Ausgangspunkt(e)
Woher kommst du? Wenn wir die Frage einmal mit dem religiösen Ohr hören, ist die gleichfalls gar nicht so leicht zu beantworten. Woher kommen wir? ...
Predigttext: 2. Mose / Exodus 19,1–8 (Übersetzung nach Martin Luther)
Am dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: »So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun auf meine Stimme hören und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.« Mose kam und berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm der HERR geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: »Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun.« Und Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder.
Gedanken zum Predigttext
Wie hängt die Christenheit mit Israel zusammen? Was haben wir mit Israel zu tun? Beinhaltet ein christlicher Israelsonntag, beinhaltet eine Theologie, die sich einem christlich-jüdischen Dialog verdankt, vielleicht gar eine Vereinnahmung – Fragen, die nach wie vor erhoben werden. Doch um Christi willen kommt die Christenheit um Israel nicht herum. Ein neutestamentliches Zeugnis ohne das Erste, das Alte Testament gibt es nicht. Eine Trennung nach alt- und neutestamentlichem Gottesbild, insbesondere nach einem negativ konnotierten alt- und positiv konnotierten neutestamentlichen Gottesbild ist Häresie, so populär eine solche Ideologie auch immer noch ist.
Auch zu den Themen Bundesschluss und Erwählung hat sich immer noch nicht eine Haltung der Dankbarkeit durchgesetzt gegenüber. Wer eine Aufkündigung des Bundes gegenüber Israel für möglich hält, gar eine Art Abwahl, übersieht, damit die Treue Gottes infrage zu stellen.
Es ist festzuhalten: wo in der Bibel von „Israel“ die Rede ist, ist auch Israel gemeint – so auch beim Wochenspruch. Oder in den Psalmen. Die Psalmenfassungen in der badischen Ausgabe des EG tilgen – Gott sei’s geklagt – mit großer Konsequenz die meisten Verse, wo von Israel, von David, von konkreten Menschen des Alten Testaments die Rede ist und bieten entvölkerte tabula rasa.
Auch wenn zusätzliche Liedblätter oft unangenehm sind und Mehraufwand verursachen: Psalm 122 und das Credolied Gerhard Bauers (Wir glauben, Gott ist in der Welt) nach der Melodie EG 184 können ein Gegengewicht werden, entsprechend formulierte Gebete können Dankbarkeit und Freude an Gottes Bund mit Israel ausdrücken, Lieder die Plausibilität des Tagesthemas unterstreichen.
Lieder
"Kommt herbei, singt dem Herrn" (EG 617, 1.26) "Lobe den Herren" (EG 317, 2.4+5) "Gott zog des Tages vor dem Volke" (EG 290, 5-7) "Wen wir jetzt weitergehen" (EG 168, 4-6)
Gebet vor der Predigt:
Herr schenke auch uns offene Ohren und offene Herzen, dein Wort zu hören und aufzunehmen und zu tun. –
Die letzten Urlauber starten in die Ferien, die anderen trudeln wieder ein, berichten von Reiseerlebnissen, wo sie waren, woher sie sich nun wieder einfinden. Wer mag da nicht gern erzählen. Ich kann mich an Radtouren erinnern, auf denen ich die Frage unterwegs: „Woher kommst du denn?“ gar nicht immer so leicht beantworten konnte. Ja, woher kam ich? Was sollte ich nennen: den letzten Ort, den ich durchfahren hatte? Den Startpunkt an diesem Morgen oder den Ausgangspunkt der ganzen Tour? Oder den Heimatort, wo ich zu Hause war?
Woher kommst du? Wenn wir die Frage einmal mit dem religiösen Ohr hören, ist die gleichfalls gar nicht so leicht zu beantworten. Woher kommen wir? Aus Luther-Melanchthon, aus Trinitatis, aus „der Stadt“? Soll man besser sagen: aus der Evangelischen Landeskirche in Baden? Oder müssten wir sagen: wir kommen aus der Taufe?! Hier ist unser Datum der Berufung, das ist der Ausgangspunkt der christlichen Lebensreise. Manche waren ja dabei, wenn wir in den vergangenen Monaten Kinder tauften und als neue Gemeindeglieder begrüßen konnten. Kommen wir also als Christinnen und Christen nicht aus der Taufe?
