ist, als ob Paulus schon eine andere Zeit kommen sieht, die er von der abhebt, die jetzt ist. Jetzt gibt es Leiden. Wie lange? Paulus sieht schon die Herrlichkeit. Paulus sieht die Befreiung. Die neue Welt, die neue Schöpfung. Hat Paulus gewusst, geahnt, dass das „jetzt“ immer noch dauert? Und von einer neuen Welt nicht viel zu sehen ist, so viel und oft auch die Menschen beteuern, jetzt würde alles anders – oder neuer – werden?
Heute am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr begehen wir den Volkstrauertag. Ob das Volk wirklich trauert? Worüber sollten wir denn trauern? Merkwürdig: Müssen wir darüber nachdenken, worüber wir trauern, trauern sollten? Wir erinnern uns an das unermessliche Leid, dass Menschen mit Krieg und Hass über andere Völker und dann auch über sich gebracht haben. Auf Kriegerdenkmäler stehen immer noch die Namen der Menschen, die als Helden angesehen, in Wirklichkeit aber verheizt wurden. Das wurde nicht in Stein gemeißelt. Ich sehe eine Inschrift vor mir: Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde. Ein Jesus-Wort. Entfremdet, missbraucht – für sinnloses Leid, für Gewalt, für Unrecht. Der Psychoanalytiker Mitscherlich sprach von der Unfähigkeit, zu trauern. Über sich. Über die Schuld zu trauern. Die Selbstrechtfertigung schafft es, Spuren zu verwischen – und neue Spuren zu legen. Heute ahnen wir wieder, wohin der salonfähig gewordene Populismus uns führen kann: in neue Hassparolen, Abgrenzungen und Feindbilder. Ich rede jetzt nicht einfach von gesellschaftlichen Herausforderungen, denen wir uns zu stellen haben und denen wir uns ruhig und freundlich stellen können – wir geraten in den Bann des Todes. In den Bann der Unterwelt. In den Bann der Hölle. Da ist uns vor der Zeit nichts geboren worden. Keine Hoffnung. Keine Liebe. Menschen können im Jetzt ertrinken. Das ist: Dieser Zeit Leiden!
Weltweit sind Menschen auf der Flucht. Die Bilder können wir nicht mehr sehen, die Zahlen nicht aushalten. Unvorstellbar, was sich abspielt – unvorstellbar auch, wie Menschen, die klug und gewissenhaft, erfahren und sensibel sind, mit diesem Phänomen umgehen. Aus der Geschichte zu lernen, ist ein schier übermenschliches Unterfangen. Dass Menschen einander nicht fallen lassen, nicht preisgeben, ist nicht nur christliches Erbe, es ist in unserer Menschlichkeit geborgen. Heute wird das christliche Abendland tatsächlich sogar mit Hass verteidigt – und verloren. Übrig geblieben ist nicht viel. Ein paar Erinnerungen, Wortfetzen – und Träume. Träume von einer anderen, neuen Welt. Aber die neue Welt ist mehr Verheißung als Traum, mehr Auftrag als Traum, mehr Liebe als Traum. Nur wer Menschen behutsam in seine Hand legen kann, wird eine neue Schöpfung sehen – wer seine Hand zurückzieht, sie gar zur Faust formt, hat am Ende alles verloren. Sogar sich selbst. Das ist: Dieser Zeit Leiden!
Paulus hat, als wäre er Zeitgenosse von uns, die Vergänglichkeit der Schöpfung gesehen. Über ihr liegt ein Fluch, übersetze ich ein wenig großzügig. Aber es ist der Fluch, unter dem wir als Menschen auch stehen: Unsere Gier, unsere Resignation, unsere Selbstzufriedenheit – und Dummheit. Dass die Schöpfung (und gemeint ist die Welt, die wir jeden Tag um uns, hinter uns, über uns haben) auch erlöst wird, ist die größte Hoffnung, die aus der Treue Gottes kommt. Er lässt das Werk seiner Hände nicht fahren, nicht fallen. „…auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ In der langen christlichen Tradition, die – auch – zu den Schattenseiten des sog. christlichen Abendlandes gehört, wurde die Schöpfung in die Hand des Menschen gelegt. Oder anders: wir Menschen wurden aus der Welt herausgelöst und der Welt vorgesetzt. Über sie gesetzt. Wir Menschen wurden zu etwas Besonderem, Großen stilisiert – und die Welt zum Steinbruch. Dabei sind wir alle von der Schöpfung getragen, in ihr zu Hause, von ihren Zerreißproben und Wunden betroffen. Paulus greift auf apokalyptische Vorstellungen zurück: „wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.“
Die Erde hat Blut trinken müssen. Von den Verwundeten und Gefallenen. Namenlos. Blut kennt keine sprachlichen Unterschiede, keine übernatürliche, keine unternatürliche Herkunft. Die Erde hört das Schreien der Kinder. Sie leben auf der Straße. Sie leben von Müll. Ihre Eltern können ihnen keine Zukunft geben. Viele Eltern sind selbst verloren. Was ist eigentlich ein Trauma? Die Erde muss die Abfälle schlucken und sicher verwahren. Die Gülle, die die Felder überdüngt. Den Atomschrott, der ewig strahlt. Gräber, in denen Menschen entsorgt werden. Geister, die nie auferstehen dürfen – wie Erinnerungen, die Geschichte und Geschichten vergiften. Seufzt die Erde? Seufzt die Schöpfung? Unsere Ohren haben wir verschlossen und dicht gemacht, aber Gott, der alles Leben schafft, seufzt mit. Er macht sich gemein mit seiner Schöpfung, dem Werk seiner Hände.