Oder müssten wir sagen: Wir kommen von der Erlösungstat Christi, von Kreuz und Auferstehung, her? Haben wir unsere Reise begonnen, weil uns das Wort Gottes erreichte? Gibt es vielleicht sogar eine Heimat, die noch viel weiter zurückliegt, noch ursprünglicher ist. Eine Heimat, die in den Bundeszusagen Gottes liegt, den Bundeszusagen gegenüber Abraham, Israel, David und seinen Nachkommen, den Propheten Israels? Hören wir den Predigttext aus dem Zweiten Buch Mose, dem Buch Exodus, im 19. Kapitel. Sind wir gespannt, welche Antwort uns auf die Frage, woher wir kommen, gegeben wird.
(Lesung des Predigttextes)
Zunächst hören wir: Das Volk Israel kommt aus Ägypten. Ägypten ist Sklavenhaus, ein Ort der Not und Geschichtsvergessenheit. Immerhin hatte einmal der hebräische, der israelitische Ahnherr Josef Ägypten geholfen. Er hatte die Zeichen der Zeit und des Traums, Zeichen für Fülle und Darben richtig gedeutet und Vorsorge für Israel und ganz Ägypten getroffen. Doch dann kam ein neuer Pharao, der nichts mehr von Josef wusste, ein Pharao, der Unterdrückung, Gefahr und Tod für Israel mit sich brachte. Von solch einem Ägypten also kommt Israel her. Noch viel mehr aber kommen sie aus der Rettung, erlöst von Angst und Todesgefahr, gerettet durchs Schilfmeer, durchs Wasser hindurch, wie auf Adlersflügeln getragen. So kommen sie bei Gott selbst an, an seinen Berg, in seine Nähe. Am ersten Tag des dritten Monats ist das, so hören wir – drei Monate also nach dem wunderbaren Ereignis. Die erste überschießende Begeisterung mag schon wieder verflogen sein, sie sind schon ein bisschen gewohnt, in der neuen Freiheit zu leben, haben sich mit ihr vertraut gemacht.
Eine rabbinische Auslegung deutet die drei Monate als Zeit der Erholung, der Rekonvaleszens, bevor Gott mit der Thora, mit den Geboten, seinen Weisungen kommt und neue Aufgaben an sie heranträgt. Auf mich wirkt dies so, als wenn Gott eine Zeit der Besinnung, der Klärung einräumt. Nicht mitten hinein in den Überschwang der Gefühle bietet Gott seinen Bund, seine Erwählung an und die Verpflichtung, die damit verbunden ist. Die persönliche und ethische Bindung durch die Gebote. Gott begegnet Israel nicht im Moment der Begeisterung oder der Schwäche und der gerade überstandenen Not. Gott gibt Zeit, Zeit zur Erholung und Besinnung. Und alle antworten dann: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun“. Wer nach dem Predigtabschnitt weiter liest, wird feststellen, dass für Israel an diesem und den nächsten beiden Tagen noch mehrfach eine Hürde zu überwinden war.
Obwohl sie schon versprochen hatten, sich an Gottes Gebote zu halten, sollen sie sich noch einmal kultisch reinigen, am Fuß des Berges stehen bleiben, und sie werden vor der gewaltigen und durch Menschen eigentlich gar nicht zu ertragenden Gegenwart Gottes gewarnt: Hörnerschall, Feuer, Rauch und Erdbeben begleiten das Erscheinen Gottes, die göttliche Epiphanie. Es wirkt fast wie eine Warnung, wie ein Abschrecken: Mit diesem Gott wollen sie sich einlassen? Es gibt wissenschaftliche Erklärungen für den so mehrfach unterbrochenen Fortgang der Geschichte. Aus verschiedenen Quellen soll der uns heute vorliegende Wortlaut zusammengefügt worden sein. Dennoch: Dass er uns in der jetzigen Form als biblischer Text begegnet, muss ja seinen Sinn haben.
Mir scheint es, dass Gott, der um die Größe der Aufgabe weiß, die mit Erwählung und Verpflichtung, der Gabe der Zehn Gebote und der ganzen Thora, auf Israel zukommt, eher zurückhaltend ist, ganz ehrlich, ganz behutsam. Immer noch könnte sich das Volk zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückziehen, zu den bunten Göttern und ihrer beeindruckenden Größe. Israel aber bleibt dabei. Es stimmt ein, dem Gott seiner Befreiung anzugehören, ein Volk von Priestern zu sein, Gott verpflichtet, Gott zugehörig, sein Eigen für immer. Von Paulus stammen die Worte: „Die Liebe hört niemals auf“.
Wir wissen, wie gefährdet und verletzlich Liebesbeziehungen sind. Aber es stimmt, was Paulus schreibt. Selbst wenn Menschen aus einer Liebesbeziehung sich herauslösen, sie sich trennen – die Erfahrung ihrer Liebe wirkt immer weiter, sie ist nicht ungeschehen zu machen. Um so mehr die treue und beständige Liebe Gottes. Sie bleibt in der Geschichte Israels und des Judentums wirksam und prägend. Vermittelt beständig Zuspruch und Anspruch. Gottes erwählende Liebe – sie ist der Ausgangspunkt der ganzen biblischen Geschichte, sie ist Ausgangspunkt der Geschichte Israels.
Wie viel haben wir nun damit zu tun? Ist das unser Ausgangspunkt? Ich habe erzählt, dass ich mich manchmal schwer tat, wenn jemand auf einer längeren Radtour fragte, woher ich denn käme. Jede Erwähnung eines Ausgangspunktes, einer Herkunft hatte ihre eigene Bedeutung und besondere Botschaft. So ähnlich geht es zu, wenn wir am heutigen Sonntag oder wann auch immer im Blick auf unseren Glaubensweg fragen, woher wir eigentlich kommen, wo genau der Startpunkt war. Der erst jüngst zurückliegende Ausgangspunkt ist für manche vielleicht ein Gespräch, eine gute Reli-Stunde, ein Gebet, ein Gedanke, den jemand im Netz äußerte oder im Radio bei einer Morgenandacht. Ein erst jüngst zurückliegender Ausgangspunkt liegt vielleicht in einer guten Begegnung, in Verlässlichkeit, Freundschaft, Vertrauen.
Länger zurück liegt vielleicht der Ausgangspunkt einer bestimmten Lebensphase: vielleicht ein Fest wie die Konfirmation und was dabei an Auseinandersetzung mit Glaube und Kirche ausgelöst wurde. Vielleicht gab die Geburt eines Kindes, eine Woche der Stille im Kloster oder ein Erlebnis wie der Kirchentag einen Impuls. Wie tief wirkt das manchmal. Wird manchmal ein Ausgangspunkt für eine lange wichtige Zeit auf dem Weg des Glaubens. Weiter zurück mag die jeweilige Prägung liegen: in der eigenen Taufe, der Erziehung; vielleicht wurde ein bestimmter Pfarrer oder eine Religionslehrerin ausschlaggebend. Eine Freundin, ein Freund, ein persönliches Vorbild. Und darüber hinaus gilt ja: Wir haben Heimat in biblischen Worten. Wissen und fühlen uns angesprochen und gemeint, haben Heimat und Ursprung im Wirken Jesu, sind an seiner Seite Töchter und Söhne Gottes, sehen mit ihm und in ihm den biblischen Gott, den Gott Israels, offenbart.
Woher also kommen wir? Letztlich kommen wir her auch aus Ägypten, aus der Befreiung Israels aus Ägypten. Aus Israels Einwilligung in die Liebe und Zuwendung des biblischen Gottes. Wir kommen als Jesu Geschwister aus Israel und aus Israels Geschichte mit Gott. Schon in der biblischen Überlieferung finden wir dazu einen Gedanken. Mitten in der Befreiungsgeschichte aus Ägypten heißt es: Es zog aus mit ihnen – also Israel – viel fremdes Volk. (2. Mose / Exodus 12, 38), Menschen also anderer Nation und Geburt, Geschichte und Religion. Sie zogen mit und folgten den Befreiten in die Wüste, bis zum Berg Sinai. Sie stimmten in der Antwort auf die Befreiung im Windschatten Israels ein: Wir wollen auf Gottes Gebote hören und danach tun. Warum sollten wir uns in diesen Mitziehenden nicht wiedererkennen, warum sollten wir nicht voll Dank und voller Freude sagen: Da kommen wir her.
Unser Ausgangspunkt ist die Freiheit, die Befreiung und Erwählung Israels, die Liebe Gottes zu seinem Volk, dem Hause Jakobs, den Kindern Israels. Da kommen wir her, ja, und weiter: wir kommen her aus der Begegnung mit Jesus, dem Sohn Israels. Aus der Begegnung mit dem Christus, dem Erwählten und Gesalbten Gottes innerhalb seiner Geheiligten. Da kommen wir her. Mit ihm sollen wir weitergehen. Hören auf die Weisungen Gottes. Uns freuen an Gottes Treue und Wahl. Jetzt und alle Zeit. Und der Friede Gottes, seine Fülle, sein Schalom über Israel und der ganzen Welt, bewahre unsere Herzen und Sinne, unser Hören und Tun, in Christus Jesus.