Paulus hat die große Kraft – und auch den Mut -, die Schöpfung mit den Kindern Gottes seufzen und warten zu lassen. Von Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit ist keine Spur zu finden, aber auch nicht von Hoffnungslosigkeit und Verzagtheit. Seufzen ist immer leise. Manchmal versteckt. Manchmal unbewusst. Aber in diesem Seufzen der Kinder Gottes atmet der Geist Gottes – ein Hauch von Zukunft, ein Hauch von Hoffnung. Paulus lässt uns das Leid sehen – und das mit anderen Augen. Mit den Augen der Liebe. Paulus lässt uns die Schöpfung sehen – und das mit neuen Augen. Mit den Augen der Liebe. Paulus lässt uns unser Leben in den Blick nehmen – und das mit hellen Augen. Mit den Augen der Liebe. Darf ich fragen, wann Sie zuletzt einmal geseufzt haben? Sie wissen es nicht? Ich auch nicht. Unbewusst reagiere ich. Auf eine Erfahrung, auf eine Erzählung, auf ein Empfinden. Im Internet lese ich: “Ein Seufzer wird häufig in oder nach belastenden Situationen ausgestoßen und hat befreiende und/ oder erleichternde Wirkung.“
Belastende Situation einerseits – befreiende, erleichternde Wirkung andererseits. Paulus hat schon das richtige Wort gefunden. Seufzen! Ich denke zurück: als Gott den Menschen schuf, blies er ihnen seinen Atem ein, seinen Atem! In Psalmen wird der Atem zum Lebenshauch, der uns mit Gott verbindet, uns sozusagen mit ihm in Gleichklang bringt. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen … Was ist Seufzen anderes, als das Gleichmaß des Atmens zu unterbrechen? Wir stolpern über unseren Atem. Über unsere Normalität. Über alles, was selbstverständlich ist. Seufzen ist auch eine heilsame Unterbrechung. Es soll, es darf nicht alles so weiterlaufen. Es ist nichts egal. Mein Atem spielt nicht länger das Spiel mit, das ich, das wir betreiben. Auf einmal – fremdartig – muss ich seufzen. Den Hinweis, dass Seufzen auch mit der Klage verbunden ist, will ich nicht untergehen lassen. Aber gerade in der Klage bekommen die Dinge eine neue Bedeutung: Ich wende mit ihnen zu. Nehme sie ernst. Stelle mich ihnen. Obwohl die Welt voller Erfolgsmeldungen ist (mit oder ohne DAX), gehen die Klagen nicht unter. Kaum dass sie ausgedrückt werden und Worte finden, stellen sie sich mir in den Weg. Ich muss sie hören. Unerwartet kann es mir geschehen, dass ich seufze. Ich kann mich glücklich schätzen, wenn ich es merke. Wer jetzt Resignation zu vernehmen meint, wird auf Hoffnung eingestellt.
Überhaupt: Paulus lädt uns ein, nicht auf das empirisch, statistisch abgesicherte, überprüfbare Wissen zurückzugreifen (das hat seine Zeit – gewiss!), sondern auf die Zusage Gottes zu bauen, dass wir gerettet sind. Das geht nur in der Hoffnung. Hoffnung ist nur ein anderes Wort für Gewissheit. Ein anderes Wort für Liebe. Dass die Hoffnung zuletzt stirbt, sagen wir oft – dass sie zuerst und vor allem lebt, kommt uns oft nicht in den Sinn. Hoffnung ist das andere Ende des Seufzens – oder sogar das Urbild des Seufzens. Jeder Seufzer bewahrt in sich die Hoffnung, dass Gottes Atmen, Gottes Geist alles lebendig macht. Paulus schreibt: „Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin“. Übrigens: sind. Nicht werden! Eine Kleinigkeit nur, aber große Gegenwart! Langsam sollten wir auch ein Ende finden. Zu diesem Sonntag gehört auch noch ein gutes Essen. Freie Zeit. Hoffentlich ohne Arbeit. Ohne Sorgen.
Paulus hat uns den Brief geschrieben. Einen kleinen Ausschnitt nur nehmen wir heute wahr. Ist es ein Hymnus? Ein Gedicht? Eine Proklamation? Jedenfalls wird hoher, höchster Ton angeschlagen. Paulus läuft zur Hochform auf. Schließlich geht es um unsere Zukunft. Und um die Zukunft der Welt. Ich möchte in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes leben. Lieben. Hoffen. Mit Ihnen, mit Euch. – Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, unserem Herrn.